2. Zu den Roll-Credits, wenn ich bitten darf
Ich wende mich erneut von dieser bemitleidungswürdigen Gestalt ab, die spätestens mit vierzig eine ernsthafte Existenzkrise zu überwinden versuchen wird, und starre zur Mitte des engen Raumes. Das passiert eben, wenn man sich ständig zurückhält. Entweder man setzt sich damit auseinander, sobald man die Klischeehausfrau mit der von ständiger Säure verätzten Nasenschleimhäute ist oder man rennt bis zum Ende seiner Zeit einer Lüge nach.
Meine einzige Hoffnung besteht darin, sie momentan maßlos falsch zu interpretieren, denn ich halte den ewigen Verleugnungsteil für am wahrscheinlichsten.
Beim Versuch, ihr schädliches Produkt in meinem Rucksack verschwinden zu lassen, ertasten meine Finger den aus Stoff bestehenden Rand meines Notizheftes. Meine Mundwinkel heben sich vergnügt. Sie hat nichts bemerkt. Absolut gar nichts.
Als ich mich yogamäßig in ihre Richtung strecke, fällt mir ‚ausversehen' eine biologische, nicht gesundheitsschädliche Version ihres entwendeten Gegenstands herunter. Und wie es der Zufall will, landet es in dem gigantischen Spalt ihrer Monstertasche.
Dafür kann sie mir später danken.
Ich rolle einige Mal mit meinen Schultern, um der Bewegung mehr Glaubhaftigkeit zu verleihen. Nach mehreren knacksenden Knochen ziehe ich das dünne Heft mit dem samtigen Cover hervor und berühre gespielt nachdenklich das Titelblatt.
Das Kleinkind beobachtet die Ketten an meinem Handgelenk einen Moment lang neugierig, bevor es einen kleinen Stoffgiraffen vom Polster nimmt und seiner Mutter entgegenstreckt.
"Schön, Olli", meint sie, weiterhin in ihrem Magazin blätternd. "Spiel allein weiter, hm?"
Sie bemerkt nicht, wie sich die Traurigkeit in das rundliche Gesicht ihres Sprösslings schleicht. Bitte nicht weinen, denke ich und schenke ihm ein schiefes, nervöses Lächeln. Nicht mehr lange und wir haben das obere Ende der Bahn erreicht. Da brauche ich keine Heulaktion kurz vor dem Ziel.
Glücklicherweise reißt sich der Junge zusammen und die Röte verschwindet von seinen Wangen. Er setzt sich neben seine Mutter, wo die kurzen Beine herunterbaumeln, bevor er seelenruhig mit seinem Plüschtier weiterspielt. Was für ein Engel. Wäre ich nicht noch minderjährig, ich hätte ihn sofort adoptiert. Wobei seine Mutter das natürlich gar nicht toll fände und sich endlich für das Wohl von jemandem einsetzten würde.
Ich wende mich von ihm ab und betrachte unauffällig die anderen Passagiere. Die meisten sind mit dicker Skiausrüstung ausgestattet. Kaum jemand hat Gepäck dabei, erst recht keines, das mehrere Kilos wiegt. Tatsächlich bin ich die Einzige, die einen Koffer davon abhalten muss, durch den engen Raum zu rollen. Das sollte mich eigentlich nicht verwundern.
Vermutlich sind die Leute hier, weil sie ein paar Tage Sportsferien machen. Nur ich nicht. Mein Vater hat mich überredet, in dieses seltsame Camp ans Ende der Welt zu reisen. Und damit meine ich kein Kaff oder so. Vielmehr befindet es sich auf der oberen Spitze der hiesigen Bergkette. Ganz allein. Ohne zusätzliche Gebäude in der Nähe.
Und ich bin so dumm gewesen, nicht nachzuschauen, welches Wetter mir hier begegnet.
Ich gähne. Irgendwann wird mich mein Schlafrhythmus umbringen. Das weiß ich genau. Zuerst würde ich ihn aus meinem Kopf ziehen so wie bei Locke & Key, um ihn zu entfernen. Ehe ich mich versehe, schleicht er sich an mich heran wie ein lebendig gewordener Zombie und ersticht mich von hinten. Ich lache leise. Wie bin ich denn auf diesen Blödsinn gekommen?
Konzentriert versuche ich meine eigenen Gedankengänge nachzubilden. Allzu weit schaffe ich es nicht, weswegen ich die Schuld kurzerhand auf die Dauer meiner Reise schiebe.
Wie viele Zeitzonen sind das mittlerweile? Sicher acht oder neun. Wieder ein Gähnen.
Der Mann am Fenster beobachtet mich mit einem wachen, mahnenden Ausdruck. Ja, ich gebe es zu. Mein Koffer ist bereits drei Mal gegen sein Schienbein geknallt. Und das tut mir auch schrecklich leid, aber ich kann nichts dafür, wenn die Gondel bei jedem zweiten Mast schwankt als imitiere sie ein winziges Boot in einem gigantischen Sturm.
Ich behalte mein Bitch-Face bei – eine echt hässliche Bezeichnung für entspannte Gesichtszüge, aber was soll's – und gehe durch die ersten Seiten des Buches auf meinem Schoss, betrachte die schwungvollen Überschriften in der Mitte und die zahlreichen Gedankenblasen, die sich darum kräuseln wie zarte Blätter einer Kletterpflanze.
Die Chroniken meines Lebens, ein Tagebuch, das außer mir niemand auf der Welt zu verstehen vermag, mein Mindmap der Klischees.
Es richtet sich nicht nach Schlüsselereignissen, sondern einzig und allein den vorprogrammierten Momenten, die so übertrieben häufig sind, dass sie bereits seit Ewigkeiten an Originalität verloren haben.
In ihnen finde ich die Kraft, mich an das Besondere zu erinnern. Ein Ausweg, entstanden durch ein Klischee, eine frische Brise voller Überraschung, die neue Erkenntnisse hereinweht.
Denn auch im goldenen Käfig zu chillen kann stilvoll sein.
Lächelnd wende ich mich einer neuen Doppelseite zu. Der zukünftige Abschnitt wird ganz anders werden als der frühere. Das weiß ich genau.
Ein Neuanfang wie er im Buche steht.
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