41. Die Frage auf alle Antworten?
Ich lache auf in dem Versuch, der plötzlichen Tiefe unserer Unterhaltung auszuweichen. „Und an was für Abgründe denkst du, wenn du über dich selbst grübelst? Bei dir ist doch alles blumig fröhlich und kunterbunt. Mal von deiner Kleidung abgesehen", ziehe ich sie auf.
Aisha mustert mich eingehen, während ich ihren olivfarbenen Badeanzug ansehe. Hoffentlich bemerkt sie die zahlreichen Pickel auf meinen Wangen und der Nase nicht. „Es freut mich, dass ich diesen Anschein erwecke. Aber neben meiner täglichen Begeisterungsfähigkeit gibt es noch so viel mehr, was ich auskosten möchte."
Nachdenklich streifen Aishas Finger die Wasseroberfläche. Sie durchbricht sie kurz, um sanfte Wellen in meine Richtung zu stoßen.
„Man sagt oft bei der Frage eines Lebensziel, man wolle glücklich werden, doch für mich besteht der Alltag nicht immer aus Friede, Freude, Eierkuchen. Manchmal bin ich ausgelaugt, wütend, eifersüchtig, traurig... Das alles nehme ich liebend gerne an, erlebe meine Stimmungsschwankungen, ohne sie für ständige, ungesunde Freude zu verdrängen", sagt Aisha leise. Sie seufzt, starrt zu Linda und der Kleinen.
Ich verwerfe meine Vermutung, es könne sich bei ihr um ein Manic Pixie Dream Girl handeln. Denn zwischen dem Hin- und Herschwanken von super happy zu todernst weist Aisha eine breite Palette an Grautönen auf. Wenn mir das nicht in diesem Moment klar geworden wäre, dann bestimmt, als sie am Tisch im Speisesaal eingeschlafen ist. Wobei – gehört Müdigkeit auch zu den menschlichen Gefühlen? Oder Erschöpfung vielleicht? Womöglich entspricht es eher einer Gefühlslage als einem tatsächlichen Gefühl. Nun ja. Auch egal.
Sie zeigt mir mit ihren Worten ihre Verschiedenartigkeit. Wie ein Chamäleon. Nur eben ohne ständige äußerliche oder metaphorische innere Veränderung, sondern wie jemand, die oder der über die normale Achterbahn der seelischen Regungen spricht. Sie ist ein Mensch, genau wie ich, macht Fehler, hat eine ausgefuchste Persönlichkeit, Vorlieben, Hobbies. Und irgendwo durch fühle ich mich geehrt, diesen Teil ihres Wesens mitbekommen zu dürfen.
„Und wie geht es dir heute?", erkundige ich mich lächelnd. Die feuchte Stelle oberhalb meines Schienbeines prickelt leicht, trocknen an der warmen Luft. Der Geruch des Chlors fällt mir erst jetzt richtig auf.
Aisha schmunzelt, dann spritzt sie mir einen kühlen Schwall entgegen. Ich reagiere kaum auf ihre Ablenkung, schaue sie nur auffordernd an.
Es stört mich nicht im Geringsten, mich unrasiert unter pubertierenden Jugendlichen zu befinden. Sonst lernen sie nie, dass Körperbehaarung bei Frauen genauso natürlich sind wie bei Männern.
„Danach hat sich schon lange niemand mehr ernsthaft erkundigt." Einem Geständnis gleich faltet Aisha die nassen Hände im Schoss zusammen. Sie legt den Kopf in den Nacken und überlegt.
„Gut, denke ich. Fragen auf alle Antworten meiner Vergangenheit werde ich nie erhalten. Ich brauche sie auch gar nicht mehr so dringend. Viel mehr befasse ich mich mit dem Hier und Jetzt. Mit meiner Arbeit in der Küche, der Fischerei, meinem Freundeskreis. Also ja, ich denke, mir geht es ziemlich gut."
Aisha lächelt, um ihre Worte zu unterstreichen. Bedächtig öffnet sie die kurzen, von Linda geflochtenen Zöpfe. Ihr heller Ansatz verschwindet ab und zu zwischen dunkelgefärbten Strähnen.
Eine Weile lang nehmen mich die Geräusche unseres Umfeldes vollständig für mich ein. Das Gekicher der zwei Teenies ganz in der rechten Ecke, das Gurgeln eines verstopften Abflusses an einem der Brunnen und Linda mit der Kleinen, wie sie hintereinander herjagen, vermutlich Fangen spielen.
Ich frage mich, wie es mir geht. Mal von den Schmerzen und dem Schlafmangel abgesehen natürlich. So viele Dinge halte ich für selbstverständlich, zeige deshalb keine Dankbarkeit mehr. Dabei sollte ich mich immer an sie erinnern, wo sie mich jede Sekunde lang begleiten. Ich habe ein Dach über dem Kopf, kriege leckeres Essen, mir wird nie langweilig wegen der vielseitigen Schichten im Dorf oder im Institut. Bildung und Medizin sind mir zugänglich, ich kann meine Sexualität und meine Ess- und Lebensgewohnheiten mehr oder weniger frei zeigen – mal von blöden Kommentaren meiner Verwandtschaft abgesehen - muss weder flüchten noch um mein Leben bangen.
Und trotz alle dem trachte ich wie jeder Mensch nach mehr. Ich möchte für mein momentanes Recht einstehen, mein Glück teilen, die Welt verbessern. Obwohl mir dieses Camp kaum in diesen Belangen weiterhilft, fühle ich mich Zuhause. Weil ich verstanden werde, unterstützt in meinem Vorhaben, meine Meinung mit anderen zu teilen.
Wer weiß, vielleicht schaffe ich es sogar irgendwann Leute wie Ivana auf meine Seite zu ziehen.
„Wie läuft's bei dir so?", hakt Aisha nach einer gefühlten Ewigkeit nach. Ich blicke ihr direkt in die bunten Augen, finde Neugierde und Aufrichtigkeit vor.
„Auch gut, danke."
Nun liegt es an ihr, aufzulachen. Spielerisch stupst sie mir in die Seite. „Du ergatterst eine detaillierte Erläuterung meines Befindens und ich kriege nur ein ,auch gut, danke'. Wie kannst du nur?"
Gespielt entrüstet spannt sie den Kiefer an und presst die Lippen aufeinander. Ich neige mich leicht zu ihr. „Neben dir, in so netter Gesellschaft kann es mir gar nicht schlecht gehen. Außerdem bin ich von der Schmerztablette gepaart mit den nicht vorhandenen Stunden Schlaf so in Watte gepackt, dass ich nicht mal eine Atomexplosion mitkriegen würde."
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