17. Grässliche Wecktöne und unterdrückte Wutanfälle

Die zweite Nacht entwickelt sich zu einer weitaus schlimmeren Erfahrung als die erste. Der Schock sitzt tief, das kann ich nicht verleugnen. Mit pochendem Herzen taste ich nach dem Schalter meiner Nachttischlampe und hole mein Mindmap der Klischees hervor. Nachdenklich fahre ich über die kryptischen Gedankenblasen, während die Wut auf mich selbst unerträglich wird. Irgendwann halte ich es nicht mehr aus, höre sogar Ivanas Stimme zischen: „Genug mit dem Bashing. Ich weiß genau, wofür deine Skizzen stehen. Du siehst uns und hast Vorurteile, gib's doch zu!"

Mit diesem Schlusssatz reicht es mir endgültig. Ich pfeffere das Notizheft mit dem samtig weichen Cover in die nächstbeste Ecke, lösche das Licht und drehe mich auf die andere Seite des Bettes.

Einige Stunden später reißt mich das ohrenbetäubende Geräusch von Lindas Wecker aus dem Schlaf. Müde reibe ich mir die verklebten Augen. Ein Stich zieht sich durch meinen Körper. Zuerst möchte ich ihn auf die letzten Vorkommnisse schieben, doch dann erinnere ich mich an das momentane Datum zurück. Mitte des Monats. Meine übliche Zeit der Frustration. Nicht nur der Hormone wegen. Es kommt die Rote-Beete-/Erdbeersaison auf. Also meine. Nicht die allgemeine.

Oh, das reimt sich ja!

Entmutigt stoße ich Luft aus meinen Lungen. Am liebsten würde ich den alten, mechanischen Störenfried neben Lindas Bett aus dem Fenster werfen, so wie es sich die klischeehaften Hauptpersonen mit einem Anfang wie diesem wünschen. Schließlich gehöre ich anscheinend zu ihnen.

In meinem Fall beginnt nur ein normaler Tag in einer Anstalt für jugendliche Straftäter mit diesem Szenario und nicht gleich meine Lebensgeschichte. Ich meine, welche Aussagekraft hätte das? Es bedeutet äußerst wenig, wenn man morgens wach wird. Wo ist da die persönliche Note oder der Nervenkitzel? Noch schlimmer finde ich es, wenn nach der Erwähnung des Weckers eine Beschreibung des Aussehens über einen Spiegel folgt. Deswegen lasse ich das in diesem Zusammenhang gekonnt aus.

„Gianna, geht es dir nicht gut? Du wirkst blass." Ich zucke bei Lindas Nähe zusammen, als sie ihre Hand auf meine Stirn legt.

„Ich glaube, Fieber können wir ausschließen. Und das Essen wird es auch nicht gewesen sein. Sonst sähe ich genauso aus wie du." Dem Hasen vor einem Fuchs gleich schiebe ich die Bettdecke zur Seite, stehe auf und krame nach neuen Anziehsachen, den Blick stets auf Linda gerichtet.

„Wenn du nicht magst, musst du nicht ins Dorf gehen. Der Förster nimmt Hilfe sowieso schlecht an", spricht meine Instruktorin weiter. Mit ihrer letzten Aussage schafft sie es tatsächlich, mich von meinem Zwiespalt abzulenken und mein Interesse zu wecken.

„Gib ihr ein paar Minuten. Nicht jeder ist bereits nach wenigen Minuten geistig bei uns", versucht sich Ivana an einer Erklärung. Mit unnötigem Hüftschwung stolziert sie Richtung Bad.

„Nicht jede und nicht jeder und auch niemand dazwischen." Die Korrektur entweicht automatisch meinen Lippen. Ehe die Tür ins Schloss fällt, ertönt Ivans theatralisches Seufzen.

„Allzu krank scheinst du jetzt nicht gerade", durchdringt ihre Stimme die dünnen Wände und ob ich will oder nicht, in diesem Punkt gebe ich ihr recht.

Also zwinge ich mich nach einem ausgiebigen, veganen Frühstück mit den anderen in die Waschküche. Endlich lüftet sich die Frage, wohin der einzige Weg neben den Treppen hinführt.

Eine Art Zahnradbahn schwebt mir in keiner meiner Vermutungen vor, was die Überraschung ihrer Existenz umso grösser macht. Gemeinsam mit Aisha, Linda und Ivana setze ich mich in ein freies Abteil.

„Steven fährt uns hin und her. Er ist ganz okay, finde ich, vielleicht ein wenig grimmig manchmal. Angeblich soll er voll auf Eierlikör stehen. Falls du also mal was von ihm brauchst, weißt du jetzt, womit du ihn am besten bestechen kannst", erklärt Linda schelmisch. Sie zeigt auf einen angrenzenden, kleinen Raum mit breiten Fenstern, aus dem der violetthaarige Mitarbeiter heraustritt. Seine Mütze richtend kommt er auf das Fahrzeug zu. Routiniert schließt er alle Türen, kontrolliert, ob unsere Namen mit denen auf einem Blatt an seinem Klemmbrett übereinstimmen und kehrt zu seiner gläsernen Hütte zurück.

„Anhand der Chips in unseren Kleidern erkennt er, wann wir einen Abholdienst brauchen." Linda schlägt die Knöchel auf dem gegenüberliegenden Polster übereinander. Ein neuer Gedankenblitz spiegelt sich in ihrer plötzlich geraden Haltung wider. „Oh! Das mit den Chips habe ich noch gar nicht erwähnt, die..."

„Davon weiß ich schon, danke", unterbreche ich sie mit einem entschuldigenden Lächeln. Entschuldigend, weil sie sich immer so um ein Gespräch mit mir bemüht und ich es hiermit willentlich beende.

„Verstehe." Sie wendet sich ab, interpretiert meine Antwort nicht nur auf oberster Ebene, sondern auch auf denen darunter, was mich erleichtert. Im Moment kann ich einfach nicht die Soziale mimen, für die alles in bester Ordnung ist. Nein, das stimmt nicht. Eigentlich könnte ich schon. Aber das wäre unfair meinen eigenen Gefühlen gegenüber.

So erreichen wir das Ende der Fahrt im Stillen. Dank der Wegbeschreibung des Jobangebotes finde ich mich bald auf einem Bus wieder. Die Haltestelle erreiche ich nach wenigen Minuten. Was für ein Glück.

Eine Einkaufsmeile erstreckt sich mir, die Hausschilder gut erkennbar. Die Adresse führt zu einem Laden, in dessen Schaufester sich etliche, geschnitzte Figuren tummeln. Beim Hereingehen begrüßt mich der Klang einer Glocke. Ein muffiger Geruch schlägt mir entgegen, gefolgt von dem von verbranntem Harz. Dann wollen wir doch mal sehen, wie griesgrämig sich der hiesige Waldhüter gibt, oder?

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