47. Natur = Dreck?

Nach Bens Besuch und einer Mittagspause gehe ich zurück zur Arbeit. Bald schon spüre ich ein unangenehmes Kribbeln an den Fingerkuppen, das nur vom Zusammenlegen der Frottiertücher herstammen kann. Dort falte ich frische, noch warme Wäsche, streiche sie ab und an glatt, um sie im richtigen Winkel zu erwischen. Als Hans Gustav Konrad  aus dem Dorf zurückkehrt, hake ich mich sofort bei ihm unter.

Ich nutze die Gelegenheit für ein ausgiebiges Mittag-Abendessen, dank dem ich Jace für ein paar weiteren Stunden ausweiche. Auf das pubertäre Drama zwischen ihm und Ivana verzichte ich damit auf die eleganteste Weise, die sich mir ergibt. 

Der nächste Tag zeigt sich durch eine unangenehme Weckzeit und einem Ortswechsel. Statt sofort in den Laden des Försters geschickt zu werden, besagt mein Plan Koordinaten im nächstgelegenen Wald. Was bin ich froh, dass meine Kleidung gechippt ist...

Dort angekommen, verpufft die Angst vor Schauermärchen ziemlich schnell wieder. Es handelt sich um eine weitläufige Lichtung, daneben ein kleiner Bach, wie mir die Karte auf einer der Prospekte aus dem Internat zeigt. Mehrere Joggerinnen und Jogger passieren meine hölzerne Bank, auf der ich mich niederlasse, bis mein Arbeitsgeber endlich mit einem braunen Pickup auftaucht. Er holt beim Raussteigen aus seinem Wagen ein Paar hässlich dicke Gummistiefel hervor, eine Schürze und Gartenhandschuhe, streckt mir alles entgegen.

Ich nehme die Kleidung zögerlich an mich und streife meine blauen, second-hand Schuhe ab. Glücklicherweise passt der Stoff meiner Jeans am unteren Ende gut in die Öffnung der altmodischen Treter, ohne viel Platz übrig zu lassen. Sonst wären mir die Zehen bei dieser Kälte abgefroren.

„Guten Morgen. Was tun wir denn heute?", durchbreche ich die Stille, in der sich sonst nur seltenes Vogelgezwitscher, ein kaum hörbarer Wind oder ein kurzes Rascheln in einem Busch tummeln. 

„Wir bewahren die Rohre vor dem Zerbersten." Er zeigt einen Abfluss vor einem zugefrorenen Teich, in dem der Bauch von einem kleinen Wasserfall mundet. „Oder besser gesagt du wirst das tun."

Unentschlossen traue ich mich bis ganz ans Ufer. Die dünne Eisschicht hält bestimmt nicht, deshalb auch die Ausrüstung, nehme ich an. Den Untergrund abtastend, suche ich nach einer geeigneten Stelle. Ich durchbreche die Oberfläche mit dem kaum vorhandenen Absatz und stelle mich breitbeinig vor die Öffnung. Der alte Mann beobachtet mich schweigend. Vermutlich mache ich alles völlig falsch, doch es kümmert ihn nicht weiter. In den Minuten, in denen ich blindlings ins Dunkle greife, gönnt er sich dampfend heißen Tee aus einer Thermosflasche. Mir auch einen Becher davon anzubieten, käme ihn bestimmt niemals freiwillig in den Sinn.

Ich gähne, dann positioniere ich meine geschützten Finger am Rand des verrosteten Metalls. „Besitzen Sie eine Taschenlampe?", frage ich halbherzig.

Tatsächlich übergibt mir der Griesgrämige eine dieser Modelle, die sich mit Solarenergie aufladen. Dankend hebe ich die Mundwinkel an. Es prickelt an meinen trockenen Lippen.

Das weiße, helle Licht bringt mich kurzzeitig zum Blinzeln. Ich erkenne den Grund für die Verstopfung und das Risiko, weswegen wir hier sind, sofort. Chipsverpackungen, Zigarettenschachteln, selbst der Sattel eines Fahrrades bilden einen Berg voller Abfall in der Finsternis. Alles ist feucht vom Wasser dahinter, das die unnatürliche Barriere nicht zu brechen vermag.

Ich reiße an einem ausgefransten Strick, halte mit aller Kraft dem Gegendruck stand. Ein Ruck geht durch das Gebilde, erinnert mich an den Flussgeist aus Chihiros Reise ins Zauberland, kurz bevor er zu seiner eigentlichen Gestalt zurückkehrt.

Mit schlottrigen Knien fasse ich tiefer hinein, bringe einige Objekte nach draußen, von wo aus mein passiver Helfer auch endlich seinen Teil zur Sache beiträgt.

Als mir neben einem Sack voller Murmel mehrere zerbrochene Flaschen auffallen, kriege ich aus dem seitlichen Loch hervor.

„Da sind Scherben", berichte ich wahrheitsgemäß. „Sollen wir nicht lieber einen Profi arrangieren?"

Mein Chef formt die Augen zu Schlitzen. „Ich bin der Profi. Als Förster gehört es zu unserem Aufgabenbereich, die Instanthaltung des Waldes zu garantieren."

Demonstrativ stemmt er die Hände in die Seiten. Er gleicht einem zynischen, humorlosen Bob der Baumeister. Nur eben in weniger pummelig, gleich klein und als Person, die bereits seit langem in Rente gehen sollte.

„Ich aber nicht. Das ist erst mein zweiter Tag", halte ich dagegen.

Zum Überraschen aller – und ja, ich weiß, wir sind nur zu zweit, aber es kling so schön – stimmt mir der Graubärtige zu. Er wendet sein Transportmittel, dreht an einer Kurbel und bringt mir einen Hacken. „Mach das an einem der stabilen Gegenstände fest."

Ich folge seiner Anweisung, gerate ein weiteres Mal in absolute Schwärze. Durch den starken Schein finde ich schon bald ein passendes Ziel meiner Begierde: ein dichtes Eisengitter ziemlich genau in der Mitte.

Der Förster beobachtet mich, wie ich mehrere Versuche lang scheitere, die Böschung hochzukraxeln. Bald schon reißt ihm der Geduldsfaden, das kann ich spüren.

„Helfen Sie mir?" Es entspricht einem Mercy-Kill. Er betrachtet nicht mehr weiter meine minimale Muskelkraft in Aktion, ich schaffe den Krieg gegen die Tücken der Natur und wir verlassen diesen trostlosen Ort so schnell wie möglich. Zusätzlich pushe ich sein Ego, wenn er einer jungen Frau in Nöten noch in seinem Alter rettet. Win-Win würde ich behaupten.

Mein Boss zieht mich schwungvoll hoch. Ehrlich gesagt bin ich fast ein wenig überrascht, wie viel Leben in solch fragilen Knochen steckt.

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