Blaue Flammen

Wir holten uns zwei Decken, eine Taschenlampe, ein Feuerzeug und ein paar Snacks.Als wir gerade den Hof verließen, bat uns Noah zu warten und verschwand in ihrem Haus. Es war dunkel, kein Licht schien aus den Fenstern, und ich fragte mich, ob dort überhaupt jemand lebte. Dabei dachte ich an ihre Mutter, die ich noch gar nicht gesehen hatte.


Ich erinnerte mich an sie als pure Schönheit. Mit ihren asiatischen Zügen und ihrem schlanken, eleganten Körper war sie das Modell schlechthin – zumindest in den Augen von Designern und Magazinen. Sie war früher recht berühmt gewesen und ständig auf Reisen, weshalb sie selten zu Hause war. Schon damals hatte meine Tante immer auf Noah aufgepasst. Doch obwohl ihre Abwesenheit häufig war, hatte ihre Mutter stets hohe Erwartungen an sie gestellt, besonders in Bezug auf Aussehen und Auftreten. Das belastete Noah, wie ich allmählich verstand.


Meine eigene Mutter war auch oft beruflich unterwegs, aber mein Vater, ein Architekt, der nach einem Herzinfarkt seine Karriere beenden musste, hatte sich um den Haushalt gekümmert. Hin und wieder schnitzte er in seinem Arbeitszimmer neue Figuren, die er jedoch nie verkaufte. Für ihn war das eine Möglichkeit, seine aufgestauten Gefühle freizulassen, wie er mir einmal erklärte. Er wusste, dass meine Mutter mit ihrem Beruf mehr verdiente und das sichere Einkommen hatte. Er meinte immer, wir sollten dankbar sein, dass sie genug verdiente, um uns ein problemloses Leben zu ermöglichen, während er auf mich aufpassen konnte. In meinen Augen waren meine Eltern ziemlich modern in ihrer Rollenverteilung, und genau deswegen konnte ich nie wütend auf meine Mutter sein.


Noah kam mit einem Rucksack zurück, und niemand von uns fragte, was darin war. Die Spannung war nach der letzten Unterhaltung über Körper und Erwartungen deutlich spürbar, sodass wir alle instinktiv schwiegen.


Wir liefen die Straße hinunter zum Strand. In den meisten Gärten saßen Menschen, doch der Strand selbst war leer. Nur am Wochenende kamen hier ab und zu Besucher vorbei. Die meisten jungen Leute trafen sich lieber bei jemandem zu Hause oder in der örtlichen Bar. Der Strand war ihnen nicht mehr aufregend genug – was eindeutig besser für uns war.


Wortlos sammelten wir Treibholz, das ans Ufer gespült worden war, und gaben es Rae, der es geschickt stapelte. Innerhalb einer Viertelstunde hatten wir ein Lagerfeuer entfacht, um das wir uns auf den zwei Decken verteilten. Das Salz in der Luft ließ die Flammen blau aufleuchten, und immer wieder knackte das Holz laut. Ich saß neben Noah, die ihre Beine an sich gezogen hatte. Sie zog eine Flasche Rotwein aus ihrem Rucksack, und wir beobachteten, wie sie den Korken entfernte. Darin waren noch drei weitere Flaschen. Niemand fragte, ob sie von ihren Eltern stammten, doch als Rae einen anerkennenden Pfiff ausstieß und eine Braue in ihre Richtung hob, war klar, dass sie wohl von ihnen stammten. Der Wein half, die angespannte Stimmung zu lockern, und allmählich entspannte sich die Runde wieder.


Wir starrten in die Flammen, als Rae plötzlich eine Mundharmonika aus seiner Jackentasche zog. Ich starrte ungläubig.


"Woher hast du die denn jetzt?", fragte ich, sprachlos vor Überraschung. Die anderen folgten meinem Blick, und Noah begann sofort zu kichern, während Amalia genervt aufstöhnte.

"Von Dad. Hey, was ist denn euer Problem?" Rae sah uns verwirrt an, völlig ahnungslos, warum wir uns amüsierten.

Noah kicherte immer noch. „Das ist so klischeehaft," jammerte Amalia und schubste ihren Bruder. Rae schwankte leicht zur Seite. Ich grinste nur und warf immer wieder verstohlene Blicke zu dem lachenden Mädchen neben mir. Ihr Lachen erfüllte die Nacht, und ich wünschte mir, dass es nie aufhören würde. Ich mochte es. Sehr sogar. Und obwohl Rae es nicht verstand, hatte seine Mundharmonika die Stimmung spürbar gelockert. Bis dahin war sie nämlich die ganze Zeit angespannt gewesen.


