60. Der verhasste Cliffhanger
„Und deshalb musste ich es tun. Nur so kann er sich wichtigeren Dingen widmen", unterbricht Linda meine Gedanken. Ich werfe ihr einen eisigen Blick zu.
„Dir zum Beispiel?" Auf eine Antwort warte ich nicht, sondern wende mich von ihr ab.
Immer wieder habe ich mir Sorgen gemacht, Ivana und ich könnten unsere spaßiges Frauengrüppchen entzweien. Dabei bricht Linda den Sis-Codex, ohne mit der Wimper zu zucken. Genauso unbarmherzig wie Lindas Handlungen, wende ich mich von ihrer Gestalt ab.
Meine aufbrausende Art bringt mich bis zum Speisesaal. Einige Jugendliche sitzen bereits dort und trinken Kaffee oder Tee nach ihrer Schicht. Ich möchte mich nicht mit ihnen anfreunden, keine neuen Bekanntschaften knüpfen. Dies ist ihr freier Nachmittag, nicht meiner. Wieder einmal wird mir bewusst, dass ich nicht hierher gehöre. Egal ob kriminell oder nicht.
Kopflos laufe ich weiter und finde mich schon bald vor dem Gang zwischen der Küche und dem Lift in die Waschküche wieder, in dem ich Aisha zum ersten Mal mit ihrem Handwagen gesehen und begleitet habe. Endlich komme ich zum Stillstand, atme hektisch ein und aus.
Ich lasse mich auf die Knie fallen, warte auf eine Verlangsamung meines Herzschlages. Wie ich da so hocke zwischen Tür und Angel, blendet mich ein zurückgeworfener Sonnenstrahl. Ich blinzle, ducke mich in meiner sowieso schon tiefen Lage noch mehr Richtung Erdboden. Das verlorene Messer.
Es liegt unter einer der Tresen, von Staub und Essenskrümeln umgeben. Bedacht nehme ich es hervor und stehe erneut auf. Ich möchte mich gerade umdrehen und es zu seinen Gefährten in die Schublade stecken, als zwei Meter vor mir sich der Zugang zur Freiheit mit einem hellen Glockenton öffnet. Ich erschrecke. Stocksteif verharre ich. Eine entwendete Waffe befindet sich nun zufällig in meinem Besitz, was definitiv kein gutes Licht auf mich als Neuling macht.
Steven, dem violetthaarige Mitarbeiter, entweicht ein erschrockener Laut. Ich trete auf ihn zu wie in Trance. Er hebt sofort abwehrend die Arme.
Ist es das? Wird man so zur Straftäterin? Von einer Sekunde zur nächsten? Schwerschluckend richte ich das Messer auf ihn. Vor meinem inneren Auge zeigen sich mir meine Optionen. Ich muss dringendst jemanden anrufen, jemand ganz Bestimmtes. Der Besucherraum. Doch dort kann ich nicht schleunigst von hier verschwinden, wenn es die Situation veranlasst. Dann bleibt nur ein zweiter Ort, bei dem ich mich an eine Telefonkabine erinnere.
„Bring mich zur Bahnstation." Die Drohung entflieht meinen Lippen, einem kleinen Vogel gleich. Völlig selbstständig und ohne mein Zutun. Ein Geräusch von Socken auf den kalten Fliesen weckt meine Aufmerksamkeit.
Da steht sie, in angespannter Grundhaltung und mit deutlicher Verwunderung im Gesicht. Es ist Aisha, die ich im schwachen Abendlicht erblicke. Die untergehende Sonne taucht die Küche in einen märchenhaft warmen Ton aus Rot und Orange, verhöhnt uns mit ihrer Teilnahmslosigkeit. Sie wird verschwinden, als wäre sie niemals Zeuge dieses Momentes gewesen.
Ich werfe einen Blick nach links, wo die Gespräche der Teenies gedämpft zu uns dringen. Niemand bemerkt unser Treffen. Gerade noch so bemerke ich Stevens Geste, die er Aisha zuwirft. Ein langsames Kopfschütteln, eine stille Verneinung.
In diesem Moment verstehe ich mehrere Dinge kurz hintereinander. Erstens sagt der schlaksige Hans Gustav Konrad zwischenzeitlich die Wahrheit. Denn es gibt tatsächlich einen Maulwurf in unseren Reihen. Jemanden, der die Geheimnisse der Anwesenden an die Fachkräfte weiterleitet. Zweitens entpuppt sich gerade eine weitere Person aus meinem Freundeskreis als eine Verräterin. Ausgerechnet Aisha.
Aisha, die sich um mich sorgt, mir unaufgefordert bei jeder Gelegenheit unter die Arme greift, egal ob bezüglich Essensgewohnheiten, Verhalten unter Intoleranten oder um mir den Tag mit ihrer Blase der Heiterkeit zu versüßen.
„Du?", entweicht es mir. Diese Erkenntnis schmerzt mehr als alles andere. Dabei bin ich doch bereits gebrochen, völlig überfordert mit dem bisherigen Verlauf dieser letzten halben Stunde.
Sie sagt nichts, schaut mich nur mit diesem fremden Ausdruck von purer Entschlossenheit an. Kein Witz darunter, keine Heiterkeit.
Ich mache einen zweiten Schritt auf Steven zu, einen dritten. Jetzt stehen wir beide im Lift. Der violetthaarige Mitarbeiter drückt den Knopf für das Stockwerk eins tiefer. Das Brummen der Maschine begleitet uns bei unserer stillen Fahrt.
Der Weg zur Zahnradbahn hat sich noch nie so lange angefühlt. Die Eindrücke brennen an meinen Lidern: die aufgetürmten Kleider, der leicht abgestandene Geruch, die bunten, verrosteten Schilder an der Wand.
Steven lässt mich kurz allein, verschanzt sich in seiner Kommandozentrale. Es wäre vermutlich die perfekte Gelegenheit für ihn, den Eingang zu verriegeln und die Polizei zu alarmieren. Er tut es nicht. Entweder ihm fehlen die Mittel dazu oder es ist etwas anderes, das ihn dazu verleitet.
Auf jedem Fall deutet er nach einigem Regler-Herumschiebens auf das Abteil ganz vorne am Fahrzeug. Ich folge seiner Geste und setze mich mit zitternden Knien auf die vergilbten Polster. Ich seufze. So habe ich mir diesen Abend ganz bestimmt nicht vorgestellt, überhaupt nicht.
Nicht mal nach Murphys Gesetz hätte ich eine solchen Verlauf erwartet. Das bringt definitiv grässliche Konsequenzen mit sich. Oder so, wie Ivanas es vermutlich in ihrer derben Ausdrucksweise nennen würde: Ich bin sowas von am Arsch.
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