07
Der nächste Morgen brachte eine trügerische Ruhe mit sich, als die Stadt langsam erwachte. Die ersten Sonnenstrahlen brachen zaghaft durch die dichten grauen Wolken und ließen die Straßen in einem fahlen Licht erstrahlen. Es war ein Anschein von Normalität, der wie eine dünne Decke über der unruhigen Stimmung lag, die in mir tobte. Die Wut von gestern hatte sich nicht gelegt; sie brodelte weiter, ein stürmischer Ozean unter einer scheinbar ruhigen Oberfläche. Adrians Worte hatten etwas in mir entfacht, ein Feuer, das ich nicht länger ignorieren konnte. Ein Zurück gab es nicht mehr.
Ich war früh im Büro, wie so oft die Erste. Das leere Revier lag still da und die Geräuschkulisse war gedämpft: das leise Summen der Computer, das gelegentliche Surren der Klimaanlage, die entfernte Stadt draußen. Ich ließ mich schwer in meinen Stuhl fallen und griff nach der Akte auf meinem Schreibtisch – die Akte, die all das ins Rollen gebracht hatte. Volkov. Ein Name, der in kriminellen Kreisen Flüstern und Furcht auslöste. Ein Mann, der sich in den Schatten verbarg, genauso undurchschaubar wie Adrian.
Während ich die Seiten durchblätterte, suchte ich fieberhaft nach einem Hinweis, einem Detail, das mir bisher entgangen war. Doch alles schien unverändert. Volkov war wie ein Phantom, ein ungreifbarer Schatten, der seine Fäden zog, ohne dass jemand seine wahren Absichten kannte. Und nun, mit den Geheimnissen, die Adrian offenbar in sich trug, wurde dieser Fall nur noch rätselhafter, noch undurchsichtiger.
Gerade als ich mich tiefer in die Akte vertiefte, hörte ich Schritte hinter mir. Ein kurzer Blick auf die Uhr zeigte, dass es noch früh war, zu früh für die meisten meiner Kollegen. Ich drehte mich um und sah Adrian auf mich zukommen. Sein Gesicht war wie versteinert, doch seine Augen verrieten, dass auch er keine ruhige Nacht hinter sich hatte.
„Viktoria," sagte er knapp zur Begrüßung und setzte sich auf den Stuhl mir gegenüber. „Wir müssen reden."
„Schon wieder?" Ich hob eine Augenbraue und ließ die Akte auf den Tisch fallen. „Oder hast du diesmal wirklich etwas zu sagen?"
Er ignorierte meinen spöttischen Ton und lehnte sich nach vorne. „Ich habe über das nachgedacht, was du gestern gesagt hast."
„Und?" Meine Stimme war kühl, aber mein Herz schlug schneller. „Hast du dich entschieden, mir endlich die Wahrheit zu sagen?"
„Es geht nicht nur um die Wahrheit," sagte er ruhig. „Es geht um Vertrauen. Und ich weiß, dass ich das gestern nicht gezeigt habe. Aber du musst verstehen, Viktoria, dass ich meine Gründe habe. Gründe, die ich nicht einfach so preisgeben kann."
„Was für Gründe?" Ich verschränkte die Arme vor der Brust und blickte ihn herausfordernd an. „Du kannst nicht von mir erwarten, dass ich dir einfach blind vertraue, während du mir ständig etwas verheimlichst."
„Ich verlange nicht, dass du mir blind vertraust," erwiderte er, seine Stimme blieb ruhig. „Aber ich verlange, dass du verstehst, dass es Dinge gibt, die ich nicht allein entscheiden kann. Es gibt Menschen, die in Gefahr sind, Informationen, die nur zu gegebener Zeit freigegeben werden dürfen."
„Und wer entscheidet das? Du?" Meine Wut kehrte mit voller Stärke zurück. „Wer gibt dir das Recht, mich im Dunkeln zu lassen?"
Adrian hielt meinem Blick stand, seine Augen bohrten sich in meine. „Es ist nicht nur meine Entscheidung, Viktoria. Aber ich bin ein Teil davon. Und ich schwöre dir, ich will dich nicht in Gefahr bringen. Aber wenn du jetzt zu weit gehst, riskierst du mehr, als du dir vorstellen kannst."
„Mehr als mein Leben?" fragte ich scharf. „Mehr als das Leben der Menschen, die Volkov auf dem Gewissen hat?"
„Ja." Seine Antwort kam hart und entschlossen. „Viel mehr."
Für einen Moment herrschte eine schwere, beinahe greifbare Stille zwischen uns. Sie war gefüllt mit all den unausgesprochenen Worten, den Geheimnissen, der Spannung, die wie eine unsichtbare Mauer zwischen uns stand. Ich wusste, dass Adrian etwas vor mir verbarg, etwas Größeres als dieser Fall, und dass er nicht bereit war, mich daran teilhaben zu lassen. Doch ich war nicht gewillt, es dabei zu belassen.
„Du verstehst es nicht," begann ich leise, beinahe flüsternd. „Mein ganzes Leben lang habe ich gelernt, den Menschen um mich herum nicht zu trauen. Seitdem meine Eltern ermordet wurden, weiß ich, dass diejenigen, die einem am nächsten stehen, oft die gefährlichsten sein können. Und jetzt bist du hier, mit all deinen Geheimnissen, und erwartest von mir, dass ich einfach darauf vertraue, dass du das Richtige tust. Aber das kann ich nicht, Jenkins. Nicht ohne die Wahrheit."
Er senkte den Blick, und zum ersten Mal sah ich in seinen Augen etwas, das wie Bedauern aussah. „Ich will dir helfen, Viktoria. Ich will dir die Wahrheit sagen, aber..." Adrian stammelte vor sich hin, wissend, dass ich das nicht akzeptieren würde.
„Aber was?" Ich lehnte mich vor, spürte, wie die Spannung in mir wuchs. „Was hält dich davon ab?"
„Das kann ich dir nicht sagen," antwortete er schließlich, seine Stimme kaum mehr als ein Flüstern. Seine Geheimnisse waren tiefe Wasser. Tiefe Wasser, die ich erforschen wollte und die mich mit Sicherheit in den Abgrund reißen würden.
Meine Geduld war endgültig erschöpft. „Dann haben wir hier nichts mehr zu besprechen. Ich werde diesen Fall auf meine Weise lösen. Und wenn du mir nicht helfen willst, dann bleib mir aus dem Weg."
Ich erhob mich abrupt, schnappte mir die Akte und ging zur Tür. Doch bevor ich den Raum verlassen konnte, hörte ich Adrians Stimme hinter mir, kalt und entschlossen.
„Viktoria, das ist kein Spiel. Wenn du weiterhin so handelst, bringst du nicht nur dich selbst in Gefahr, sondern uns alle. Überleg dir gut, was du als Nächstes tust."
Ich blieb kurz stehen, drehte mich jedoch nicht um. „Ich werde tun, was ich für richtig halte," sagte ich leise. „Und ich werde nicht zulassen, dass deine Geheimnisse uns in den Abgrund reißen."
Mit diesen Worten verließ ich den Raum, ließ Adrian und seine verschlossenen Blicke hinter mir. Doch tief in mir spürte ich, dass dieser Konflikt weit davon entfernt war, gelöst zu sein – und dass er uns beide auf gefährliches Terrain führen könnte, an den Rand des Abgrunds, wo jede Entscheidung unser Schicksal besiegeln könnte.
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