46. Eindimensionale Bekannte von Nebenfiguren
„Oh", tue ich überrascht, die Stimme plötzlich eine Oktave zu hoch. „Die muss ich verloren haben!"
Mein Bruder hebt misstrauisch die Brauen. Er durchschaut mein Handeln wie kein zweiter. Dennoch setzt er sich seelenruhig auf einen freien Stuhl, deutet mir an, es ihn nachzumachen.
„Verloren, hm?" Der ironische Unterton ist nicht zu überhören. Die Heiterkeit übrigens auch nicht.
„Ob du willst oder nicht, ich werde deine wenigen Ferientage dafür buchen, dich hier rausschleifen und dich unter meine Gäste mischen. Schließlich gehörst du zur Familie."
Ich seufze. Blutverwandt sind wir, aber so wie er würde ich uns nur noch bedingt bezeichnen. Er lebt seit einigen Jahre ein eigenes Leben, mit eigener Wohnung und dem ganzen, neuen Kram, den man sich als erwachsene Person anhäuft.
„Muss ich denn wirklich dabei sein? Du weißt doch, was ich von deiner Freundin halte." Niedergeschlagen nutze ich die Arme als ein Kissen für meinen schweren Kopf. Das kühle Holz des Tisches unter meiner Haut lässt mich frösteln.
„Verlobten", korrigiert er mich sofort. „Und genau deshalb musst du kommen. Stefania möchte dich unbedingt besser kennen lernen."
Vermutlich nur, damit sie mich weiter über Ben ausquetschen kann. Dann beschaffen sie sich lächerliche Pärchenoutfits oder sie schenkt ihm Karten für ein Theaterstück, das ich mit ihm schauen möchte. Weil sie eine elende Opportunistin ist. Ich hoffe, eine gesunde Ehe mit meinem Bruder bleibt auch nach der Hochzeit eine Errungenschaft, von der sie etwas Positives erwartet.
Mein Bruder seufzt tief. So tief, dass sein Pfefferminz-Atem bis zu mir vordringt. „Denk wenigstens darüber nach, ja? Wir würden uns sehr freuen. Und du darfst auch deine bessere Hälfte mitbringen."
Ich blicke auf, unsicher, ob ich mich beim letzten Teil verhört habe oder nicht. „Max und ich sind seit über einem Jahr nicht mehr zusammen", setze ich ihn auf den aktuellen Stand meines Beziehungsstatus. Obwohl Ben augenscheinlich keinen Schimmer hat, wie es um mich steht, zieht sich mein Herz nicht zusammen. Im Gegenteil. Die Freude des Wiedersehens zeigt groß genug, um jedes anbahnende Kriegsbeil vorzeitig zu begraben.
„Dann bringst du eben niemanden mit. Oder irgendeinen Obdachlosen, der dir in der Stadt begegnet und den du zum Essen ausführen möchtest." Ben lacht über seinen eigenen Witz. Zugegeben, ich würde mir zutrauen, eine solche Show liebend gerne durchzuziehen. Einfach nur, weil er es vorgeschlagen hat und ich Menschen in Not gerne weiterhelfe. Außerdem wäre der Gesichtsausdruck seiner Freundin – pardon Verlobten – einfach zu gut.
„Aber bitte komm, Gianna. Wenn nicht für dich, dann für mich." Er nimmt meine Hände in seine und schenkt mir seinen treusten Hundeblick. Wie in den verabscheue!
Damit hat er sich schon viel zu viele Süßigkeiten ergattert, viel zu oft ein neues Gesellschaftsspiel verdient, viel zu viele Menschen um den Finger gewickelt. Und am Ende des Tages hat er seine Geschenke bei mir im Zimmer abgeladen, damit wir beide davon profitieren konnten. Denn sein Sinn für Gerechtigkeit und seine Liebe zu mir sind unerschütterlich.
Ich schlucke schwer, presse die Lippen aufeinander. „Einverstanden. Ich werde einen freien Tag für deine Hochzeit nutzen. Aber wenn ich mit einem verrückten Volltrottel als Begleitung antanze, darfst du kein Wort sagen." Etwas in dieser Art würde ich ihm niemals antun. Seine Hochzeit soll zu einem der schönsten Tage seines Lebens gehören. Da mische ich mich nicht ein. Dennoch grinse ich bei dieser Vorstellung.
„Geht klar", akzeptiert er ohne eine Spur der Einwende. So viel Vertrauen besäße ich auch gerne. „Aber sollte es tatsächlich jemanden in deinem Interesse geben, scheu dich nicht, ihn zu fragen."
„Oder sie", füge ich in Gedanken hinzu. Ich nicke langsam, wende mich leicht von ihm ab. Viele andere befinden sich in diesem Raum. Niemand Bekanntes ist dabei. Gegenüber der Fensterfront hängen etliche, rote Telefonautomaten.
„Gibt es sonst noch Neuigkeiten?" Eigentlich verspüre ich kein Bedürfnis, das Gespräch unnötig in die Länge zu ziehen. Der Grund, warum mein Bruder vor mir sitzt und unauffällig mit den hinteren Stuhlbeinen hin- und herschwangt, bezieht sich einzig und allein auf sein baldiges Fest. Doch momentan entspricht er meinem einzigen Tor zur Außenwelt.
Ben zuckt wegwerfend mit den Schultern. „Nicht allzu viel. Nachdem Dad diese Dankeskarte für seine Spende erhalten hat, läuft das Geschäft besser denn je."
Diese Information gehört zu einer der einzigen, die mich absolut nicht interessieren. Kein Stück. Nicht die Bohne.
„Ich meine in der Welt, Ben", spezifiziere ich meine eigenen Worte. Seine Augen weiten sich. Beim nächsten Schaukeln verliert er fast das Gleichgewicht.
„Ach so." Er verneint. „Alles wie immer. Die Reichen werden Reicher, die Armen ärmer. Die Meere sind voller Abfall, während Autos und Flugzeuge unsere Luft verpesten. Soll ich fortfahren?"
Ich lache auf, erinnert mich diese plötzliche Raserei doch an unsere Kindheit. Wie ich mit elf oder zwölf und er mit zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig Jahren von seinem Studium erzählt und Diskussionen aus den Vorlesungen mit nach Hause getragen hat. Ihm verdanke ich ein verführtes Erwachen aus der kunterbunten Fantasiewelt, hinein in die Wirklichkeit mit ihren drängenden Nöten.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top