Das Ende
Ich öffnete wieder meine Augen und starrte in die Dunkelheit meines Zimmers. Die Stille lastete schwer auf mir, drückte auf meine Brust, als wollte sie mich zwingen, die Realität zu akzeptieren. Ihre Eltern hatten ihr Wort gehalten – kein Kontakt, keine Nachrichten, nichts. Ein ganzes Jahr war vergangen, und ich hatte nichts von ihr gehört.
In der Zwischenzeit war so viel passiert. Rae war versetzt worden, eine neue Stadt, ein neuer Job. Amalia war nach Europa gegangen, um dort über die Ferien zu studieren. Niemand würde diesen Sommer auf der Insel sein, niemand außer mir. Das Haus nebenan stand leer, verwaist, als Symbol für das, was ich verloren hatte.
Gerüchte kursierten, wie es in kleinen Orten üblich ist. Meine Tante sprach oft darüber, wie Kento und Mathildas Mutter nach Japan zurückgezogen seien. Manche flüsterten, sie sei wieder schwanger, andere behaupteten, sie hätten sich getrennt. Doch ich glaubte nicht daran. Ich hatte die Liebe zwischen ihnen gesehen, stark und unerschütterlich. Kento würde sie niemals verlieren können, nicht so wie ich Mathilda verloren hatte.
Langsam setzte ich mich auf und ließ meinen Blick über die vertrauten Gegenstände in meinem Zimmer wandern. Jeder Gegenstand, jedes Detail erinnerte mich an sie. An das Versprechen, das wir uns gegeben hatten. Doch tief in meinem Inneren wusste ich, dass etwas nicht stimmte. Dass sie nicht kommen würde, so wie sie es versprochen hatte.
Ich fühlte, wie meine Gefühle, einst so intensiv und überwältigend, allmählich verblassten. Die erste Zeit zurück zu Hause war die Hölle gewesen. Ich hatte mich tagelang verkrochen, in meinem Zimmer eingeschlossen, und meine Eltern, Gott segne sie, hatten es hingenommen. Sie waren so gut zu mir gewesen, zu verständnisvoll. Aber das Leben hielt für niemanden an, auch nicht für mich.
Als das Jahr verging, hatte ich nicht nur versucht, mit dem Schmerz umzugehen, sondern auch aktiv nach Noah gesucht. Social Media schien der naheliegendste Weg zu sein. Ich hatte unzählige Nächte damit verbracht, durch Profile zu scrollen, nach jedem kleinen Hinweis zu suchen, der mich zu ihr führen könnte. Ihr Name, ihre Fotos, alles, was mich ihr näher bringen könnte. Doch es war, als wäre sie vom Erdboden verschluckt. Kein Profil, keine Bilder, keine gemeinsamen Freunde, die mir helfen könnten, sie zu finden. Es war, als hätte sie die Welt, die wir geteilt hatten, einfach hinter sich gelassen. Vielleicht war das ein Teil des Plans ihrer Eltern gewesen – sie von allem und jedem, der sie an ihre Zeit hier erinnerte, zu isolieren. Doch egal wie sehr ich auch suchte, sie blieb unauffindbar.
In der Zwischenzeit hatte Amalia, mich mehrmals eingeladen, meinen Sommer bei ihr in Europa zu verbringen. Es war mein letzter Sommer vor dem Studium, eine Zeit, die ich nutzen wollte, um Abstand zu gewinnen und Klarheit zu finden. Nach dem Chaos des letzten Jahres war es eine verlockende Idee, für eine Weile aus meiner Umgebung zu fliehen, um den Schmerz hinter mir zu lassen und die Welt mit neuen Augen zu sehen.
Seufzend fuhr ich mir durchs Haar, das an meiner Stirn klebte. Die Luft war stickig, schwer vor der Hitze des Sommers. Ich schloss erneut die Augen und suchte nach Klarheit, nach einem Weg, das Richtige zu tun. Aber was war das Richtige? War es zu warten? Oder loszulassen?
Ich hatte noch etwas Zeit, mich festzulegen. Trotz der Flugtickets und der Einladung nach Europa, trotz dem kommenden Neustart, fühlte ich mich sicherer mit mir selbst als je zuvor. Das vergangene Jahr im Jugendzentrum hatte mir gezeigt, wie wichtig es war, einen Zweck zu haben, der über mich selbst hinausging. Dort hatte ich mich einem neuen Ziel verschrieben: anderen homosexuellen Jugendlichen zu helfen, die genau wie ich Hass und Ausgrenzung erfahren hatten, nur weil sie waren, wer sie waren.
