12. Immer dieses Äußerliche
Unauffällig gleitet mein Blick einen Moment lang über den Jugendlichen vor mir. Wenn ich Glück habe, versteckt sich unter seinem Hoody kein klischeehaft durchtrainierter Körper, keine restliche Vollkommenheit zu den sonst so idealen Gesichtszügen, sondern eine schlaksige, vielleicht auch durchschnittliche Statur. Hauptsächlich wünsche ich es mir, weil ich Makel an Menschen mag, weil uns das verbindet und einander nahbar macht.
Kaum jemand sieht sich selbst als perfekt an. Traut man die eigenen Fehler jemand anderem an, handelt es sich um eines der schönsten Geschenke von Vertrauen, das ich mir vorstellen kann.
Lächelnd übernehme ich die zu erledigenden Aufgaben, die Erinnerungen bei früheren, intimen Beziehungen. Die Zeit vergeht wie im Flug, während ich die Stille und die physische Arbeit genieße, bis mir die Beine vom langen Stehen schmerzen.
Aisha weckt mich aus meinem entspannten, geistigen Trott. „Hallo Gianna!", begrüßt sie mich gut gelaunt. Sie zieht einen kleinen Wagen voller Einkaufstüten in Richtung eines Liftes. „Hilfst du mir kurz?"
„Darf ich denn?" Immerhin habe ich mich für die Wäschereischicht eingetragen, um sie tatsächlich anzutreten. Da sollte ich vermutlich nicht mittendrin einfach aufhören.
„Aber klar doch", versichert mir Aisha. „Man wird pro Stunde bezahlt, also ist es dir freigestellt, wie viele du leisten möchtest. Außerdem ist ein Mittagsessen inklusive."
Ich falte die letzten zwei Tücher, dann hole ich zu ihr auf. „Verlangst du gerade von mir, meine Pause für dich zu opfern?", frage ich gespielt ernst und sie lacht.
„Wenn es dich so sehr stört, kannst du es als Küchendienst eintragen."
Die Tür geht zu. Es ruckelt kurz, schon gleiten die Scheiben erneut zur Seite. Logisch betrachtet nicht verwunderlich, wo wir doch fürs Erdgeschoss nur ein Stockwerk hochfahren.
Ich trete zuerst heraus, damit Aisha mit ihrem Schwertransport besser an mir vorbeikommt. „Was hast du eigentlich mit Jace gemacht? So mürrisch zeigt er sich eher selten."
Verwirrt lege ich den Kopf schief. „Wer?", hake ich nach.
„Der hochgewachsene Braunhaarige mit den blauen Augen, meine ich. Hast du ihn auch auf seinen ökologischen Fußabdruck hingewiesen?" Aisha bleibt stehen und betrachtet mich nachdenklich. Der Name des Schönlings hört sich English und mysteriös an. Na wunderbar.
„Nicht ganz, nein." Ich reibe mir die Arme. Hier oben fröstelt es mir leicht. Ob das an einem offenen Fenster liegt? Wenn dem so ist, sollte ich es schließen gehen, um einen unnötigen Energieverbrauch zu verhindern.
„Sondern?" Aisha lächelt mir auffordernd zu. Bis zum Speisesaal sind es keine zehn Meter mehr und trotzdem führt sie dieses Gespräch mitten auf dem Gang.
„Ich habe ihn vom Rauchen abgehalten", bringe ich sie auf den aktuellen Stand. Ihre Mimik verrät mir eine mögliche Moralpredigt oder etwas in der Art, also übernehme ich schweigend den Wagen und stoße ihn bis kurz vor den Kühlschrank. Aisha lässt sich davon nicht beirren.
„Du setzt dich sehr für die Umwelt ein, oder?" Ich nicke knapp. Wer mein Bestreben nach einer zukünftigen Welt nicht bemerkt, kennt mich ganz offensichtlich nicht. Also überhaupt nicht. Denn dummerweise – oder glücklicherweise – je nach Ansicht, unterscheidet sich meine „extreme politische Meinung" so ziemlich bei jedem Diskussionsthema von dem der Anderen. Und sollte ich doch jemanden finden, der mir in einem Punkt zustimmt, so gibt es bestimmt einen anderen Bereich, in dem wir uns in die Haare kriegen würden. Keine Ahnung, ob das jetzt einer realistischen oder doch eher einer pessimistischen Aussage entspricht.
„Und möchtest du andere Menschen von deiner eigenen Auffassung überzeugen?" Wieder bejahe ich still, ehe ich die Früchte auspacke und in eine Schale stelle, die mir Aisha entgegenstreckt.
„Weißt du...", beginnt sie, eine leichte Röte im Gesicht. „...Es ist nichts Verwerfliches daran, den eigenen Standpunkt preiszugeben. Ehrlich gesagt ist Kommunikation sogar das A und O jeder Beziehung. Aber genau das stellt der Knackpunkt dar." Geschäftig holt sie die Milchprodukte aus einer olivfarbenen Kühltasche. In einem Wesenszug kann man sie deutlich von Linda abgrenzen: Sie macht tatsächlich Sprechpausen in ihren Monologen.
„Wenn du keine Beziehung aufbaust, gehören deine Worte zu der einer fremden Person. Sie prallen wirkungslos ab. Kommt es ganz schlimm, werden sie sogar als Beleidung oder Einmischung wahrgenommen." So wie heute morgen. Ja, ich verstehe, worauf Aisha hinausmöchte. Bis zu diesem Zeitpunkt habe ich den Streit mit Ivana fast vollständig vergessen. Oder verdrängt. Je nach dem.
Denn in jedem von Wut geprägten Ausbruch schlummert ein Funken Geständnis. Und Ivana hat recht, wenn sie eine tote Person als die umweltfreundlichste Variante von allen erachtet. Aber nur, wenn dieses Individuum mit absolut niemandem agieren würde, wenn es keinerlei Einfluss auf jemand anderen ausübt. Darin befindet sich der Unterschied zwischen Konzept und Praxis.
Verhindere ich schädliches Verhalten anderer, mache ich meine Existenz lohnenswert – also allein auf die Umwelt und deren Untergang bezogen. Der Sinn des Lebens ist jedem selbst überlassen.
Meiner besteht unter anderem in der Hoffnung, eine genug große Veränderung herbeizurufen, die nicht mehr gestoppt werden kann und ein Umdenken bei noch viel mehr Leuten, sowie eine Besserung unserer Lage zu bewirken.
Womöglich ein Wunschdenken, doch wer gehört schon zu denjenigen, die bei der Idee einer Revolution nicht in Wallungen geraten?
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