58. What Every Girl Wants

Sein Griff ist nicht fest, das Bedrängnis seiner Lippen kaum vorhanden und doch steigt in mir die Galle hoch. Denn ich will das hier nicht.

Ich will nicht von ihm geküsst werden, keine Nähe zu ihm, keine Zuneigung. Schlicht und einfach, weil ich nichts für ihn empfinde.

Unwillkürlich muss ich an all die Bücher, Filme, Serien denke, die diese Szenen glorifizieren. Daran, wie junge Frauen mit der Erwartung aufwachsen, fremde Lippen auf den eigenen würden jegliche Probleme lösen, für plötzlichen Frieden sorgen, einen schwall an positiven Emotionen auslösen. Doch mit einem ungewollten Kuss ändert sich nicht alles schlagartig zum Besseren. Ich schiebe Jace von mir weg.

„Nein", sage ich klar und deutlich. „Das ist die Antwort auf die Frage, die du hättest stellen sollen und die du doch nicht gestellt hast."

Nach Jace Mimik erkenne ich keine Reaktion. Er starrt mich nur an, wortlos und stumm. Da sind keine Emotionen in seinen Augen, kein schuldbewusster Zug um seinen Mund und auch sonst kein Indikator, der mir einen Einblick in sein inneres Befinden gönnt. Doch das spielt sowieso keine Rolle.

Hier geht es nicht um ihn, um den Übeltäter, um die Person, die mir den Tag versaut. Um mich geht es auch nicht.

Stattdessen schaue ich aus dem Fenster. „Du verdienst sie nicht."

Wir beide wissen, von wem ich rede. Sie entspricht dem Elefanten im Raum, wie sie es selber wohl nennen würde. Nachdenklich verschränke ich die Arme vor der Brust. Ivana ist nicht das Problem; sie ist die Ursache. Wie Jace sich verhält, liegt ganz allein in seiner Entscheidung. Sein goldener Käfig, wenn man so will. Ein Käfig, der die äußeren Einflüsse hereinlässt, Melodien, Gesang, Geschrei. Die Reaktion auf einen solchen Reiz steht nur ihm zu. Er hält die Fäden in der Hand. Ich seufze.

„Du musst an dir arbeiten, dich verbessern", beginne ich einen spontanen Monolog. „Niemand ist perfekt und es liegt nicht am Umfeld dies einfach so zu akzeptieren, genauso wenig, wie du dich mit deiner eigenen Art zufriedengeben solltest. Wir verändern uns tagtäglich, niemand bleibt wie sie oder er ist. Es liegt an dir, wie diese Veränderung von Statten gehen soll. Du bist für dich selbst verantwortlich und du musst nicht gerettet werden. Du musst dich selbst retten, es selbst wollen. Und wenn du dich dafür entscheidest, scheue dich nicht, nach professioneller Hilfe zu suchen."

Dieses ganze Klischee von wegen unschuldiges Goodgirl heilt krimineller Badboy tut keinem gut. Auch den Jungs nicht, die daraus den Schluss ziehen, sie brauchen nur diesen einen Menschen zu finden, der ihnen die eigene Arbeit abnimmt und sie auf magische Weise plötzlich von Grund auf in eine neue Person verwandelt. Doch so funktioniert das nicht.

Unruhig linse ich zu dem kleinen Gerät vor mir. Linda hat gemeint, es würde höchstens eine viertel Stunde dauern und zehn Minuten zu spät bin ich zu Jace gekommen. Die Ungeduld schnürt mir die Kehle zu. Warum blickst du nicht einfach, du unnützes Ding?

Ich rutsche von der Matratze, stelle mich auffordernd vor ihn. „Verstehst du, was ich dir mitteilen möchte?", hake ich nach.

Jace blinzelt. Ein Zeichen, dass er noch lebt. Mehr erhalte ich nicht. „Bald werden wir volljährig sein. Vielleicht wird es Zeit, die ein oder andere Gewohnheit abzustreifen."

Mein Gegenüber folgt meiner Bewegung, greift in die beige Herrentasche am Bettpfosten und holt die Kamera heraus. Er dreht sich so, dass ich auf den kleinen Bildschirm schauen kann. Speicherkarte für Speicherkarte klickt er sich durch, sucht nach meinem Foto und löscht es. Ich bin zu überrascht, um etwas erwidern zu können. Jace wendet sich mir erneut zu.

„Danke", entkommt es mir, mich dann jedoch an den Kuss vor wenigen Minuten erinnernd. Ich runzle die Stirn. Was für eine eigenartige Wendung der Ereignisse.

„Eigentlich sollte ich mich bei dir bedanken", gibt er zurück und ich schüttle entschieden den Kopf.

„Ich habe dich nicht gerettet und dir auch nicht die Augen geöffnet, ist das klar? Einer Drohung gleich lehne ich mich leicht zu ihm vor. Er muss diesen Teil selbst übernehmen. Das hier ist nur der Anfang. Ich habe ihn in die richtige Richtung gestupst, mehr nicht.

„Außerdem sind unsere Probleme nicht wegen eines Kusses gelöst worden", füge ich entschieden hinzu. Linda übernimmt gerade den Rest. Sozusagen erlange ich jeden einzelnen Teil meiner Freiheit in den nächsten Minuten zurück. Wobei – Langsam aber sicher sollte sie den richtigen Ordner auf dem Laptop finden, oder nicht?

„Stehst du auf Ordnung?" Gut, die Frage ist mehr als unnötig. Sein Bereich des Zimmers zeigt ein Maß an Sauberkeit und strenger Aufgeräumtheit, den mein eigener Gedankenfluss nicht mal an seinen besten Tagen aufweist. Nicht, dass die Stimme in meinem Schädel jemals versucht hätte, in einer nachvollziehbaren Reihenfolge zu quatschen, aber ich denke, man versteht, was ich meine.

Wenn sein Handling mit dem Desktop also nur im Entferntesten dem seines Raumes gleicht, wird Linda keinerlei Probleme beim Suchen haben.

Jace zieht irritiert die Brauen hoch. Ich mache einen entschuldigenden Gesichtsausdruck. „Ich muss los", verabschiede ich mich.

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