4. Unangemeldet bei schlechter Organisation

Nervös trommle ich mit einem ausgetrockneten Kugelschreiber gegen meine Armlehne. Die Uhr des Wartezimmers treibt mich noch in den Wahnsinn. Wie beim Zahnarzt, denke ich und amüsiere mich trotz eigener Ungeduld köstlich an meinen nicht ganz stimmigen Vergleich. Für eine Dentalhygiene müsste ich auf die Praxis zukommen. Hier ist es umgekehrt.

Keinen Tag in diesem Loch und schon schickt man mich ins Büro der Direktorin.

"Eine reine Formsache", wollte mir eine Frau des Putzpersonals, die mir die Tür von Innen öffnete, nachdem ich auf den runden Knopf daneben gedrückt habe, klarmachen. Ich glaube ihr kein Wort. So überrascht wie die mich angesehen hat, denkt sie bestimmt, ich wäre vor dem falschen Institut stehen geblieben. Mehr als absurd oder nicht?

Es ist im Umkreis von mehreren hundert Metern das einzige Haus. Und nein, nicht einzigste. Von manchen Steigerungen sollte man einfach die Finger lassen.

In diesem Beispiel Adjektive, die bereits in ihrer Normalform ein Alles-oder-Nichts-Prinzip vorgeben, auf das Leben bezogen, darf die Aussage liebend gern auf Alkohol und Drogen, sowie alle anderen toxische Verhaltensweisen erweitert werden.

Eure zukünftigen, höchstwahrscheinlich trotzdem funktionsunfähigen Organe danken euch später für euer ewig währender Kampf gegen gewisse Versuchungen. Immerhin habt ihr sie in diesem Szenario nicht vollständig verstört.

Warte - wo bin ich nochmal steckengeblieben?

Ach ja, stimmt. Dieses gleichmäßige Ticken bringt mich ins Grab. Ich bin platschnass, meine Kleidung klebt an mir. Trotzdem stehe ich auf, tue mir das unangenehme Geräusch von nassem Stoff an und gehe zum Wasserspender an der Halbwand des etwa vier Quadratmeter großen Raumes. Mein Blick richtet sich auf den langen Gang, den ich durch den transparenten Teil des Mauerwerks erblicke. Unzählige Schränke wie die im Umziehraum von einer Kunsteisbahn reihen sich in beide Richtungen auf. Es ist niemand da. Auch nicht der Typ von vorher. Obwohl der unmöglich für eine geschlagene viertel Stunde in dieser Kälte verharrt. Oder irre ich mich?

Vielleicht gehört er zu den Geistern des Hauses, einem alten Fluch wegen schon seit tausenden von Jahren auf diesem Anwesen gefangen. Mal davon abgesehen, dass Tote in der realen Welt dort bleiben, wo man sie vergräbt. Nein, begräbt, so heißt das. Manchmal möchte ich meine eigenen Gedanken für ihre schlechte Wortwahl strafen. Ich frage mich, ob es anderen auch so geht.

Ausgiebig gähnend fülle ich meinen Becher auf. Glücklicherweise handelt es sich um ein wiederverwendbares Modell, wenn auch aus Plastik. Ich nehme einen Schluck und das kühle Wasser rinnt meinen brennenden Hals hinunter. Eine solche Erfrischung habe ich wirklich gebraucht. Auch wenn mir ein Kamillentee um einiges lieber gewesen wäre, den äußeren, eisigen Umständen entsprechend. Naja, man kann nicht alles haben.

Seufzend kehre ich auf meinen Platz zurück, wo ich mein Tagebuch aus dem oberen Fach des tiefblauen Rucksacks klaube. Die Farbe erinnert mich an seine Augen. Was für einem kitschigen, unmenschlichen Prachtexemplar eines Klischees er doch entspricht. Hätte nur noch gefehlt, dass er oder ich – je nach Lust und Laune – in die jeweils andere Person hineinrennt, zu Boden fällt und sich sofort verliebt.

Den Becher erneut an den Lippen, greife ich mit der freien Hand nach einem Bleistift. Feinsäuberlich notiere ich mein erstes Wort in den linken Ecken der neuen Mindmap: oberflächlicher Schönling - auch bekannt als Person mit Badboy-Aura.

In der Realität des Öfteren genauso unfreundlich und freiheitsberaubend, wie schon von Beginn an. Viel Platz für Charakteränderung gibt es bei einem Durchschnittsmenschen nicht, aber ein oberflächlicher Schönling?

Da ist Hopfen und Malz verloren.

Oder nein. Ich brauch was Besseres. Eine Redensart der Bierbrauerei über ein männliches Wesen dieser Erde? Das zeigt ein deutlich zu hohes Maß an stereotypischer Zuordnung.

Deshalb noch einmal genderneutraler: Dieser Typ, zum krassen Gegenteil davon, was dir "romantische" Filme sagen, bleibt mit neunundneunzigprozentiger Wahrscheinlichkeit genauso ein Mistkerl, wie du ihn kennenlernst.

Man kann niemanden von Grund auf ändern. Auch wenn das Leben so sehr viel einfacher wäre. Weniger rassistische Großväter, ein Minimum an rechtsextremen Gruppen, einfach ein wenig mehr Verständnis im Allgemeinen. Hach, wie schade. Mein Traum wird nie in Erfüllung gehen.

„Gianna?", ruft ein rundlicher Herr mit Halbglatze aus. Es scheint im sichtlich egal, sonst niemanden hier sitzen zu sehen. Obwohl sein Rufen in diesem Fall eine ziemliche Zeitverschwendung darstellt. „Folge mir bitte ins Büro."

Mein eigenes Gähnen erklingt, dann gehorche ich, lasse meinen Koffer zurück und betrete den abgedunkelten Raum. Ich komme mir wie in einem alten Krimifilm vor. Die Sonne ist seit einigen Minuten untergegangen, weswegen ich beim breiten Fenster an der hinteren Wand nichts als Dunkelheit erkenne. Einzig und allein eine flackernde Glühbirne hält uns davon ab, in absoluter Schwärze zu tanzen.

Neben dem korpulenten, eher kleinen Mann, der sich gerade auf einen Ledersessel vor einem Pult setzt, befindet sich ein zweiter Mitarbeiter an einem Schreibtisch in der rechten Ecke. Gedankenverloren blättert er durch verschiedenfarbige Akten und sieht erst auf, als ich der stummen Bitte des älteren Herrn folge und mich auf den freien Stuhl in der Mitte niederlasse.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top