„Dann eben nicht," murmelte er beleidigt und steckte die Mundharmonika wieder weg. Amalia schüttelte bloß den Kopf und griff nach der Weinflasche.


Noah riss sich wieder zusammen und setzte sich etwas näher zu mir. Ihr Bein berührte meines.„Lasst uns irgendetwas erzählen. Egal was, aber es muss interessant sein," schlug Amalia vor und reichte mir die Flasche. Ich nahm einen Schluck und verzog das Gesicht.


„Das schmeckt sogar schlimmer als der Wein von der Tanke," sagte ich.


„In Ordnung, dann fang du doch an," forderte Noah sie auf, und wir alle richteten unsere Blicke auf Amalia. Sie strich sich nachdenklich über das Kinn und gab übertriebene Geräusche von sich. Rae schaute sie genervt an.


Es vergingen einige Minuten, und sie hatte immer noch nichts gesagt. Genervt schob ihr Bruder ihren Kopf zur Seite, was sie aufschreien ließ. Ihre Haare standen nun wild ab.


„Was soll das?" Ihre Augen funkelten wütend, doch Rae schüttelte nur den Kopf.


„Bevor du endlich mal was sagst, habe ich schon hundert Sachen erzählt," erwiderte er.


„Na, dann mach das doch, du Idiot," fauchte sie zurück. Es war so typisch für die beiden, sich gegenseitig aufzuziehen.


Rae äffte sie nach, räusperte sich dann und begann zu erzählen. „An meinem Geburtstag war ich mit Evan und Zac unterwegs, und naja... wir haben es ein bisschen übertrieben. Irgendwann kamen wir auf die glorreiche Idee, uns mit den Tattoomaschinen von Zacs Schwester selbst zu tätowieren."


Bei dieser Erinnerung verzog Rae schmerzhaft das Gesicht, und wir lauschten ihm gespannt. Er nahm schnell einen weiteren Schluck Wein, bevor er fortfuhr. „Evan hat mir einen Kühlschrank auf den Arsch tätowiert."


Rae vergrub sein Gesicht in den Händen, während unser schallendes Lachen die Nacht erfüllte. Wir verlangten immer wieder, dass er uns das „Kunstwerk" zeigen sollte. Amalia schaute ihren Bruder mit offenem Mund an, unfähig zu fassen, was sie da hörte.


Nach langem Überreden stand er schließlich auf. Wir hielten den Atem an und starrten gespannt auf sein Hinterteil. Noah und ich hielten sogar gespannt die Hände. Dann zog er schnell seine Hose runter, ließ uns gerade genug Zeit, um den wackligen Kühlschrank zu sehen, und zog sie wieder hoch. Doch das reichte aus, um uns vor Lachen die Tränen in die Augen zu treiben. Rae, der immer der Verantwortungsbewusste und Vernünftige von uns gewesen war, hatte sich so etwas tätowieren lassen. Es war einfach zu perfekt.


Er setzte sich wieder und nahm erneut einen großen Schluck

.

„Zac hat meinen Namen auf seinem Arsch," fügte er grinsend hinzu.


Wir scherzten noch eine Weile darüber, bis jemand anderes an der Reihe war. Diesmal schien Amalia etwas auf dem Herzen zu haben.


„Alle denken, dass ich Jura studieren werde, aber in Wirklichkeit habe ich mich für Kunst eingeschrieben," gab sie etwas schüchtern zu.


Wir hörten sofort auf zu lachen. Wir alle wussten, wie sehr Amalia das Zeichnen liebte und wie talentiert sie war. Genauso wie wir wussten, dass sie jahrelang auf das Jurastudium hingearbeitet hatte. Sie hatte für beide Karrieren das Potenzial.


„Das ist toll," sagte ich deswegen, und Noah stimmte mir sofort zu. Rae nahm sie nur in den Arm und drückte sie kurz. Das genügte für die beiden.


„Wenn Dad das rausbekommt, bin ich tot," lachte sie bitter und starrte ins Feuer.

„Da muss er erstmal an Mum und mir vorbei," erwiderte Rae todernst. Er würde seine Schwester nicht hängen lassen. Schließlich waren sie eine Familie, und das nur wegen eines Studiums aufs Spiel zu setzen? Kein Grund, deswegen durchzudrehen. Obwohl das bei Onkel Boy durchaus vorstellbar war. Er lehnte alles ab, was nicht sicher war – ein typischer Realist eben.

„Mein bester Freund und ich haben keinen Kontakt mehr, weil ich ihn abserviert habe," platzte es plötzlich aus mir heraus.


