5. Bürokratie gibt's nur in 'nem guten Streifen
„Sind Sie die Direktorin?", frage ich ziemlich verwirrt. Mein Blick landet wie automatisch auf seinem äußerst spärlichen Haaransatz.
„Nein. Definitiv nicht." Er grunzt vergnügt. Humor hat er immerhin. Ich falte die Hände im Schoss zusammen, tue so anständig, wie ich es Vater versprochen habe. „Die Rektorin ist im Urlaub", erklärt er.
Ja, da wäre ich jetzt auch gern. Stattdessen stecke ich hier fest und habe nicht einmal das Vergnügen, das Oberhaupt dieser Anstalt kennenzulernen. Noch ehe ich meinem Ärger Luft mache, schieben mir speckige Finger mehrere Formulare zu.
„Wir erhielten die Fax Ihres Ankommens heute morgen und waren mehr als überrascht", fährt er fort. Das kann ich nachvollziehen. Wer benutzt in unserem Jahrhundert noch ein Fax-Gerät?
Die Mundwinkel nach oben gezogen – aber nur, um so zu wirken, als würde ich dem Direktorinnenersatz weiter zuhören – beobachte ich den anderen, jungen Mann im Raum. Warum er eine Wollmütze trägt, ist mir mehr als schleierhaft. Wenn man nicht gerade aus dem Schnee kommt, hat man damit bestimmt viel zu warm. Erst bei genauerem Hinsehen erkenne ich violette Strähnen unterhalb seinem Ohrläppchen hervorlugen.
„Normalerweise erhalten wir unsere Informationen vom Staat, also sind wir von einem Scherz ausgegangen, aber jetzt bist du tatsächlich hier."
Ich nicke, werfe zum ersten Mal das Augenmerk auf die Papiere vor mir. Die typischen Kästen für Name und Adresse sind ziemlich schnell ausgefüllt, während Email und Telefonnummer gekonnt ignoriert werden. Selbst wenn ich welche hätte, würde ich sie ihnen nicht angeben.
Glaubensgemeinschaft, steht auf der zweiten Seite, gefolgt von einer langen Liste an anzukreuzenden Details. Ich lasse sie alle frei, schreibe bloß Veganismus neben das Feld beim Titel. Dazu fragen sie mich nämlich nirgends. Ob ich neben Allergien noch weitere zu beachtende Essgewohnheiten habe, meine ich. Wieder einmal typisch.
„Wir haben einige Regeln, die du am besten in diesem Heft nachliest." In einer Bewegung nimmt er meine Unterlagen zu sich und gibt mir sogleich eine Broschüre mit der Überschrift Leitfaden und Vorschriften.
„Eine davon ist das Verbot für das Tragen von Schmuckstücken." Der ältere Angestellte, den ich jetzt mal der Ähnlichkeit seiner Gesichtszüge nach Terry aus Brooklyn Nine-Nine nenne, deutet auf meine Armbänder. „Du kannst sie nach Belieben in einem Schrank im Gang lagern und unter Aufsicht betrachten."
Also dafür sind die Fächer da? Um unsere persönlichen Gegenstände im Herzen des Gebäudes für jeden erreichbar dazulegen? Das verstehe ich nicht. Und wenn dies eines der Gesetze dieser Einrichtung ist, so möchte ich nicht erfahren, was es sonst noch für welche gibt.
„Warum?", platzt es aus mir heraus und ich fühle mich wie ein kleines, trotziges Kind. Wehmütig fahre ich über den bunten Armreif meiner besten Freundin, der von einem Hilfsprojekt in Afrika stammt. Materialismus bringt mich hier nicht weiter und das sollte er auch nicht, denn meine Erinnerungen bleiben, auch wenn sich die leeren Stellen an meinem Handgelenk seltsam anfühlen.
„Jeder Beschluss, der dir im Moment vielleicht ein wenig fremd erscheint, beruht auf einem früheren Ereignis, das wir zu vermeiden versuchen", erklärt er vage.
Ich verspüre keine Lust, genauer nachzubohren, sondern streife mir wortlos die Bänder in den Farben der pansexuellen Flagge ab und öffne die Kette meiner Mutter mit den geometrisch geformten Anhängern.
Der weniger muskulöse Terry überreicht mir eine Tüte, in die ich meine Wertsachen lege.
„So das hätten wir", sagt er, ehe er einen roten Knopf unterhalb eines Mikrophons betätigt. „Linda Ha-won Sheppard komm bitte ins Büro, um unser neustes Mitglied zu empfangen."
Sorgfältig geht er durch das Formular. Bei der zweiten Seite schmunzelt er, kommentiert das Geschriebene jedoch nicht, wofür er mir gleich ein wenig sympathischer wird.
„Deine Aufenthaltsdauer entspricht nicht unserer Norm", erklärt er und die buschigen Brauen rücken aneinander. „Drei Monate? Bist du sicher? So lange dauert die Einfindungsphase und erst dann folgen die tatsächlichen Wochen des Gerichts."
Unbeteiligt zucke ich mit den Schultern. „Da fragen Sie am besten meinen Vater. Wegen ihm bin ich hier."
Irritiert fahre ich über die freie Haut zehn Zentimeter unterhalb meines Daumens. Der ständige, leichte Druck fehlt. Ein ungewohntes Gefühl. Zum Glück habe ich die Armbänder nicht als mein Totem für Klarträume gewählt. Sonst würde ich jetzt womöglich an der Realität zweifeln.
Einige Sekunden bleibt es still. Nur Papier raschelt und eine zweite Uhr mit silbernen Zeigern tickt. Es dauert nicht lang, da klopft es und eine Jugendliche, vielleicht ein oder zwei Jahre älter als ich, tritt herein.
Als sie mich sieht, strahlt sie mich an. „Eine Neue? Jetzt? Ich dachte zuerst, du machst Scherze."
Terry ignoriert ihren Kommentar. Er steht auf, weshalb ich es ihm gleichtue. Aufgesetzt lächelnd strecke ich ihr meine Hand entgegen, doch sie umarmt mich stattdessen.
„Herzlich Willkommen in Nottingen", meint sie nahe an meinem Ohr. Beim Klang des Ortes runzle ich die Stirn. Ich könnte schwören, auf dem Prospekt, der mir mein Vater gegen hat, ist die Endung anders. Nottlingen oder so.
Kaum lässt mich Linda los, taucht Terry in meinem Blickfeld auf. „Das hier ist Gianna", stellt er mich vor. „Da die späte Stunde keine umfangreiche Führung zulässt, reicht es, wenn du ihr das Schließfach, den Essensaal und euren zeigst."
„Dann kriegt sie das freie Bett?", vergewissert Linda sich richtig, denn der Mann mit der Halbglatze nickt.
„Ok, auf geht's!" Ich greife gerade rechtzeitig nach der Tüte mit meinem Schmuck und der Broschüre, denn gleich danach zieht mich Linda mit viel zu viel Begeisterung Richtung Ausgang. Na das kann ja heiter werden.
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