8. Nachtaktiv wie 'ne Schneeeule

Mein Kopf dröhnt, doch noch mehr schmerzt mein Magen. Wäre ich ein Freund von Schimpfworten, hätte ich bestimmt geflucht. Leider verhindert meine Erziehung die Anschaffung von Vokabular dieser Art. Also muss ich mich bis auf ein paar Ausnahmen ohne begnügen.

Stöhnend rolle ich aus dem Bett, bemerke jedoch viel zu spät, wo ich mich genau befinde und knalle gegen eine Wand.

„Autsch!", entkommt es mir zerknirscht. Vielleicht empfiehlt sich ein leicht wacherer Zustand. Ungeduldig warte ich einige Sekunden, bis das schwindelerregende Gefühl nachlässt. Im Halbdunkeln – vielen Dank an dieser Stelle für die hochgezogene Jalousie und die Straßenlaterne zwei Stockwerke tiefer – tapse ich zum Spülbecken.

Wasser rinnt meine raue Kehle herunter, dem schwarzen Loch in meinem Bauch tut dies keinen Abbruch. Es breitet sich weiter aus, vermutlich solange, bis mein gesamter Körper verschlungen worden ist.

Müde und dennoch entschlossen ergreife ich den Türknopf Richtung Gang, das Geräusch eines Schneesturms im Nacken. Das Risiko sich zu verlaufen mag sich groß geben, aber die Stärke des Hungers übertrumpft jegliche Vernunft.

So irre ich mitten in der Nacht durch die Korridore. Geschieht ein solches Szenario in einem Film oder einer Serie, so geht es immer gut aus. Mal von Stranger Things abgesehen. Hm. Zumindest bei Freche Mädchen 2 trifft Mila auf diesen Schnösel von Rubinrot. Und damit kommt ihr Leben voll in Fahrt.

Aus diesem oder anderen Gründen kämpfe ich mich weiter durch die schiere Unmenge an Abzweigungen. Eine gefühlte Viertelstunde später steht dem Aufgeben nichts mehr im Weg. Ich befinde mich irgendwo, meilenweit von allem – und vor allem unserem Schlaftrakt – entfernt und meine Muskeln beschweren sich bei jeder Bewegung. Keuchend sinke ich zu Boden. Meine dunklen Haare kleben an mir und meine Handflächen sind verschwitz.

Dennoch keimt Hoffnung auf. Da! Als meine Nase den Geruch von frisch gebackenem Brot in sich aufnimmt, hieve ich mich hoch. Den Wänden entlang finde ich zum Speisesaal, wo ein starker Wind die Fensterfront zum Beben bringt. Pulverschnee wird unbarmherzig gegen die Scheibe geschleudert.

Ich ignoriere das Geräusch und biege zur hell beleuchteten Küche ab. Das Goth-Mädchen steht zwischen den Tresen, die dunkelbraungefärbten Haare hochgebunden, weiße Kopfhörer in den Ohren und die Hände im Teig. Als ich eintrete, zuckt sie zusammen.

„Gott, hast du mich erschreckt!", gibt sie japsend von sich. Unwissend streicht sie sich Mehl auf die rechte Wange. „Deine innere Uhr entspricht noch nicht der unseren, oder?"

Mit gerunzelter Stirn starre ich ihre Gestalt träge an. Wie war ihr Name noch gleich?

„Ja und nein", gestehe ich wahrheitsgemäß. Die Jugendliche zieht an den Kabeln und stopft den MP3-Player tiefer in die Tasche ihrer Schürze.

„Was ist es noch?" Ihre Frage kommt ihr völlig natürlich über die Lippen. Fast so, als wäre es nicht frühmorgens und sie eigentlich tot müde. Dabei sprechen ihre Augenringe eine ganz andere Sprache.

„Ich habe Hunger." Unruhig schweift mein Blick von einer Fruchteschaale über die Behälter mit Backzutaten. „Gibt es etwas Veganes in der Küche, das du entbehren kannst?"

Bestimmt sehe ich aus wie ein wildgewordener Waschbär, denn mein Gegenüber lacht belustigt auf. Sie nickt schmunzelnd. „Meine Brötchen sind vegan. Die müssen nur noch kurz in den Ofen. Wenn du willst, mache ich dir Ricotta aus Tofu als Aufstrich."

Ihre positive Energie schafft es tatsächlich, auf mich überzugehen. „Ja, sehr gerne", nehme ich das Angebot dankend an und setze mich auf die nächstbeste, freie Arbeitsplatte. Meine Beine fühlen sich schwach an, eine Eigenschaft, die sie in den letzten Stunden äußerst häufig gezeigt haben. Vermutlich liegt es an der Höhe. Niedriger Luftdruck tut mir nicht sonderlich gut.

Aisha – stimmt, so heißt sie! – öffnet eine der Schubladen für eine kleine Pfanne, dann geht sie zum Kühlschrank. Es scheint sie nicht zu stören, dass ihr pechschwarzes Spitzenkleid bereits wieder vollständig verschmutzt ist.

Geschäftig startet sie den Herd, eine fröhliche Melodie pfeifend. Mir fallen Lindas Regeln wieder ein.

„Sind elektronische Geräte nicht verboten?", hake ich gähnend nach.

„Eigentlich schon", bestätigt mir die Angesprochene. „Aber bei Musik machen sie eine Ausnahme. Tatsächlich habe ich die offizielle Erlaubnis, jedem hier eine Playlist zu erstellen. Das gefällt mir sehr. Es ist eines meiner Hobbies, bei dem ich die Menschen besser kennenlerne."

Ich beobachte, wie sie den Tofu in kleine Stücke schneidet. Sie tut es in einer schwindelerregenden Geschwindigkeit, sodass die einzelnen Stückchen nur so fliegen.

„Neben der Situation, in der du sie frühmorgens vor dem Verhungern rettest, meinst du wohl", entkommt es mir grinsend. Sie legt den Nacken in den Kopf und lacht aus reiner Herzensfreude. Manchmal beneide ich die Begeisterungsfreudigen um ihre Unwissenheit.

„Genau", stimmt sie zu. „Meine Pflichten als Köchin werden immer wieder aufs Neue auf die Probe gestellt." Verschwörerisch hebt Aisha die Brauen, ehe sie erneut losprustet. Das Piepsen des Backofens lenkt mich von ihren unzähligen Sommersprossen und den verschiedenfarbigen Augen ab. Bald schon wird meine Fastenzeit enden.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top