57. Ertappt
Mit laut pochendem Herzen klopfe ich an die dunkle Holztür, dann drücke ich die Türklinke herunter.
Jace sitzt auf dem Bett, die Fußknöchel übereinandergeschlagen und einen Notizblock auf den Oberschenkeln. Langsam trete ich an ihn heran. Der Raum ist wie bei meinem letzten Besuch nicht sonderlich aufgeräumt. Klamotten befinden sich an jedem Ecken, ein chaotisches Gemisch an unterschiedlichen Farben.
Ein Blick auf Jace Skizze zeigt mir eine Vorlage für ein Graffiti. Des Bleistifts wegen ist es Schwarz-Weiß, aber ich bin mir sicher, in Jaces Kopf befindet sich eine bunte Variante, weitaus ausgereifter, als es dieses Bild vermuten lässt.
Wortlos setze ich mich neben ihn auf das Bett, wo ich das Risiko, von ihm bedrängt zu werden, nicht ausschließen kann. Im Moment bewahrheitet sich meine Befürchtung nicht. Jace schaut kurz von seiner Zeichnung auf, mustert mich im hellen Licht, das aus dem offenen Fenster mit einer frischen Portion Luft hereindringt.
„Was genau stellst du dir unter einer Nacht für mich vor?", fragt er in einem Ton, als würden wir uns über das Wetter unterhalten. Eine Gänsehaut breitet sich auf meinen Armen aus. Ich forme meine Beine zu einem Schneidersitz und der weiche Untergrund raschelt wegen meiner Bewegung.
„Zu neunzig Prozent eine Zeit, in der ich dir ausrede, mich weiterhin zu bedrohen." Meine Antwort bringe ich nur schwer über die Lippen. Sie entspricht der Wirklichkeit. Vielleicht fürchte ich mich deshalb umso mehr, sie mit ihm zu teilen.
„Und wie willst du das anstellen?" Jace schattiert die Innenseite eines der ineinander geschlungenen Buchstaben. Er drückt fest genug für eine Nuance, die an Dunkelheit sonst nicht auf dem Blatt vorherrscht.
Ich sinke gegen die Wand. Tief durchatmend schaue ich zur vergilbten Decke. Jetzt geht es um alles. Jedenfalls muss diese Unterhaltung einen solchen Anschein erwecken, während Linda den eigentlichen, viel wichtigeren Teil übernimmt. In Gedanken sende ich ihr alles Glück und Geschick der Welt. „In dem ich dir sage, was schon lange fällig ist."
Unruhig falte ich die Hände im Schoss zusammen, hoffend auf keine unschickliche Berührung seinerseits. Die entspräche nämlich einer Intimität, die wir nicht aufweisen.
Jace legt seine Zeichnung auf dem Nachttisch ab. Er schenkt mir seine ungeteilte Aufmerksamkeit und sitzt mir so nah, dass ich seinen Atem in meinem Gesicht spüre.
Ich möchte dieser Wärme ausweichen, dieser unmittelbaren Gefahr, die sich anbahnt. Dabei hilft mir die nicht überwindbare Barriere aus kaltem Putz an meinem Rücken leider nicht weiter.
„Das wäre?", hakt Jace nach.
Seine Augen wandern zu meinem Mund. Eine stille Geste der Drohung. Rücke ich nicht mit der Sprache raus, folgt der zehn prozentige Teil, der dieser Abend verspricht: Jace wird mich zu Dingen auffordern, die ich ihm niemals freiwillig gebe. Solange ich diesen Moment herauszögere, kann ich stets aufspringen und davonrennen.
Unauffällig nehme ich das hoffentlich bald rot leuchtende Gerät aus meiner Hosentasche und platziere es vor mich, für Jace vorborgen hinter einer kleinen Welle des Bettüberzuges. So erkenne ich das Signal am schnellsten, ohne entdeckt zu werden. „Du stehst auf Ivana, oder? Warum also dieser ganze Zirkus? Du brauchst mich in deiner Rechnung nicht, ich stehe der Sache nur im Weg. Wenn du sie von dir überzeugen willst, dann tue das. Dafür ist kein Fake-Fangirl von Nöten."
Jace betrachtet mich eingehend, rückt noch ein Stück zu mir. „Ich wüsste nicht, was dich das angeht."
Geschickt rutsche ich von ihm weg. Die gepolsterte Kante an den Kniebeugen spürend, hieve ich mich hoch. Puh. Gerade so bin ich seinen Fängen entkommen.
Entschlossen schiebe ich die Schultern nach hinten. Die gerade, stehende Haltung unterstützt mich in meinem Vorhaben, Jace sein eigenes, unreifes Benehmen aufzuzeigen. „Alles. Denn wenn sie zu lange auf dich wartet, wird sie damit aufhören und sich bald schon für jemand Neues entscheiden."
Jace ergreift meine Handgelenke, holt mich zu sich zurück. Ich falle mit den Schienbeinen voran auf die Matratze. Sein selbstbewusstes Grinsen beschert mir einen eisigen Schauer. Noch ist es nicht vorbei.
„Du bist bei deinem Versuch, das Ganze selbst zu beenden nicht vorsichtig genug gewesen. Ich habe mehrere Speicherkarten musst du wissen. Und auf einer bist du noch immer zu sehen."
Unwillkürlich versteife ich mich. Er weiß von meiner Hintergehungsaktion. Die Angst vor möglichen Konsequenzen schießt durch meine Venen. Dann setzt das Adrenalin ein. Ein brennender Ruck geht durch meinen Körper, stemmt sich feurig heiß gegen meine Orange. Ich wechsle zwischen Jace blauen Augen hin und her, unsicher, für welches ich mich am besten entscheide, um an seine Moral zu appellieren.
„Dann lösche sie, bitte", sage ich und unterdrücke eine flehende Stimmlage. Meine Naseninnenhöhlen kribbeln vor Nervosität. Ist ein weiteres Original vorhanden, beginnt der Kreis der Bedrohung von neuem. Erst wenn alle Beweisstücke weggesperrt und unzugänglich sind, kann ich wieder aufatmen. Tränen der Verzweiflung benetzen meine Wimpern. Ich wische sie mit einer raschen Geste Richtung Haaransatz.
Gerade als ich die aufkeimende Überanstrengung einigermaßen unter Kontrolle bringe, spüre ich Jace Finger an meinem Nacken.
Er zieht mich zu sich und nur den Bruchteil einer Sekunde später küsst er mich.
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