32. Lügen. Immer diese Lügen.
Der nächste Tag fühlt sich wie der gestrige an, denn streng genommen sind nur wenige Stunden vergangen, seit die Dorfkirche in den Untiefen des Tales Mitternacht geschlagen hat. Die Christen mit ihrer Ruhestörung zu undenkbaren Zeiten verhalten sich echt wie das Letzte. Am besten sie überfluten das gesamte Gebiet und entwickeln es zu einem riesigen Staudamm. Dann entnehmen wir der nervenauftreibenden Angelegenheit wenigstens eine große Portion erneuerbare Energie. Die brauchen wir nämlich, wenn wir noch vor dem Sonnenuntergang geweckt werden. Wobei wir in diesem Szenario natürlich nicht mehr wie jetzt im Internat hausen würden.
Für mich entspricht der Übergang einem Hinlegen, eine Sekunde warten, Aufstehen. Also gelinge gesagt einem Moment der Pause, bevor das Chaos sich von neuem ausbreitet.
Von ständiger Müdigkeit begleitet, hangle ich mich wie ein Faultier durch die Ewigkeit. Harte, körperliche Arbeit löst die Gespräche ab. Wir kneten Teig bis zum Umfallen. Der ständige Geruch von frisch gebackener Ware liegt in der Luft, während mich der raue Stoff der Haube unentwegt juckt.
Auf die Frühschicht folgt ein freier Nachmittag. Ich erköre diesen Umstand als die schönste Neuigkeit von allen. Überglücklich und mehr als geschafft falle ich auf einen freien Sitz in der Zahnradbahn, nicke kurz ein und verpasse fast unsere Ankunft. Dank dem Violetthaarigen, der mich ums Aussteigen bittet, folge ich trotzdem den Anderen ohne doppelte Fahrt in den Computerraum. Dieser befindet sich im ersten Stock, was ich nur deshalb herausfinde, weil alle wie Zombies in diese Richtung torkeln. Die moderne Technik verblödet uns. An diesem Beispiel sieht man es mal wieder.
Obwohl ich herzlich wenig mit den Gerätschaften anstellen möchte, gehe ich dem Strom der Massen nach. Wie erwartet sitzt Jace bereits vor dem Bildschirm, während Linda ihn unauffällig von einer Reihe weiter hinten beobachtet.
Eine helfende Hand mehr schadet in der Mission „Jaces Passwort Herausfinden" bestimmt nicht, also steuere ich den Platz neben Linda an. Gerade vom Eingang wegtretend, werde ich von meinem eigentlichen Ziel weggezogen.
Überrascht starre ich auf die Finger, die mich an der Stelle kurz oberhalb des Ellenbogens umgreifen. Die Lichtverhältnisse ändern sich, dann betätigt mein Gegenüber einen Schalter, um auch dieses Zimmer zu erleuchten. Womöglich handelt es sich um ehemalige Räumlichkeit für Vorträge oder eine Form von schulischem Unterricht, denn eine Tafel hängt an der vorderen Wand, nach dem sich alle anderen Möbel ausrichten.
Ich lehne mich an einen leeren Schreibtisch. An jeglichen Oberflächen haftet eine dünne Schicht Staub. Der abgestandene Geruch kitzelt in der Nase.
Irritiert schaue ich zu Aisha. Diese lächelt mir wegen der Aktion entschuldigend zu. Dann verschränkt sie die Arme, schenkt mir einen auffordernden Blick. „Was ist mit dir los?"
Dass sie gleich zur Sache kommt, überrascht mich. Sonst gibt sie sich eher in sanfter, schlichtender Manier. Glaube ich jedenfalls. Allzu oft unterhalten wir uns schließlich nicht.
„Was soll schon mit mir los sein?", stelle ich eine empört klingende Gegenfrage. In Wahrheit fürchte ich mich. Ich fürchte mich vor ihrer Anteilnahme und ihrer Neugierde. Denn wer die eigene Umgebung bewusst wahrnimmt, kann jedes Rätsel lösen. So zumindest nach Professor Layton.
„In den letzten Tagen gehst du uns so gut wie möglich aus dem Weg. Das ist meine Sicht der Dinge. Jetzt würde ich gerne deine hören."
Ihre Nervosität in Bezug auf Konfrontation schwappt deutlich zu mir herüber. Dennoch liefert sie sich tapfer ihrer Angst. Doch warum? Ob ihre Sorge um mich grösser ist, als die Furcht ihrer eigenen Bedenken?
„Da gibt es nicht sonderlich viel zu sagen..." Ich beiße mir auf die Lippen. Bitte, flehe ich in Gedanken, ich möchte nicht lügen. Und schon gar nicht so, dass Jace bei meiner Erzählung freundlich wirkt. Das würde ich nämlich tun, wenn ich meine Anwesenheit bei Jace erklären würde, ohne die Erpressung zu erwähnen.
Erleichterung durchströmt mich, als mir eine passende Ausrede einfällt. „Ich versuche deinen Tipp an verschiedenen Leuten aus. Das mit der Freundlichkeit, erinnerst du dich?"
Ein schwaches Lächeln breitet sich auf meinem Mund aus. Jaces schlechtes Verhalten bleibt weiterhin eine Möglichkeit und im gleichen Atemzug mache ich Aishas Psychologiekünsten ein Kompliment, in dem ich mein Interesse ihnen gegenüber offenlege. Genial.
Ich beglückwünsche mir im Geiste und klopfe mir mental auf die Schulter. Aisha stößt geräuschvoll Luft aus ihren Lungen.
„Also ist alles gut zwischen uns?", hakt sie nach, wobei es keinen Grund für die Unsicherheit in ihrer Stimme gibt. Sie kocht mir Mahlzeiten, verhält sich stets nett und freundlich mir gegenüber und jetzt versucht sie auch noch mein unabsichtlich abweisendes Verhalten zu ergründen.
Ich nicke. „Ja, klar. Alles gut."
Sichtlich erleichtert hebt sich Aisha auf die Holzplatte, vor der ich mich befinde. Ihre Beine berühren mich bei der Bewegung unabsichtlich.
„Puh, das freut mich." Aisha wischt sich dunkelgetönte Strähnen hinters Ohr. Am Ansatz erkenne ich bereits ein Anflug ihrer natürlichen Haarfarbe. Sie wirkt sehr viel heller neben dem künstlichen, blauen Glanz des Schwarzes.
„Weißt du", beginnt Aisha, „selbst bei neuen Freunden verschwinden die alten nicht einfach."
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