16. Von der Haupthandlung unabhängige Erkenntnisse

Wobei diese Unterteilung offenbar ein Update benötigt, denn Ivana setzt sich völlig ungeniert auf Jaces Schoss, weil die Plätze am Tisch enger werden.

„Das stimmt, aber immerhin behalte ich dich dann nicht als Todes-Blick-Mädchen in Erinnerung", reagiert Tristan auf meine Frage, die ich bereits nicht mehr auf dem Schirm habe. Wegen Aisha hake ich nicht weiter nach, ob er mit der Bezeichnung auf unsere erste Begegnung anspielt. Stattdessen halte ich ladylike den Mund – übrigens genauso frauenfeindlich wie das „Resting Bitch Face". Wörtlich übersetzt heißt es ja eigentlich nur „eines weiblichen Wesens gleich" und das bin ich so oder so, egal wie viel ich spreche oder wie ich mich verhalte.

Ich lächle Tristan an, was Ivana natürlich falsch versteht. „Mach dir trotz seiner Freundlichkeit keine Hoffnungen", sagt sie und begutachtet gelangweilt die Steine auf ihren rot lackierten Nägeln. „Der ist Hals über Kopf in eine andere verliebt."

„Ach, ja? In wen denn?", erkundigt sich Linda neugierig. Seltsam, dass sie heute Abend so ruhig bleibt und kaum etwas zur Konversation beiträgt. Von gerade eben einmal abgesehen.

Ivana streicht sich in einer energischen Bewegung die dunklen Haare nach hinten. Sie bemerkt nicht, wie sie ihrer linken Nachbarin – also mir – die Lockenpracht entgegenschleudert. „Dieses Mädchen mit ,K', nicht? Kira oder Kenia oder so."

„Keira", korrigieren sie Tristan und Aisha gleichzeitig. Belustigt schaue ich vom einen zur anderen. Die Wangen beider röten sich leicht.

„Du kennst seine Angebetete?", frage ich und löse meine Zöpfe. So wie's aussieht, werden sie sonst bis in zwei Wochen noch feucht bleiben und das ist bei den hiesigen Temperaturen mehr als unangenehm.

„Nein, eigentlich nicht." Tristan lehnt sich zu Aisha und stupst ihr liebevoll in die Nasenspitze. „Sie ist nur eine gute Zuhörerin. Das ist alles."

Lindas Schniefen unterbricht den Moment. „Genug der Sentimentalität", verkündigt sie und deutet auf das mit Sicherheit selbst gebastelte Spielbrett. „Fangen wir an!"

Ein Raunen geht durch unsere Gruppe, bevor Tristan die drei Würfel nimmt und seine rote Holzfigur entsprechend bewegt. Bei jedem Zug folgt eine Drehscheibe mit verschiedenen Themengebieten für zu stellende Fragen.

Kaum bin ich an der Reihe, geht das Getuschel los. „Mache ich etwas falsch?", flüstere ich Aisha zu. Diese schüttelt den Kopf.

„Sie überlegen sich, was sie am brennendsten interessiert." An ihrer Kette zupfend, wartet sie genauso gespannt auf die Entscheidung der anderen wie ich.

„Welche Straftat hast du begangen, um hier zu landen?", enthüllt Ivana endlich die Wahl aller. Irritiert blinzle ich. Was? Wovon spricht sie?

„Na welches Verbrechen, du Schlaubergerin." Wenn mir dieser Zusatz weiterhelfen soll, so vertut er seinen Zweck um Längen.

Und dann macht es plötzlich Klick. Hierbei handelt es sich nicht um das Internat für reiche Schnöselkinder, wie bisher angenommen. Es gibt tatsächlich einen Unterschied zwischen dem Institut in Nottingen und dem in Nottlingen. Dort würde ich tagein tagaus mit einem Früchtespieß an einem riesigen Pool herumhängen, umgeben von Bediensteten, die sich nach meinen Wünschen erkundigen, doch hier wirke ich tatkräftig in diesem anderen, neuen Projekt mit. Das, in dem junge Kriminelle ihren verursachten Schaden über Arbeitsstunden kompensieren, weit entfernt von jeglicher Zivilisation und nur von den ausgewählten Personen bewacht, die zu den Organisatoren oder ihren Vorgesetzten gehören. Mit einem Mal sehe ich meine Mitmenschen in einem ganz neuen Licht.

Sie stimmen nicht mehr mit Gleichgesinnten überein, nicht im Geringsten.

Diese Jugendlichen sind wandelnde Bomben und ich reize sie mit meinem waghalsigen Verhalten, als würde ich mich freiwillig zu ihrer Zielscheibe ernennen wollen. Mit jedem Widerwort, jedem sarkastischen Spruch grabe ich mir tiefer mein eigenes Grab. Meine Lider weiten sich. Was habe ich mir bloß dabei gedacht?

Gar nichts, gestehe ich und das macht das Ganze nicht weniger schlimm. Blut pumpt wie wild durch meine Venen. Übelkeit kratzt an den Innenwänden meines Rachens. Ich schlucke schwer.

„Alles in Ordnung, Gianna?" Aisha berührt mich besorgt an einer Stelle nahe meinem Ellenbogen. Ich weiche zurück, unentschlossen, was ich nach dieser Erkenntnis von ihr halte.

„Ich bin hier, weil mein Vater ein Idiot ist", erwidere ich nach einer gefühlten viertel Stunde voller erwartungsvollem Schweigen. Jedenfalls was die anderen angeht. Für mich zeigen sich diese wenigen Sekunden als eine Qual der besonderen Art.

Nicht nur mein Vater widerspiegelt grenzenlose Dummheit, ich tue es ebenfalls. Und dafür verdiene ich es schon fast, anstatt bei einem Camp für unbändige Arrogante, in einem für Gesetzesbrecherinnen und Gesetzesbrecher zu landen. Denn wie sonst erkläre ich, warum ich meinen bisherigen Aufenthalt zwar teilweise für seltsam, aber grundsätzlich für normal gehalten habe trotz überlauten Gegebenheiten, die das Gegenteil andeuten.

„Nicht so wage!", ruft jemand aus. „Unsere Regeln besagen eine klare Antwort."

Mir bleibt nichts anderes übrig, als die Hände vors Gesicht zu schlagen. Wie blind, wie ahnungslos ich doch bin. Genauso schlimm wie andere klischeehafte Protagonistinnen.

„Lass es gut sein." Aisha schiebt die Aufmerksamkeit von mir weg, nimmt mich in Schutz, obwohl meine Bedenken sich offensichtlich auch gegen sie richten. Dabei würde ich es ihr nicht einmal verdenken, wenn sie zu einem grölenden Gelächter ansetzte, um mich zu verspotten, so blöd komme ich mir vor.

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