44. Kurzes Zwischenupdate, Rückblende vor der neuen Episode
Der Rest der Gruppentherapie verläuft ziemlich ereignislos. Nach manchen Unbekannten erfahre ich, dass Hans Gustav Konrad keine Schlagen und Aisha keine Dunkelheit mag. Letzteres erklärt übrigens auch unser in der Nacht stets hochgekurbelter Rollladen im Zimmer. Das Licht der unteren Straßenlaterne kommt also nicht nur mir vorteilhaft vor.
„Und wie gefällt es dir hier bei uns?" Aishas Stimme holt mich aus den Gedanken. Dennoch starre ich weiterhin zum Fenster. Das Abendessen ist vorbei, wir sind zu unserem Schlaftrakt zurückgekehrt.
Ziemlich ungeniert beginne ich meinen spontanen Monolog: „Also ihr seid alle ziemlich schräge Vögel. Ehrlich gesagt, ist selbst die durchschnittlichste Person durch irgendwas seltsam und sei es auch nur, weil sie zu langweilig ist, um an ihren Freundinnen und Freunden etwas Besonderes zu erkennen. Also seid ihr eigentlich voll cool."
Linda kichert, die Hand schützend vor ihre Lippen haltend. Aisha findet das Ganze weniger lustig. „Ich habe die Frage eher auf das Institut als auf uns bezogen."
„Oh", entkommt es mir peinlich berührt. Die halb-Beleidung-halb-Wahrheit entspricht definitiv nicht Aishas gewünschter Antwort. „Es gefällt mir gut im Institut, man umsorgt mich kulinarisch und ich habe wegen den Arbeiten im Dorf immer etwa zu tun, weswegen mir nie langweilig wird. Und wie läuft's bei euch so?"
Linda legt ihren Kopf auf den Armen ab. Mit dem Bauch voran, befindet sie sich auf ihrem Bett, Ivana in der gleichen Position daneben. Ihre Nachbarin sagt nichts, schaut nur stumm geradeaus. Ob sie wütend, traurig oder einfach nur müde ist, kann ich unmöglich erkennen.
„Auch etwa so", erwidert Linda und gähnt. „Irgendwie fühlt es sich so an, als würde ich ewig dasselbe machen. Bloß die Leute um mich herum verändern sich."
Ich gebe einen zustimmenden Laut von mir. So etwas wie Routine erwarte ich nicht, doch nach einem halben Monat werde ich die Regelmäßigkeit bestimmt aus meinem Alltag herausschmecken. Wäscherei am Montag, grimmiger Förster am Dienstag, Kochen und Einkaufen am Mittwoch, sowie Bäckerei am Donnerstag und Freitag. Entsprechend schnell geht das Wochenende vorbei. Wie ein kurzes Aufatmen, ein Verschnaufen, bevor der ewige Kreislauf von Neuem beginnt. Nur dass mich Jace bedroht, während ich meine Zimmergenossinnen langsam ins Herz schließe. Jede von ihnen benimmt sich auf ihre ganz eigene Art und Weise speziell. Linda mit ihrer kindlichen Freude, Aisha mit ihrem Streben nach Harmonie und Ivana mit ihrem rotzfrechen, ehrlichen Zynismus. Dann sind da noch die Kleine, Hans Gustav Konrad, alle Angestellten wie Terry, den Violetthaarigen, das Psycholog*innenpaar Silvano Quispe und Quinn Viridi. Neben allen Jugendlichen und Betreuerinnen und Betreuer, deren Weg ich in den Fluren gekreuzt habe. Es handelt sich um so viele neue Gesichter, in so wenigen Tagen. Und doch bedeutet mir diese Zeit mehr, als ich mir selbst eingestehen möchte.
Weil mich niemand für eine reiche Göre hält, mich niemand auf meinen Vater oder seine Arbeit anspricht. Weil sich jede und jeder für mich und nicht für die Dinge aus meinem alten Umfeld interessiert.
„Wann werdet ihr eure Schulden abbezahlt haben?" Ich muss gar nicht erst aussprechen, worauf ich hinaus will.
Jedes Kapitel im Leben endet an einer bestimmten Stelle. In unserem Fall trifft das zu, wenn die vereinbarten Kosten durch das Arbeiten verdient worden sind. Dann erlangen wir unsere Freiheit zurück. Aisha hat es mir bereits am ersten Abend gesagt. Indirekt, sehr indirekt, aber zwischen den Zeilen hätte ich es finden können. Erst jetzt verstehe ich die wahre Bedeutung dahinter. Niemand kommt zum Spaß hierher.
Man verbockt etwas gewaltig, so sehr, dass der Betrag zu hoch steht, um bezahlt werden zu können. Wenn ich mich richtig erinnere, erhalten die Sträflinge die Wahl zwischen dem Gefängnis und diesem Projekt. Sie sind alle aus freien Stücken hier. Mehr oder weniger.
„Ich gehe, wenn Aisha geht", durchbricht die Kleine die Stille als erste und schaut lächelnd zu ihrem Vorbild. Diese fügt hinzu: „Und das wird in einem halben Jahr sein."
„Bei mir dauert es nur noch wenige Wochen." Lindas Augen nehmen einen gläsernen Ton an. Fast schon fürchte ich mich vor einem emotionsgeladenen Ausbruch. Dieser trifft jedoch nicht ein. Stattdessen wischt sich Linda stumm die wenigen Tränen weg, bevor sie es überhaupt vollständig aus den Lidern schaffen.
Als sich alle abwartend zu Ivana wenden, stöhnt die Südländerin theatralisch auf. „Ich bleibe von euch allen am längsten. Ist es das, was ihr hören wollt?"
„Solange es der Wahrheit entspricht schon, ja", necke ich sie und schenke ihr einen übertriebenen Kussmund. Sie dreht sich genervt zur Seite. Ihr Lächeln verbirgt sie trotzdem nicht. Ich bemerke es zufrieden. Langsam taut sie auf, unsere Eiskönigin. Das spüre ich.
Glücklicherweise fragt mich keiner nach meinem Austrittsdatum. Eine Diskussion über den Grund, warum mein Plan keine Einfindungsphase aufweist, ihrer aber schon, möchte ich echt nicht führen.
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