51. Warum brauchen wir Repräsentation?
„Das stimmt", pflichte ich ihr bei. Aber deshalb muss es noch lange nicht so fies sein, das nervt. Ich koste gerne meine Emotionen aus, lebe in dieser Hinsicht wie Aisha, aber Negatives ist nun mal – na ja – eben negativ. Und darauf verzichte ich lieber.
Wir schweigen uns eine Weile an, dann werden wir von einer Mitarbeiterin hereingeleitet. Niemand sonst befindet sich im Warteraum, niemand sonst in der Zahnradbahn.
Nichts desto trotz begeben wir uns pünktlich in ein Abteil und beobachten die verdreckten Wände im Vorbeibrausen, die Eisschicht und die Schlieren. Ich spüre den Drang, Aisha die Wahrheit zu erzählen, endlich aufzuklären, warum ich tatsächlich hier bin. Weshalb mein Bauchgefühl diesen Moment auswählt, weiß ich selbst nicht so genau, aber dieses Geheimnis drückt plötzlich schwer auf meinen Brustkorb. Vielleicht liegt es daran, dass ich meine Arbeit beim Waldhüter verbockt habe und endlich etwas richtig tun möchte. Aus freien Stücken heraus.
Doch Aisha hält mich unwissentlich davon ab. „Warum korrigierst du eigentlich immer die Leute, wenn sie in einer Erzählung nur die männliche Form verwenden? Zum Beispiel, wenn sie von Mitarbeitern und nicht von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sprechen? Das interessiert mich schon ziemlich lange", beginnt Aisha eine Gender-Identitäts-Diskussion.
Sie sitzt mir gegenüber, wird rückwärts den Berg hoch chauffiert, während ich das Ende der Bahn bereits erspähe. Nachdenklich schlage ich die Beine übereinander. „Es ist einfach nicht fair, an der alten Ansprechart festzuhalten, weil man sich sie gewohnt ist. Früher haben die Männer hauptsächlich gearbeitet und die Frauen waren Zuhause tätig. Für mich gilt es einfach einem Rückschritt, nur die Menschen mit Y-Chromosom anzusprechen, obwohl mittlerweile beide Geschlechter anwesend sind. Man soll von der Minderheit wissen, sich bei Gelegenheit in ihr wiedererkennen. Erkennen, dass man nicht allein ist, es andere gibt, die genauso sind wie man selbst."
Aisha nickt, wendet sich im rechten Moment der erhellten Öffnung zu, sodass sie die Aussicht ins Tal mit den Bergen im Hintergrund erblickt. Ihre farbigen Irden springen munter den Details an den Wänden entlang.
Sie mustert mich erneut und schluckt, bevor sie fragt: „Aber wenn sich die Frauen auch schon bei der männlichen Version angesprochen fühlen?"
„Woher will man das mit Sicherheit wissen? Wenn ich meine gesamte Klasse mobbe und niemanden äußert sich diesbezüglich negativ, darf ich dann einfach damit weitermachen? Oder ist meine Handlung womöglich von Grund auf falsch, auch wenn ich keine Einwände erhalte, einfach nur, weil ich anderen zu meinem eigenen Vergnügen Schaden zufüge?"
„Das ist ein anderes Thema", schiebt Aisha meine Aussage metaphorisch vom Tisch. Eine Ablage neben den Sitzen gibt es nämlich nicht in diesem engen Abteil. Auch in den anderen nicht. Der Raum ist schlich und einfach so konzipiert, wie am meisten Personen gleichzeitig reinpassen würden. Ein typischer Fall von Quantität über Qualität, wenn ich das mal so anmerken darf.
„Vielleicht, ja. Der Vergleich ist weit hergeholt, doch für mich sind die Parallelen deutlich sichtbar. Also werde ich in Zukunft weiterhin darauf achten, niemanden im Raum unabsichtlich auszuschließen. Hoffentlich gibt es bald eine einfachere Variante, als jedes Mal die weibliche, dann die männliche Form zu nennen. Die Menschen zwischen diesen beiden Geschlechtern sollten nämlich ebenfalls das Recht zur Erwähnung haben." Ich folge Aishas Blick in die weiße Landschaft. Der Schnee glitzert stärker denn je und einige Flächen daneben befreien sich schrittweise von ihrer schweren Winterdecke. Ehrlich gesagt kann ich es kaum erwarten, wenn der Frühling ausbricht, die Blumen aus allen Ecken sprießen und ein wilder Vogelgesang uns überall begleitet.
Die Zahnradbahn kommt zum Stehen und die Mitarbeiterin entriegelt die Türen. Mit einem dankenden Lächeln auf den Lippen – immerhin entspricht das schon fast einer Privatfahrt – betrachte ich sie dabei.
„Deine Auffassung ist wirklich spannend", beendet Aisha die Unterhaltung. „Darüber habe ich mir noch nie wirklich Gedanken gemacht."
Sie hüpft aus dem Wagen, winkt mir zum Abschied zu. „Ich muss dann mal. Da ist noch ein wichtiger Termin, den ich nicht verpassen darf."
Ich hebe die Hand, wohlwissend, dass sie meine Geste nicht mehr wahrnimmt. Wie von der Tarantel gestochen hastet sie Richtung Wäscherei. In aller Ruhe greife ich nach meinen Sachen und mache mich ebenfalls auf den Weg. Einer reinen Laune heraus spaziere ich in unseren Schlaftrakt.
Für etwa eine halbe Stunde liege ich bloß auf dem Rücken da und starre an die Decke. Bald schon wird mir das zu langweilig. Ich suche nach meinem Mindmap der Klischees und hole alle Ereignisse seit meinem letzten Eintrag nach. Das geht erstaunlich leicht, wo ich doch nur einen passenden Titel und einen Kreis darum zeichnen muss. Bei den Verbindungen der einzelnen Gedankenblase zeigt sich bereits ein wenig mehr Tücke. Ich schiebe diesen Teil auf später, beginne stattdessen mit der Sortierung meiner Wäsche. Der Berg vor meinem Schrank braucht dringend Zuneigung. Mit übertriebener Babystimme spreche ich ihm versöhnliche Worte zu, bevor ich ihn in passende Unterabschnitte einteile. Die Arbeit schaffe ich ohne unangenehme Zeuginnen oder Zeugen. Es dauert nicht mehr lange, da ist der grausamste aller Dienstage überstanden und ein leckeres Abendenden rundet das Ganze ab.
Die Eindrücke des Tages tummeln sich vor meinem inneren Auge, hindern mich an einem schnellen Einschlafen. So geleite ich mühsam in den Mittwoch.
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