23. Psychologische Unterstützung? Nein, das brauchen wir nicht.
„Du musst Gianna sein", rät der Psychologe richtig und macht einen Schritt auf mich zu. Sein Sprechzimmer besitzt die schönste Aussicht von allen. Man sieht bis weit ins Tal hinunter, an Schneebedeckten Wäldern und Hütten vorbei und gleichwohl thronen hohe Berge hinter schmalen Wolken am Horizont.
Ich nicke. „Und Sie sind?"
Sein gesamtes Auftreten entspricht so gar nicht dem Bild, das ich von Leuten seines Milieus kenne. Er trägt keinen Kittel, keinen Anzug, nichts Formales und auch nichts Schickes. Stattdessen könnte er den jungen Gesichtszügen nach wegen seiner Jeans und dem T-Shirt zu einem von uns gehören. Ein geflohener Kleinkrimineller, aufgegangen in dem Schauspiel einer Person mit Autorität und zu seine frühere Heilungsstätte zurückgekehrt.
„Silvano Quispe. Wenn du möchtest, darfst du mich gerne duzten", antwortet er freundlich und deutet auf die Sitzangelegenheiten in der Mitte. „Wollen wir?"
„Sehr gerne." Das ist gelogen. Ich gebe es ganz ehrlich zu, denn ich verspüre keine Lust, mein geistiger Zustand einem völlig Fremden zur Analyse auf dem Silbertablett zu präsentieren.
Der Psychologe mit dem vermutlich erst kürzlich erworbenen Zertifikat lässt sich auf einem Sessel nieder, während ich mich für das senfgelbe Sofa gegenüber entscheiden. Zufrieden sinke ich in die weichen Polster. Links und rechts neben mir stehen Töpfe mit Pflanzen auf holzige Beistelltische. Ob er auf seinem Laptop eine digitalisierte Version dieses Raumes bei Sims aufrufen kann? Vielleicht ein möglicher Prototyp? Nichts gibt einen Hinweis auf ein solches Vorgehen und trotzdem verspüre ich das Bedürfnis, ihn scherzhalber danach zu fragen. Ich unterdrücke den Impuls. Das soll ein ernstes Treffen über meine Gefühle und das Leben werden, oder nicht? Da passt ein Themenwechsel zu einem Videogame nicht ganz in den Rahmen.
„Sie haben es echt nett hier." Von seinen irritierten Zügen her, korrigiere ich meinen Kommentar entsprechend. „Du hast es echt nett hier, entschuldige. Die Einrichtung gefällt mir."
Ich beiße mir auf die Lippen, spüre eine unangenehme Stille zwischen uns aufkeimen. Mein Blick wandert über das Büchergestell und die anderen weißen Möbel. Was die Dekoration angeht, versteht er sich im Minimalismus zu üben. Einige Lampen in Form von vertikalen Balken haften wie abstrahierte Tropfsteine an den Wänden, ansonsten sind die meisten Oberflächen leer. Dunkelblaue Vorhänge für die Fensterfront runden das Ganze ab.
„Das freut mich. Quinn Viridi, meine Partnerin, kümmert sich hervorragend um die Innenausstattung", entweicht es Silvano Quispe mit einem zufriedenen Lächeln.
„Ihre Partnerin? Geschäftlich oder privat?" Ich frage nicht aus romantischem Interesse, sondern zur Sicherheit. Wenn sich noch mehr Psychologinnen und Psychologen auf diesem Gelände befinden, kann ich bei Bedarf hin- und herwechseln. Damit bleibt mir die Möglichkeit zur Flucht vor Konfrontation, sollte ich sie für Nötig erachten.
„Geschäftlich." Er räuspert sich, als würde sein Kopf einem Protokoll folgen, welches ihn für den nicht ganz regelkonformen Verlauf unserer Bekanntschaft tadelt. Schließlich soll es in der folgenden Stunde nur um mich gehen. „Möchtest du etwas zu trinken?"
„Wird unsere Unterhaltung denn lange genug dauern, dass ich durstig werden könnte?", stelle ich eine Gegenfrage und ernte ein warmherziges Lachen meines, mit großer Wahrscheinlichkeit aus Südamerika stammenden, Gegenübers.
„Das kommt ganz auf dich an. Du bist meine letzte Patientin." Der junge Mann setzt sich auf, um einen Meter weiter vor einem Minikühlschrank in die Hocke zu gehen.
Ich streiche mir nachdenklich übers Kinn. „Also übergebe ich Sie am besten möglichst früh in den Feierabend. Den erhoffen Sie sich bestimmt schon lange." Wenn der Smalltalk nicht allmählich ein Ende nimmt, schlafe ich vor dem Abendessen in diesen Kissen ein. Somit schadet es bestimmt nicht, eine passende Zukunft in die Gänge zu leiten.
„Ach, mach dir darüber keine Sorgen", meint Silvano Quispe abwinkend und meine Hoffnungen und Träume zerspringen klirrend laut in meiner Vorstellungskraft. „Lass uns lieber über dich sprechen. Wie geht es dir? Gefällt dir das Internat? Oh, und ehe ich es vergesse: Möchtest du eine Limo? Etwas Anderes kann ich leider nicht anbieten."
Ich strecke meine Hand nach dem Glasbecher aus und der Psychologe überreicht in mir breitwillig. Fasziniert betrachte ich den wiederverwendbaren Strohhalm, beobachte, wie die hellgelbe Flüssigkeit bei meiner Bewegung kleine Wellen schlägt.
„Mir geht es gut, danke der Nachfrage. Die frühen Weckzeiten sind ein wenig gewöhnungsbedürftig, aber sonst kann ich mich nicht beschweren. Wie läuft's bei Ihnen?" Ich schaffe es einfach nicht, bei dem Du zu bleiben. Stattdessen liegt mir jedes Mal das Sie auf der Zunge.
„Auch gut, danke. Hör mal", beginnt er und holt einen Notizblock hervor, „bisher fehlen bei dir noch einige Angaben, was den Grund deiner Anreise betrifft. Es stört dich doch nicht, wenn wir sie kurz durchgehen?"
Und wie mich das stört. Ich hieve die Beine hoch, schlinge die Arme um sie und schmiege meine Wange gegen das rechte Knie. „Da kann ich Ihnen leider nicht weiterhelfen. Sie müssen sich an meinen Vater wenden."
Ich schiele zur Decke. Angst schnürt mir die Kehle zu. Finden sie heraus, was tatsächlich vor sich geht, darf ich bestimmt nicht mehr bleiben.
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