54. Man hält sich die Feinde nah, nicht?

Überraschenderweise folgt auf anfängliche Schwierigkeiten ein wenig Smalltalk. In jedem Fall bringt Ivanas stures Hirn bockige Kommentare zum Vorschein. Irgendwo auf dem Weg zwischen letzter und dieser Woche muss ich diese jedoch zu schätzen gelernt haben.

Sie enthalten stets einen Funken Wahrheit, mehr sogar. Unter der Maske der Gleichgültigkeit und ihrer unnatürlichen Süffisanz erkenne ich einen starken Charakter gepaart von einem leicht verbitterten Humor. Bei Ivanas Beschreibung ihrer Schwester taucht auch in mir diese schwermütige Ader des Heimwehs auf. Ich schlucke geräuschvoll. Für eine Tasse Tee bei meiner ehemaligen Nanny / späterer Putzfrau würde ich im Moment alles geben, denn ihre weisen Worte vertreiben mir bei jeder miesen Laune die dunklen Wolken und bringen den schönsten, warmen Sonnenschein mit sich, den ich mir vorstellen kann.

„Was ist mit dir? Wen vermisst du am meisten von Zuhause?", stellt Ivana zum ersten Mal seit meiner Ich-quetsch-dich-aus-Zeit eigenständig eine Frage. Unruhig presse ich meine Lippen zusammen, hebe den einen Mundwinkel an.

„Matteo." Sein Name kommt wie aus der Pistole geschossen. Ohne, dass ich mir seither viele Gedanken um seine Person gemacht habe. Aber diese süßen Babybäckchen vergisst man nicht so schnell. Er ist bei Lucinda gut aufgehoben, das weiß ich genau.

„Dein Freund?" Ich schüttle den Kopf. Nein, definitiv nicht. Fast hätte ich ihr mein wohlbehütetstes Geheimnis verraten. Die Betonung liegt auf fast.

„Der Sohn meiner Nanny." Als sie die Schultern zuckt, als würde das eine das andere nicht ausschließen, füge ich hinzu: „Er ist vor ein paar Monaten eins geworden und ich bin seine Tante."

Ivana übergibt mir einen der frisch gewaschenen Tassen und ich trockne ihn mit einem Tuch ab.

„Noch nicht mal erwachsen und schon Tante? Das muss hart sein." So etwas wie Mitleid taucht in ihrer Stimme auf. Ich runzle irritiert die Stirn. Ivana und Mitleid? Ja, das klingt sogar für mich recht schräg.

„Tatsächlich gefällt es mir. Er entspricht einem perfekten Kind. Er ist sehr ruhig und stets grundlos glücklich."

Ivana lacht auf in dieser kalten, Ivana-typischen Manier. „Kling für mich nach einem Roboter. Bist du sicher, dass er real ist?"

Mit Sarkasmus kenne ich mich glücklicherweise ausgesprochen gut aus, weswegen ich den gespielten Unglauben deutlich ausmache. Schmunzelnd lege ich das Porzellangefäß zu seinem Freundeskreis in den Glasschrank neben der Spüle. „Ja, ziemlich sicher. Ich bin bei der Geburt dabei gewesen."

„Ach, wirklich? Dürfen da nicht nur Familienangehörige anwesend sein?", hakt Ivana sofort nach. Hitze steigt in meine Wangen. Panisch blinzle ich, starre auf eine Seifenblase, die sich auf einem der Gläser entwickelt.

„Doch... also. Ich habe sie kurz danach gesehen. Während den normalen Besuchszeiten, wo auch andere Menschen für die frisch Entbundene herkommen dürfen." Puh, ich muss mich in diesem Thema in Zukunft deutlich besser in der Wortwahl vorbereiten.

Unauffällig streiche ich mir mit dem Oberarm einzelne blaue Strähnen aus dem Gesicht. Die unangenehme Röte bleibt, auch wenn ich mir zwischen zwei Teller ein wenig Luft entgegenfächere.

„Verstehe." Ivana stochert nicht weiter auf meinem Ausweichen herum, wofür ich ihr dankbar bin. Stattdessen wechselt sie das Thema ohne jegliche Aufforderung.

Stunden später befinden wir uns in der Zahnradbahn auf dem Weg ins Institut. Ivana fängt meinen trägen Blick auf, lächelt leicht. Ich tue es ihr gleich und spüre die hauchdünne Verbindung zwischen uns, die wir heute aufgebaut haben. Ich kann nur hoffen, dass diese Verbindung sich weiter vertiefen wird.

Beim Abendessen sitzen wir alle am gleichen Tisch. Die strikte Trennung nach Geschlechtern überwinden wir bereits zum zweiten Mal. Juhe!

Nur meinen direkten Sitznachbarn würde ich gerne austauschen. Jace benimmt sich zwar äußerst vorbildlich, doch die Furcht von heute morgen habe ich noch nicht verarbeitet, geschweige denn vergessen.

Mich einmal ausgeklammert, befindet sich die Stimmung allgemeine auf einem recht hohen Level der Ausgelassenheit, was ich auf das Näherrücken des Wochenendes schiebe. Aisha erzählt gerade von einer skurrilen Begegnung in der Bäckerei und die meisten hören ihr gespannt zu.

„Oh, ja. Daran erinnere ich mich!", lässt Hans Gustav Konrad  verlauten, worauf ich fragend den Kopf neige.

„Dann hast du auch Schichten dort?" Anders kann ich mir nicht zusammenreimen, wie und warum der Schlaksige von diesem Ereignis Wind bekommen haben soll.

„Die Betonung liegt auf hatte. Ganz zu Beginn mal, ja. Aber dann ist meine Glutenallergie zum Einsatz gekommen und versaut mir seither so richtig das Leben."

Einfühlsam berührt Linda seinen Arm. Die beiden heben simultan die Mundwinkel an. „Sorry deswegen", meint Linda leise.

„Schon gut. Das gibt's halt manchmal." Ein wenig lauter fügt er hinzu: „Außerdem kann da keiner was dafür. Mal von meinem komischen Körper abgesehen."

Der mittelgroße, dürre Junge mir gegenüber zuckt wegwerfend mit den Schultern. Ich pflichte ihm im Stillen bei. Allergien treffen häufig auf, auch wenn sie einer seltsamen Reaktion auf einen gewöhnlichen Reiz entsprechen. Weil unsere Zellen sie für gefährlich halten oder so. Keine Ahnung. Bio gehört definitiv nicht zu meinen Lieblingsfächern. Die Theorien schon, aber das ganze Vokabular nicht.

Da lerne ich lieber eine seltene Sprache, die dann ich in meinen Ferien anwenden kann. Da hat eine Einheimische oder ein Einheimischer wenigstens Freude an mir.

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