Sofort waren alle Augen auf mich gerichtet. Ohne zu wissen, warum, begann ich zu erzählen.


„Er hatte mir beim Abschlussball gestanden, dass er mich seit Jahren toll fände und sich vorstellen könnte, mit mir eine Beziehung zu haben. Aber das wäre, wie wenn Amalia und Rae etwas miteinander anfangen würden. Er hat sogar versucht, mich zu küssen, aber da habe ich ihm eine Ohrfeige verpasst. Seitdem sprechen wir nicht mehr. Ich hatte nicht mal die Chance, etwas zu sagen, so schnell war er abgehauen. Meine einzige Antwort war die Ohrfeige."


Die Worte stolperten nur so aus mir heraus, und ich spürte zum ersten Mal, wie sehr mich das Ganze belastete. Phillip war mir immer wichtig gewesen, wie der Bruder, den ich nie hatte. Und nun ignorierte er mich, weil ich seinen Stolz verletzt hatte.


"Wenn er nicht versteht, dass du keine Gefühle für ihn hast, ist er selbst schuld. Letztendlich ist es sein Verlust, dich als Freundin zu verlieren," sagte Noah leise und drückte meine Hand. Ihre Worte waren beruhigend, aber ich spürte, dass ich meine Gefühle vielleicht ein wenig zu offen gezeigt hatte.


Noah atmete tief ein. Es war offensichtlich, dass sie nun bereit war, etwas zu sagen, das sie belastete.


"Meine Mum sperrt sich schon die ganze Zeit in ihrem Zimmer ein und kommt nicht raus. Sie hatte eine Fehlgeburt, und seitdem geht es bergab. Kento, ihr momentaner Ehemann, hat gedacht, es würde ihr gut tun, wieder hierher zu kommen. Raus aus der Großstadt. Doch es wird nicht besser. Und nun bin ich mit ihr alleine, weil er für die nächsten Tage einen Film fertig drehen muss. Ich hasse es, dorthin zurückzugehen. Es ist schrecklich." Noahs Stimme zitterte, und ihr Gesicht spiegelte eine Mischung aus Hass und kindlicher Verzweiflung wider.


Ihr Anblick schnürte mir das Herz zu. Wie zuvor drückte ich ihre Hand, um ihr Halt zu geben. Als ich meine Hand zurückziehen wollte, hielt sie sie jedoch fest. Ich ließ es zu, spürte, wie wichtig dieser Kontakt für sie war. Rae sah genauso verzweifelt aus, während Amalia leicht wütend wirkte. Keiner von uns wusste, was er sagen sollte. Noahs Geständnis hatte uns alle überrascht. Es erklärte so vieles – das dunkle Haus, ihre ständige Anwesenheit bei uns, und vor allem, warum sie vorhin so heftig reagiert hatte.

Wir schwiegen, denn jedes Wort schien unzureichend zu sein. Stattdessen versuchten wir ihr durch unsere Nähe zu zeigen, dass wir für sie da waren, egal was kam. So saßen wir schweigend am Strand, lauschten dem Rauschen des Meeres und dem Knistern des langsam niederbrennenden Feuers. Der Himmel über uns war sternenklar, doch unsere Gedanken waren bei Noah und ihrer schwierigen Situation. Als die dritte Flasche Wein leer war, packten wir still alles zusammen. Rae sorgte dafür, dass das Feuer vollständig gelöscht wurde, indem er die Brandstelle mit Sand bedeckte.

Auf dem Rückweg hatte ich plötzlich wieder Noahs Hand in meiner. Sie drückte sie sanft, und obwohl ich sie fragend ansah, wich sie meinem Blick aus und sagte nichts. Es war, als wollte sie mir etwas mitteilen, ohne Worte zu benutzen – etwas, das nur wir beide in diesem Moment verstanden.

In dieser Nacht lagen wir schließlich zu dritt in einem Bett – Amalia, Noah und ich. Es war viel zu eng, und normalerweise hätte sich jeder von uns über den fehlenden Platz beschwert. Doch in dieser Nacht schwieg jeder. Es war immerhin besser, als allein zu sein. Als ich zwischen den beiden Mädchen lag, spürte ich die Wärme ihrer Körper und das leise, gleichmäßige Atmen. Trotz der Enge fühlte ich mich geborgen. Und als ich schließlich die Augen schloss, wusste ich, dass wir alle drei irgendwie ein Stückchen näher zusammengerückt waren – inmitten des Schmerzes, der Ängste und der ungesagten Worte.

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