15. Truth or Dare, echt jetzt?
Ich seufze. Den Kommentar verdiene ich definitiv. „Okay."
„Okay, was?", fragt Aisha, während sie mir zwei meiner vier Karten zur Einsicht kurz umdreht. Rote sechs. Schwarze Dame. „Die musst du dir merken und die anderen beiden herausfinden, indem du sie bei einem Buben wunschgemäß tauscht, bei einer Dame ansieht und tauscht. Die Person mit der tiefsten Summe gewinnt, wobei das Ass die kleinste Zahl und der rote König als minus vier gilt."
Die kurze Einführung hoffentlich richtig interpretierend, nicke ich zögernd. „Ich verspreche deine Weisheiten von jetzt an umzusetzen." Den lästigen Blick von Jace und seinen Freunden spüre ich im Nacken, während ich zu meinem ersten Zug ansetze.
„Gut", meint Aisha knapp und hält mich von meinem Fehler ab. „Die Spezialfähigkeiten gelten nur, wenn du die Karte direkt vom Stapel herhast. Nicht, wenn du sie bereits besitzt. Zieh lieber und entscheide, was du behalten möchtest und was nicht."
Übertrieben empört schnappe ich nach Luft. „Du schaust mir auf die Karten? Wie überaus unorthodox von dir!"
„Wenn du jemandem helfen möchtest...", beginnt sie und ihre Augen wandern dabei über die Gesichter mehrere Anwesenden. „... dann geht das nur, wenn du dich mit ihrem gegebenen Zustand auseinandersetzt."
Es ist kein Geheimnis, dass wir uns über weit mehr als nur die Einführung dieses Spiels unterhalten. Eine Gänsehaut breitet sich unwillkürlich auf meinen verschränkten, halbnackten Beinen aus.
Von einem Wimpernschlag auf den anderen komme ich mir wie in einer dieser pseudotiefgründigen Jugendliteratur vor, in denen ein völlig unschuldiges Mädchen – und damit meine ich eines, das den offensichtlichen Loveinterest nicht bemerkt und seitenweise über die eigene Kleiderwahl plaudert – auf eine abgefahrene Party geschleppt wird, um so was „krasses" wie Wahrheit oder Pflicht zu spielen. Nicht nur After, sondern auch etliche unpublizierte Werke fallen mir dazu in den Sinn. Über eine Kussjagt im Wald, zu sieben Minuten im Himmel und moralisch fragwürdige Wetten sind Pubertierenden keine Grenzen gesetzt. Auch nicht betreffend Ausnutzung, sowie körperlichen und mentalen Missbrauchs eben dieser ahnungslosen Hauptperson. Leider.
Wie ich diese Geschichten verabscheue. Aber das ist ein ganz anderes Thema. Wo soll meine Überlegung schon wieder hinführen? Ach, ja! Kurz vor das bittersüße, dramatische Ende. Da findet unser liebenswertes Naivchen nach einigen Knutschereien die wahre Identität ihres Liebhabers heraus. Dieser entlarvt sich als jemand mit genauso berüchtigt schlechtem Einfluss wie von Anfang an von allen Nebencharakteren erwähnt. Und dann hat sie den Salat.
Wenigstens für einige, spärliche Kapitel. Als nächstes folgt ein scheinphilosophisches Gespräch über Liebe und wie sie nur bei Aufopferung und Unterdrückung so richtig funktioniert. Oder in deren Worten in der Form: „Ich kann nicht mehr ohne dich leben!", was an und für sich bereits als ziemlich grenzwertig gilt. Ich meine, wenn man nicht selbst für das eigene Glück sorgt, gehört es nicht zu den Aufgaben von jemand anderem, dies zu übernehmen. Liebe sollte etwas sein, bei dem alle Parteien wachsen und profitieren.
Doch davon spricht diese häufig gewählte Handlung nicht. Stattdessen wendet sich aus heiterem Himmel alles zum Guten. Warum auch immer. Probleme lösen sich offenbar heutzutage ganz von allein, aber was weiß ich schon. Schließlich bin ich eine siebzehnjährige Zynikerin. Nach meinem Vater sind das die Schlimmsten von allen.
Ivana holt mich aus meinem gedanklichen Tumult. „Du bist dran", fordert sie mich zum Weiterspielen auf. Und das tue ich. Mehrere Runden lang. Bis ich nicht nur verstehe, was ich mache, sondern auch Gefallen daran finde. Nach meinem zweiten Sieg drehe ich mich langsam Richtung Eingang.
Mittlerweile liegt der Lärmpegel auf einem fast angenehmen Level. Bis auf Jace, seine Freunde und uns sind alle schlafen gegangen. Etwas, zu dem ich mich ebenfalls gerne aufraffen würde, gäbe es denn die Möglichkeit dazu. Bei einer spontanen Fete in den eigenen vier Wänden eher unwahrscheinlich.
„Was feiern wir eigentlich?", entkommt es mir in normaler Lautstärke, jetzt, da schreien keiner Notwendigkeit mehr entspricht. Die Jasskarten werden weggeräumt und ein anderes Spiel ausgebreitet.
„Sie schmeißen ein Abschiedsfest für mich." Beim Klang seiner Stimme nahe meinem Ohr zucke ich zusammen. Leicht genervt wende ich mich dem Jugendlichen zu, der mich bei der früheren Aussage seines Freundes zu besänftigen versucht hat.
Skeptisch runzle ich die Stirn. „Aber wer beschützt dann deine Sippschaft vor angepinselten Menschen wie mir?"
Er gehört zu einer der ersten, die über eine meiner nicht sonderlich ernst gemeinten Sprüche lacht. Und das macht ihn gleich ein wenig sympathischer.
„Die müssen ohne mich klarkommen." Er streckt mir seine Hand hin. „Ich bin Tristan."
„Gianna. Aber mein Name hilft dir nicht mehr sonderlich viel, wenn du sowieso bald abreist, oder?", stelle ich mich der hoffentlich letzten Person dieses Internats vor. Mit den ganzen Namen fühle ich die Überforderung wie eine Sintflut über mich zusammenbrechen. Zum Glück arrangiert mein Schubladen denkendes Gehirn passende Kategorien. Wenigstens dieses eine Mal bringt mir das einen Vorteil.
Da stünden unsere zwei Angestellten – Terry und der Violetthaarige – in einem Bereich, dann die Mädchentruppe mit Aisha, Linda und Ivana in einem anderen und zuletzt befinden sich zwei dieser fünf jungen Herren irgendwo abseits in den hinteren Winkeln meines Gedächtnisses.
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