25. Langfinger führen ein gefährliches Leben
Der weitere Verlauf unseres Gespräches über Gott und die Welt – wobei Gott gar nicht und die Welt in überhohem Maß vorkommt – ergibt sich wie von allein. Schon bald finde ich mich mit Aisha, Linda und Ivana am Tisch im Speisesaal wieder, jede an ihrer Limo schlürfend. Jede, bis auf Aisha. Diese stützt ihren schweren Kopf todmüde auf ihren Armen ab. Ob sie bereits schläft oder nicht, kann ich unmöglich sagen.
„So gute Laune, wie sie sie an den Tag legt, kommt nicht aus dem Nichts. Da braucht es viele, wohlgewählte Nickerchen dazwischen", kommentiert Linda bei meinem vagen Deuten auf die Schwarzbekleidete. „Außerdem zieht sich wieder eine Grippewelle durchs Internat. Jetzt muss sie die Arbeit von drei Leuten gleichzeitig tun."
„Verstehe." Ein kurzer Blick auf Ivana und der Fall ist klar: Uninteressiert wie immer gleiten ihre haselnussbraunen Augen über die Anwesenden. Es ist ihr schnuppe furz egal, dass wir gemeinsam hier sitzen und ein Gespräch führen. Nur deshalb – oder vielleicht auch wegen unserer mehr oder weniger schlechten Beziehung – juckt es mich in den Finger, meine Geschicklichkeit an ihr zu üben.
Sie erinnert mich nur zu sehr an die Mutter in der Gondelbahn, die unwissentlich mit einem schönen, neuen und vor allem biologischen Lippenbalsam durch die Gegend taumelt. Ihr Gutes zu tun, scheint sehr viel schwerer, als irgendeiner dahergelaufenen Klischeehausfrau. Ich vergleiche unsere beiden Glasbehälter.
„Wie lustig. Wir haben alle ein Gratisdrinks erhalten!", äußere ich mich über das längst Bemerkte. Jedenfalls für diejenigen unter uns, die sich auch mental bei uns befinden.
Ivana macht ein zustimmendes Geräusch, mit den Gedanken definitiv woanders. Bedächtig strecke ich mich zu ihrem Becher, der meinem ziemlich ähnlich sieht. Der einzige Unterschied liegt im Inhalt: meiner geht weit über die Hälfte, während ihrer darunter liegt.
Unauffällig tausche ich unsere Getränke in einer fließenden Kreisbewegung. Lindas aufgeklappter Mund fällt mir erst nach meiner Aktion auf.
„Stell das zurück!", zischt sie mir zu, doch ich runzle bloß irritiert die Stirn. Was ist schon dabei? Jetzt genießt Ivana das Zuckerwasser mit Zitronengeschmack eben ein bisschen länger.
Als ich aus Ivanas Strohhalm trinken möchte, schiebt Linda das Behältnis zur Seite. Dorthin, wo ich es nicht erreiche.
„Warum tust du das?" Ich neige leicht den Kopf, schaue an ihr vorbei zu meiner entfernten Erfrischung.
„Das erkläre ich dir gleich", meint Linda geheimnisvoll und fügt hinzu. „Mach das mit mir, wenn du dich traust."
Herausfordernd grinst sie mich an. Ich zucke mit den Schultern. „Womit denn? Ohne Gegenstände geht das nicht."
Dann richtet sich meine Aufmerksamkeit auf eine silberne Kette mit einer japanischen Kirschblüte an ihrem Handgelenk. Einen Verschluss zu öffnen, so wie es Straßenkünstler des Öfteren bewerkstelligen, entspricht eigentlich nicht meinen Fähigkeiten. Aber was nicht ist, kann ja noch werden.
„Weißt du", beginne ich und berühre sie am filigranen Schmuckstück, „es braucht einiges an Planung dafür. Das geht nicht aus dem Nichts."
Der Trick liegt – nach Angaben einer Zaubershow, die ich oft abends geschaut habe - im leichten Druck, der an das eigentliche Gefühl auf der Haut erinnert. Vorsichtig öffne ich ihr Armband, mache eine Faust und ziehe mich zurück. Das Diebesgut verschwindet, ohne Erlaubnis der Besitzerin. Innerhalb weniger Sekunden nehme ich es in es an mich. Adrenalin durchflutet meinen Körper. Ein Nachbeben der Aufregung, spät genug, um mir nicht die Show zu versauen. Dennoch zittern meine Beine leicht, Hitze steigt in mir hoch.
„Dann lassen wir es", gibt Linda versöhnlich von sich. Sie steht auf, versorgt ihr Tablett. Ich tue es ihr gleich. Ein Grinsen stielt sich auf meine Lippen. Siegessicher strecke ich ihr meinen Fang entgegen. Die feingeschliffene Oberfläche glänzt im Licht der hellen Lampen.
Lindas Lider weiten sich perplex. „Was zum...?"
Ihr Mund bleibt offen stehen, zu unerwartet trifft sie die Wendung ihrer selbst indizierten Provokation.
„Wie hast du das gemacht?", setzt sie erneut an. Ich übergebe Linda ihr Eigentum, welches sie dankbar an sich nimmt.
„Mit ein wenig Ablenkung und einer großen Portion Glück." Denn das hätte auch daneben gehen können. Schließlich entspricht dies mein erster Versuch. Wobei der meistens klappt. Vermutlich wird es die nächsten zehn Mal nicht mehr so einfach. Thema Overthinking meinerseits und Paranoia anderer.
Verwirrt verfolge ich, wie Linda umdreht, Ivanas Becher holt und den restlichen Inhalt in einen Abfalleimer neben einem Snackautomaten ausleert. Ungeduldig warte ich auf sie, mit dem rechten Fuß auf den Boden tippend.
„Erklärst du mir nun endlich dein Verhalten?", frage ich, als sie wieder zu mir aufholt.
„Ivana kennt sich mit Chemikalien echt gut aus." Linda mustert mich bedeutungsschwanger. Die Farbe weicht deutlich aus ihrem sonst schon bleichen Gesicht.
„Man sagt, sie habe ihren Nachbarn vergiftet. Wenn ich du wäre, würde ich nicht mal im Traum daran denken, eine von ihr berührte Flüssigkeit zu trinken."
Eine Wissenschaftlerin? Unsere Ivana? Mir entweicht ein Geräusch der skurrilen Begeisterung. Vielleicht handelt es sich bei Ivana doch nicht um die perfekte, modebewusste, durchschnittlich intelligente Tochter, die sich jedes Elternpaar wünscht. Wie überaus überraschend.
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