50. Selbst auferlegte Enttäuschung

Der Bahnhof ist noch nicht mal für Heimkehrerinnen und Heimkehrer geöffnet, so früh gelange ich zum Gebäude. Aus diesem Grund muss ich mich mit einer Sitzbank in der Nähe begnügen. Weder aus der Telefonkabine noch aus dem Getränkeautomaten daneben kann ich einen Vorteil herausholen. Gefüllt bis oben, enthält das Zweite nur Marken, die das Wasser in Drittweltländern klauen. Die zu unterstützen, wäre mein moralischer Untergang.

Vermutlich in etwa genauso schlimm, wie meinen eigenen Anforderungen gerecht zu werden. Ich möchte den Job beim Förster, möchte ihm meine Qualitäten unter die Nase reiben, alle seine Zweifel aus der Welt schaffen. Doch ich habe es verbockt. Er hat die dargebotene Chance genutzt, mich schnell und effektiv aus dem Weg zu räumen und ich konnte es nicht verhindern. Nicht im Geringsten.

Trotzdem mache ich mir Vorwürfe. Wenn ich nur besser aufgepasst hätte, bei dieser Gruppe Jugendlicher die pingelige Ladenangestellte rausgelassen hätte... wer weiß, vielleicht würde ich jetzt nicht hier rumhängen und mich elend fühlen.

Erschöpft lege ich das halb fertig gegessene Sandwich auf meinem Schoss ab, hole die Sonnenbrille aus dem vorderen Fach meines Rucksackes. Sobald der Zeitpunkt passt, werde ich ihn verkaufen und mir einen anderen anschaffen. „Warum?", fragt sich eine Stimme in meinem Kopf und ich verdrehe entnervt die Augen. Weil der Blauton zu sehr an Jaces Irden erinnert. Und es reicht mir bereits, diese Schattierungen unfreiwillig anzutreffen, da muss mein Gepäck sie nicht auch noch repräsentieren.

Ich schütze meine Lider vor den ersten warmen Strahlen dieses Jahres und sorge gleichwohl für eine stimmige Fassade, während ich mitten am Tag ein kleines Nickerchen einlege. Gerade im richtigen Moment werde ich von dem Geräusch von Schuhen auf Kieselsteinen geweckt. Ich blinzle, erhasche zwischen brennend hellen, bunten Flecken eine Person, fast vollständig in Schwarz gekleidet.

„Hallo Aisha", begrüße ich sie mit einem trägen Lächeln. Die willkürlichen Bilder meines Schlummerns spuken weiterhin in meinem Geist, verschwinden nur langsam. Ich gähne ausgiebig.

„Hi Gianna. Ist es dir schon aufgefallen? Die Welt wird immer wärmer, wenn ich dich sehe." Sie grinst überaus stolz auf ihren Spruch. Ob sie wohl lange an ihm getüftelt hat?

Der Freundlichkeit halber lache ich auf. Mein Blick richtet sich auf unsere Umgebung, die ersten grünen Stängel, die sich aus der zugefrorenen Erde kämpfen. Es stimmt. Dies ist der erste, nicht eisige Tag seit meiner Ankunft. Und dennoch könne mich die Lebendigkeit und der Optimismus der Natur nicht mehr verhöhnen.

„Warum bist du schon so früh auf dem Heimweg?", erkundigt sich Aisha. Bedächtig schiebe ich die getönten Gläser von meiner Nase auf die Höhe, wo sich sonst ein Haarreifen befinden würde. Nicht, dass ich etwas in dieser Art tragen würde. Das steht Queen Bee ganz alleine zu. Also nicht Beyoncé, wobei sie natürlich auch einen tragen darf, falls sie das will. Nein, ich spreche von Blair Waldorf, die es in der Serie anscheinend als nötig erachtet, jede einzelne Schattierung der Farbpalette einmal getragen zu haben.

„Das kann ich nur zurückgeben." Ich presse die Lippen zusammen, versuche mich an einem neutralen Gesichtsausdruck. Meine schlechte Laune verstecke ich wahrlich schlecht. Am liebsten würde ich heulen. Das soll sehr befreiend sein. Allzu viel Erfahrungen habe ich jedoch nicht damit.

„Meine Schicht endet jeden zweiten Dienstag um halb drei. Jetzt du. Was ist dein Grund?", sorgt Aisha für eine unausweichliche Beichte. Ich gebe ihr, was sie so vorsichtig injiziert, ohne einen zweiten Gedanken daran zu verschwenden. Aisha ist die vertrauenerweckendste Person, die ich kenne. Wenn ich ihr etwas nicht sagen kann, kann ich es niemandem auf dieser Welt sagen.

„Der Förster hat mich fortgeschickt." Die Worte kommen seltsam schwer über mich. Meine Zunge mag sie genauso wenig wie ich. Die Wahrheit wird nur noch realer, sobald man sie ausspricht. Das bestätige ich hiermit ganz offiziell.

„Oh", entkommt es Aisha. „Und weshalb?" Lautlos lässt sie sich neben mir nieder, beobachtet mich schweigend.

Ich zucke wegwerfend mit den Schultern. Grundsätzlich bleibt die Ursache der Entlassung irrelevant, weil sie nicht den Ausschlag für den Verlauf meiner Geschichte bereithält. Ich habe mich für diesen Job entschieden, der Ladenbesitzer hat mir nie eine richtige Chance gegeben. Seufzend lege ich den Ellenbogen über die Lehne, wende mich meiner Gesprächspartnerin zu. „Er meint, ich hätte sein Zeug verstört."

Erleichtert atme ich aus, als Aisha nicht nachhakt, ob seine Anschuldigungen mir tatsächlich gerecht werden. Aisha lacht. Es entspricht einem leisen Lacher, einem Lacher der Erleichterung.

„Immerhin hast du es zwei Werktage dort ausgehalten. Andere trauen sich nicht mal zum Schnuppern." Sie stupst mir spielerisch in den Bauch, grinst bei meinem Zusammenzucken. Ich bin selbst schuld, wenn ich ihr meine gesamte Breitseite entgegenstrecke.

„Wenn das ein Kompliment sein soll, verfehlt es seine Wirkung", gebe ich nüchtern von mir. Ihre Leichtigkeit schwappt nur schleppend zu mir herüber. Sie erfüllt mich, nach und nach, nimmt mir die Wut auf mich selbst und lässt das erdrückende Gefühl von Enttäuschung zurück.

„Nun..." Aisha macht eine theatralische Pause. „Das Leben ist nicht nur blumig fröhlich und kunterbunt."

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