Das Jugendzentrum war zu einem Ort der Zuflucht für mich geworden, ein Raum, in dem ich mich nicht nur selbst wiederfinden, sondern auch anderen helfen konnte, ihren Weg zu finden. Ich stürzte mich tief in die Arbeit, teilweise, um meine eigenen Wunden zu heilen, aber auch, um den Schmerz der Vergangenheit in etwas Positives zu verwandeln. In den Augen der Jugendlichen, die ich betreute, sah ich oft den gleichen Schmerz, den gleichen Kampf, den ich selbst durchgemacht hatte. Es war erschreckend und tröstlich zugleich, zu sehen, dass ich nicht allein war – und dass auch sie nicht allein waren.
Die Therapie, die ich parallel zu meiner Arbeit im Jugendzentrum gemacht hatte, half mir, den Angriff im Club zu verarbeiten. Es war eine schwere Zeit, aber sie hatte mir geholfen, mich selbst besser zu verstehen. Ich lernte, dass es in Ordnung war, die Narben der Vergangenheit zu tragen, solange sie mich nicht definierten. Und ich kam zu der Erkenntnis, dass ich lesbisch bin. Diese Erkenntnis war kein plötzlicher Moment der Erleuchtung, sondern ein allmähliches Verstehen, das sich im Laufe der Zeit entwickelte. Es war befreiend, endlich zu wissen, wer ich war, und es laut auszusprechen – ohne Angst und ohne Scham.
Während meiner Zeit im Jugendzentrum lernte ich ein anderes Mädchen namens Lillith kennen. Sie kam für drei Monate, um ebenfalls zu helfen. Wir verstanden uns von Anfang an gut. Es war einfach, mit ihr zusammen zu sein. Wir mochten die gleiche Musik, tauschten Bücher aus und verbrachten die Pausen oft damit, über Gott und die Welt zu reden. Sie war anders als Noah– fröhlich, direkt und ruhig. Es war einfach, sich in ihrer Nähe wohlzufühlen.
Eines Abends, als wir zusammen in der Bibliothek des Zentrums saßen und über ein Buch diskutierten, das wir beide liebten, beugte sie sich plötzlich vor und küsste mich. Es war unerwartet, und für einen Moment ließ ich mich darauf ein. Aber dann, während unser Kuss andauerte, wurde mir etwas klar: So sehr ich Lillith auch mochte, mein Herz gehörte immer noch Noah. Der Kuss fühlte sich nicht falsch an, aber er weckte nicht dieselben tiefen Gefühle in mir, die Noah bei mir ausgelöst hatte. Lillith bemerkte es sofort, zog sich zurück und sah mich an, als hätte sie meine Gedanken gelesen.
„Es ist okay", sagte sie leise und lächelte dabei sanft. „Ich weiß, dass dein Herz schon vergeben ist."
Wir sprachen nicht weiter darüber, aber von diesem Moment an wusste ich, dass ich ehrlich zu mir selbst sein musste. Ich konnte mich nicht zwingen, weiterzugehen, wenn ein Teil von mir immer noch an Noah hing. Ich hatte Lillith gern, wirklich gern, aber es war nicht dasselbe. Und das war in Ordnung. Manchmal braucht es nur einen Moment der Klarheit, um zu verstehen, wo man wirklich steht.
Nun, da der Sommer näher rückte, wusste ich, dass ich bereit war, einen neuen Abschnitt in meinem Leben zu beginnen. Der Schmerz des letzten Jahres hatte mich nicht zerstört, sondern stärker gemacht. Ich war bereit, nach Europa zu gehen, Zeit mit Amalia zu verbringen und mein Leben voranzutreiben. Aber tief in meinem Inneren, hinter all den Plänen und Hoffnungen, blieb die Frage bestehen: Würde ich Noah jemals wiedersehen? Und wenn ja, würden wir dort weitermachen können, wo wir aufgehört hatten? Oder war es Zeit, endgültig loszulassen und mein Herz für neue Möglichkeiten zu öffnen?
Die Antwort würde nur die Zeit bringen. Aber als ich die Augen wieder öffnete, war es, als hätte sich ein Nebel gelichtet. Eine unerwartete Klarheit durchströmte mich. Ich wusste, was ich tun würde. Ich hatte es schon die ganze Zeit gewusst, tief in meinem Inneren, aber die Angst vor Enttäuschung hatte mich zurückgehalten.
Wie sagt man so schön? Die Hoffnung stirbt zuletzt. Und trotz allem, was passiert war, hielt ich an dieser Hoffnung fest. An der Möglichkeit, dass es doch noch eine Chance gab. Dass sie doch noch kommen würde, oder dass ich einen Weg finden würde, zu ihr zu gelangen.
Denn wenn die Hoffnung stirbt, was bleibt dann noch?
Egal, was passieren würde, ich wusste, dass ich endlich bereit war, es herauszufinden.
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