26. Drohbriefe. Weil - Warum auch nicht?
„Du bist echt verrückt", entkommt es mir. In Ivana sehe ich absolut keine Bedrohung. Nicht im Geringsten. Und erst recht nicht, wenn ich eigenständig für ein Tausch zweier Getränke sorge. Letztendlich verändere ich die Situation ohne ihr Zutun.
„Das musst du gerade sagen. Vor einigen Minuten hast du mich beraubt und das hier, in einer Strafanstalt", wirft sie schnaubend ein. Ich lache auf.
„Du hast mich dazu angestiftet!" Spielerisch stoße ich sie an. Zum ersten Mal fallen mir die Überwachungskameras auf. An jeder Ecke steckt eine kurz unterhalb der Decke.
Lindas Witz schimmert unter der Maske der Ernsthaftigkeit hervor. Halbwegs weiterhin in ihrer Rolle, wirft sie ihre Zöpfe über die Schulter.
„Ich glaube kaum, dass der Richter...", beginnt sie, doch ich unterbreche sie für meinen feministischen Einwurf. „...oder die Richterin..."
Linda bleibt stehen. Sie seufzte, dann pustet sie sich die schwarzen Strähnen ihres Ponys aus der Stirn.
„Ich glaube kaum, dass die Justiz dir glauben wird. Ich meine, wer wird schon gerne freiwillig beklaut?"
Überfragt zucke ich mit den Schultern. „Vielleicht gilt das nicht als Vergehen", erwidere ich.
Meine Instrukteurin setzt sich erneut in Bewegung. Zu mir gedreht, presst sie die Lippen aufeinander. Nach einer Weile heben sich ihre Mundwinkel. Der übliche Optimismus taucht in ihrer Mimik auf.
„Hoffen wir's."
Im Schlaftrakt angekommen, erwartet uns ein Brief auf der Matte. Die Schrift kenne ich nicht, den Namen darauf schon. GIANNA steht in Großbuchstaben auf der Stelle, an der normalerweise eine Adresse vorgefunden wird.
Ich hebe ihn auf und schaue mich um. Bis auf Linda und mich ist weit und breit niemand zu sehen. Selbst die Geräusche von anderen Stockwerken verklingen. Mein Herzschlag beschleunigt sich. Wie in Zeitlupe hebe ich den Umschlag hoch und setze mich auf mein Bett.
„Von wem ist der?", fragt Linda neugierig.
Ratlos verziehe ich den Mund. „Keine Ahnung", gestehe ich. Ein Schaudern jagt durch meine Beine, der Körpermitte entgegen und bis zu meinen Schultern. Ich schüttle mich.
Vorsichtig hole ich ein auf ein Blatt gedrucktes Foto heraus. Beim Anblick des leicht verschwommenen Schnappschusses wird mir übel.
Das Bild weit von mir schiebend, erhasche ich den Abdruck eines Filzstiftes auf der Rückseite. Komm um sieben Uhr zum Gewächshaus oder ich werde es veröffentlichen. Deine Entscheidung. Ich schlucke schwer, kriege nicht mit, wie Linda sich vorbeugt.
„Jace, verdammt. Du bist so ein Idiot!" Linda schlägt die Hände vors Gesicht. Verwirrt rücke ich näher an sie heran.
„Jace?", wiederhole ich. In Gedanken gehe ich die Ereignisse in den Duschen durch. Das Klicken. Es ist keiner losen, überschwemmten Bodendiele entsprungen, nein. Dieses Klingen gehört zu einer Kamera. Jetzt verstehe ich Hannah Baker auf einem völlig neuen Level. Die Arme verliert ihr letztes Bisschen Zuhause an einen Stalker, während sie noch so viele andere Dinge beschäftigen wie zerbrochene Freundschaften, das Gerede von Teenager, Vergewaltigungen und Selbstmordsgedanken. Solche Geschichten zeigend völlig ernüchtern, dass kleine, schlechte Teile zu einem ganzen, unkontrollierbar großen Brocken werden können. Ein Brocken, der sich auf das Gemüt eines einzelnen Menschen drückt, bis dieser am Gewicht zugrunde geht.
„Warum sollte er so etwas tun?" Ich lehne mich an die Wand und schlage die Knöchel übereinander. Grundsätzlich bin ich nicht allzu schlecht mit Jace umgegangen. Rache schließe ich somit aus. Vermutlich handelt diese Sache mehr von ihn als von mir. Weil er ein Psychopath ist. Oder es einfach grundsätzlich mag, andere zu unterdrücken. Na super. Ausgerechnet der hat jetzt etwas gegen mich in der Hand. Etwas, das ich um jeden Preis beschützen werde. Und nein, ich spreche nicht vorrangig von meinem nackten Körper. Wie gesagt gibt es zwischen meinem Vater und mir herzlich wenig Drama und dies wäre definitiv ein Skandal. Aber das steht nur auf dem zweiten Platz der imaginären Liste, warum ich Jace aufhalten muss.
„Weiß nicht", sagt Linda und deutet auf die Aufnahme. „Aber er ist der Einzige, der elektronische Geräte benutzen darf. Weil er die Artikel für unsere wöchentliche Zeitung zusammenstellt."
Irritiert studiere ich ihre Mimik. „So was gibt es?"
Für eine Anstalt weit abseits von jeglicher Zivilisation herrscht hier ein reger Betrieb. Küchenarbeit, Wäsche, Putzdienst, Gärtnerei und Journalismus.
„Ja. Doch als qualitativ hochwertig würde ich es jetzt nicht bezeichnen." Ivana tritt herein, die Arme demonstrativ vor der Brust verschränkt. „Was soll das eigentlich? Warum habt ihr mich einfach im Speisesaal zurückgelassen?"
Linda zuckt entschuldigend mit den Schultern. Wehleidig blinzelt sie. Konfrontation gehört vermutlich nicht sonderlich zu einer ihrer Stärken.
„Du hast ziemlich abgelenkt gewirkt, da wollten wir dich nicht weiter stören", versucht sie sich zu erklären, während ich ihren altmodischen Wecker in Grund und Boden starre. Der helle Sekundenzeiger tickt frisch und fröhlich im Kreis. Er ist es nicht, wegen dem ich mir Sorgen mache. Seine Freunde, die für die Minuten und Stunden zuständig sind, übernehmen diesen Part mit Freuden.
Fünf vor Sieben.
„Ich muss los." Wie von der Biene gestochen springe ich auf. Meine Motivation für ein Krisengespräch liegt unter dem Nullpunkt. So sieht das eben aus, wenn man von einem Fremden bedroht wird. Vergnügen am Feierabend definiere ich anders, das schwöre ich dir.
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