9. Langschläfer an die Macht

An einem Brotecken kauend und auf den Aufschnitt für die zweite Scheibe wartend bewundere ich, wie Aisha den Zopfteig mit nur wenigen Griffen in eine meisterhafte Form bringt.

„Weißt du schon, wo du dich einschreiben möchtest?", durchbricht sie neugierig die Stille. Als ich Aisha nur irritiert anblicke, fügt sie hinzu: „Am Haupteingang hängt ein Brett mit zu übernehmenden Aufgaben. Manche finden im Institut statt wie Böden aufziehen, Toiletten putzen, Wäsche waschen, Gärtnern, Küchendienst oder das Malprogramm, in dem du deine eigenen Werke kreieren und versteigern kannst, und wieder andere sind unten im Dorf zum Beispiel im Café, beim Bauer, der Brauerei oder beim Förster. Desto mehr du machst, desto schneller darfst du gehen."

„Warum sollte ich gehen wollen?", stelle ich eine Gegenfrage. „Ich bin doch gerade erst hergekommen."

Aisha zuckt mit den Schultern. Eine Antwort erhalte ich jedoch nicht.

„Außerdem klingt das alles nicht sonderlich spaßig." Vor allem nicht für ein Internat voller Abtrünniger reicher Eltern, füge ich gedanklich hinzu. Mit der Fingerkuppel hebe ich ein Körnchen an, das neben mich auf den Theresen gefallen ist.

„Wir sind ja auch nicht zum Spaß hier", meint sie und durchdringt mich förmlich mit ihrem intensiven Blick.

Drei weitere Brötchen mit veganem Ricotta und vier Stunden Schlaf später rüttelt die Jugendliche leicht an meinem Arm.

Die Sonne scheint bereits durch das weite Küchenfenster und der Schnee glitzert wie Edward aus diesem schrecklichen Vampirfilm. Durch meine Muskeln an Schulter und Hals zuckt ein beißender Schmerz. Einnicken im Sitzen muss wohl geübt sein. Ich als blutiger Anfänger habe davon natürlich keine Ahnung.

„Linda sucht bestimmt schon nach dir." Blinzelnd starre ich die digitale Anzeige auf dem Kühlschrank an. 6:30.

„Echt jetzt?", murmle ich muffig.

Die meisten Geschichten erzählen von unendlichen, ereignisvollen Tagen, aber das bedeutet noch lange nicht, dass es im realen Leben keine Leute gibt, die Erholung brauchen. Schon mal was von Langschläfern gehört? Statistisch gesehen existieren Menschen, die neun bis zwölf Stunden pennen. Das ist vollkommen normal. Und naja, was soll ich das sagen ... Ich gehöre zu einem von ihnen.

„Wo finde ich sie am schnellsten?", frage ich niedergeschlagen.

Aishas Mundwinkel zucken. Entspannt schneidet sie Gurken, dann Tomaten. „Geh zum Büro der Direktorin. Ich nehme an, sie tigert davor herum, weil sie Angst hat, dass ihr Schützling weggelaufen ist."

Ich gebe einen zustimmenden Ton von mir. Langsam setze ich mich auf, die freie Hand weit von mir gestreckt. Es knackst mehrmals der Wirbelsäure entlang.

„Das klingt nicht sonderlich gesund", kommentiert Aisha.

„Passiert, wenn man so gut wie nie Sport macht." Ich rutsche vom Tresen und lande halbwegs katzenartig auf dem Boden. Jedenfalls dann, wenn man meine Wachphase von geschlagenen zwanzig Sekunden in die Rechnung miteinbezieht.

Nach ein paar weiteren, erfolglosen Dehnungen mache ich mich auf den Weg. Zum Glück gehört die Strecke vom Speisesaal zum Büro zu einer meiner einzig eingeprägten Pfade.

Wie Aisha vorausgeahnt hat, steht Linda vor dem Warteraum und macht einen verzweifelten Eindruck.

„Alles klar bei dir?" Möglichst unschuldig nähere ich mich. Die überschwängliche Reaktion bleibt trotzdem nicht aus. Linda nimmt mich sofort in die Arme. Ein Schluchzen ertönt.

„Dir geht es gut", schnieft sie. „Dir geht es gut, oder?"

Sie lässt mich los. Auffällig mustert sie mich von oben bis unten.

„Ja." Die Küche stellt sich vielleicht nicht als idealer Schlafplatz heraus, aber die Erinnerung an das Zusammentreffen mit Aisha bringt mich zum Schmunzeln. Ihre Kunst, Zutaten in Essbares umzuwandeln, kommt ihr bestimmt des Öfteren zu Gute. Im Stillen kröne ich sie zu einer der Top Anlaufstellen bei Fragen oder Problemen. Neben Linda, versteht sich.

Linda streicht sich eine Träne der Erleichterung von den Wangen. Ich lächle sie an. „Keinen Tag hier und schon bringe ich jemanden zum Weinen? Ich muss eine schreckliche Person sein."

Die Mundwinkel meiner Instruktorin heben sich leicht. Mission „heulende Kumpanin Ablenken" scheint erfolgreich. So jedenfalls sind all meine Babysittererfahrungen gut ausgegangen. Irgendwie hat es etwas Tröstendes, in dieser Hinsicht zwischen Kindern und Teenager nicht unterscheiden zu müssen.

„Dein Gepäck steht einsatzbereit in deinem Schließfach. Jetzt darfst du deine Sachen mit nach oben nehmen", lenkt Linda geschickt einen Themenwechsel ein. Ob es sich dabei um eine ihrer Spezialitäten handelt?

Kurzerhand öffnet sie den Spind und hievt meinen Koffer heraus. Dann fährt sie ihn zum Haupteingang. Joggend folge ich ihr.

„Das ist unser Anschlagbrett." Linda klopft gegen eine Kork-Tafel mit etwa eineinhalb Meter Durchmesser. Den Zettel nach handelt es sich bestimmt um die Aufgaben, die Aisha erwähnt hat.

Interessiert lese ich sie durch. Die meisten entsprechen Ausschreibungen für Stellenangebote in der Nähe, während auf einer vergilbten Liste die wenigen Tätigkeiten des Hauses aufgelistet sind. Nur bei einem steht nichts in den Feldern. Fragend tippe ich mit dem Finger auf die leeren Zeilen.

„Zum Förster traut sich keiner. Der soll echt griesgrämig sein", erklärt Linda bei meinem Deuten.

Ich zucke wegwerfend mit den Schultern. „Dann werde ich es mit ihm bestimmt aufnehmen können."

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