21. Einkaufen für Profis
„Jace mag seine Suppe vermutlich nur, solange er nicht den achtzigprozentigen Pilzteil kennt."
Aisha und ich kurven mit einem Einkaufswagen durch den örtlichen Supermarkt. Eigentlich nennt sich meine heutige Schicht Küchenhilfe, aber da anscheinend keine Zutaten für die zugehörigen Aufgaben vorhanden sind, hat mich Aisha kurzerhand ins Dorf geschleppt. Mit einer ellenlangen Liste bewaffnet, ziehen wir unförmige Runden durch die kilometerweiten Reihen gleicher Regale.
„Wenn er so heikel ist, warum erzählst du mir dann diese äußerst wichtige Detail? Was, wenn ich es ausplaudere?", frage ich spielerisch drohend und sie lacht. Wir biegen in den Gang für die Süßwaren ab. Etliche Schokoladensorten kämpfen mit ihrem bunten Design um unsere Aufmerksamkeit.
„Zum einen würde er dir sowieso nicht glauben und zum anderen..." Überdeutlich breitet sich in ihren Zügen eine Erkenntnis aus. Ihr Mimik widerspiegelt die Hektik nach der Suche eines weiteren Argumentes. Geschickt nutzt sie die Sprechpause, um sich eines zu überlegen.
„Zum anderen", beginnt sie von neuem, „hetzt du die Meute nur gegen dich selbst auf, weil sie mich für zu liebenswert halten, als dass ich sie hintergehen würde." Wie wenn sie als Kindergartenkind eine unschuldige Blume imitieren wollte, spreizt sie alle zehn Finger kurz unterhalb ihres Kinns zu einem Fächer. Sie sieht mehr als lächerlich aus. Ein Prusten kann ich nicht unterdrücken.
Dann besinne ich mich, setze meine ganze Konzentration auf die Figur, die ich seit den letzten Sekunden spiele. „Verstehe", meine ich ernst. Theatralisch seufze ich. „Dann lohnt sich das wirklich nicht." Irgendwie komme ich mir wie Freddy aus iCarly in der Folge vor, in der sie Twilight parodieren. Sein Gesichtsausdruck und meiner sieht in etwa gleich übertrieben dramatisch aus.
„Soll ich Fruchtgummis mitgehen lassen?" Aisha deutet auf einen Karton voller verschiedener Verpackungen.
„Aber nur die ohne Gelatine", bettle ich mit Schmollmund und urplötzlich wird mir klar, warum das kleine Mädchen von gestern einen solchen Narren an Aisha gefressen hat. Mit ihr macht man ständig Witze, fühlt sich leicht und geborgen. Was man sagt, stellt sich als unwichtig heraus, solange die Heiterkeit, die uns umgibt, weiter ankurbelt wird.
„Und die bezahlst du, richtig?", hake ich sicherheitshalber die genaue Bedeutung ihrer Frage nach. Immerhin vergesse ich schlecht den wahren Grund ihrer Anwesenheit. Nur wer im Namen des Gesetzes etwas Unrechtes getan hat – oder wie ich unabsichtlich zwischen die Spalten der Bürokratie gerutscht ist – besucht das Internat in Nottingen. Da es sich bei mir um einen Einzelfall handelt, gehe ich bei Aisha von der ersten Möglichkeit aus.
„Sicher", bestätigt die Angesprochene und ihre Haltung spiegelt die gefundene Bedeutsamkeit wider, die sich auch in meiner zeigt. Erleichtert trete ich an die veganen Kekse heran, fahre mit dem Finger über die mit schwarzem Marker beschriebenen Kisten.
„Du weißt es vielleicht nicht", fängt Aisha an, „doch seit ich diese Anstalt mein Zuhause nenne, denke ich äußerst selten daran, meine Fehler zu wiederholen."
„Das freut mich für dich." Ich lächle, mir durchaus des Endes der naiven Glückseligkeit bewusst. Manchmal muss man die Blindheit gegenüber der Wahrheit ablegen, alle Mauer niederreißen und über die Untiefen der eigenen Person reden, vor der man sich so gerne drückt. Vielleicht eignet sich ein anderer Tag besser hierfür.
„Wie wär's mit denen?" Ich greife nach sauren Gummistangen, die mich der Form nach an kleine Pommes erinnern.
„Oder die?" Die Bio-Sporte schüttelnd, als machte ich die Qualität am Geräusch aus, tapse ich von einem Fuß auf den anderen.
Aishas bekanntes Schmunzeln taucht auf ihren Lippen auf. Geschickt entwendet sie mir simultan beide Produkte. Ohne sie genauer zu betrachten, wirft sie sie auf den Haufen der bereits eingesammelten Waren.
„Am besten, wir entscheiden uns nicht. Dann müssen wir alle kaufen", gibt sie das ausschlaggebende Argument und ich nicke einverstanden.
Gemütlich fahren wir zur Kasse und laden alles auf die Ablage. Tasche um Tasche fülle ich, während Aisha eine Kreditkarte hervorkramt. Zum Glück steht Aishas Handwagen noch immer am Eingang, womit die Schlepperei möglichst kurz ausfällt.
„Eigentlich wünsche ich mir bloß einen Morgen der Ruhe, ohne Reise, ohne Wanderung durch die halbe Weltgeschichte", jammere ich, mich erschöpft am Griff anlehnend. Mein Schlafrhythmus findet dieses ständige, frühe Aufstehen gar nicht toll. Deshalb rächt er sich und kitzelt meinen Gedärmen, die sich wie ein langer Wurm in meinem Bauch winden. Das gibt zukünftige Blähungen. Mehr füge ich dem nicht hinzu.
„Obwohl der schlimmste Teil überstanden ist, wagst du es, dich zu beschweren. Das wird Konsequenzen mit sich bringen, junge Dame!" Aisha zwickt mich erbarmungslos in die Wange, vergrößert mein zugegeben nicht ganz ernst zu nehmendes Leiden. Ein Schmerzenslaut entweicht mir. Mit erhobenem Haupte stoße ich das vollgepackte Gefährt demonstrativ einige Meter voraus Richtung Parkplatz.
„Ich bin gleich zurück", verabschiedet sich Aisha. Winkend joggt sie in eines der angrenzenden Läden und steht bereits nach wenigen Minuten wieder mit einer undurchsichtigen Tüte vor mir.
Erst bei der Fahrt in der Zahnradbahn streckt Aisha mir den Inhalt schüchtern entgegen. „Das ist ein kleines Begrüßungsgeschenk."
Aus einem mir unbekannten Grund traut sie mir nicht, in die Augen zu sehen. Als ich die Finger ins Innere stecke und mehrere Nahrungsergänzungsmittelschachteln heraushole, entkommt mir ein Lachen.
„Damit es dir bei uns an nichts fehlt", fügt sie etwas leiser hinzu und ich bedanke mich mit einem überschwänglichen Schmatzer auf ihre leicht geröteten Wangen.
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