#46. Gewissheit
Jetzt oder nie.
So schnell ich konnte, krabbelte ich die letzten Meter auf die Axt zu. Dabei hielt ich den Atem an, fokussierte mich nur auf den Gegenstand drei Meter vor mir. Doch Daniel war schneller als ich. Er schnappte sich vor meinen Augen die Axt und wirbelte damit herum. Wahrscheinlich versuchte er mich zu treffen, aber er verfehlte mich. Holzsplitter flogen durch die Luft, einer bohrte sich in meine Kniekehle. Ich gab einen erstickten Schrei von mir als ich spürte, wie es sich durch meine Haut rammte. Meine Hose wurde an der Stelle sofort rot, ein paar Tropfen Blut tropften auf die Dielen.
„Ich habe gesagt, du sollst dich nicht bewegen!", schrie Daniel fuchsteufelswild. Seine Augen starrten mich an.
„Du..." Ich hielt mich an einer Kommode fest und raffte mich hoch. „Hast mir gar nichts zu sagen."
Mit diesen Worten stürzte ich mich auf ihn.
Wir landeten zwischen den Flammen auf dem Boden, die Axt rutschte ein paar Meter von uns weg.
Ich versuchte ihr hinterher zu krabbeln, aber Daniel packte mich an beiden Füßen und zog mich zurück. Der Schmerz zuckte durch mein Knie. Ich fing wieder an zu schreien.
Dieser Schmerz...
Er war so unerträglich.
Ich setzte dem ein Ende, indem ich mit meinem heilen Bein in Daniel's Gesicht gab, der kurz darauf anfing zu fluchen. Ich sah nicht zurück, ich hatte nicht die Zeit dazu.
Die Axt kam immer näher.
Beinahe konnte ich sie erreichen, meine Fingerspitzen berührten beinahe den Stiel. Daniel zog mich an den Haaren zurück, hievte mich hoch und drückte mich gegen die Wand, seine Hand an meinem Hals. Ich röchelte nach Luft.
„Daniel..."
„Ich lasse nicht zu, dass du diesen Typen liebst!" Seine Stimme bebte.
Langsam merkte ich, wie mir schummrig um die Augen wurde. Meine Hände versuchten vergebens, seine von meinem Hals zu entfernen. Je mehr ich versuchte, sie zu lösen, desto stärker wurde sein Griff.
„Daniel, ich bitte dich..."
Ich kannte diesen Mann nicht. Er war weder charmant, witzig noch ein Gentleman.
All das war verschwunden.
Stattdessen stand nun dieser emotionslose, psychopatische Mann vor mir, der mich gerade erwürgen will. Nichts von seinen guten Charaktereigenschaften.
Dies war nicht mein bester Freund.
„Daniel, bitte...es tut mir Leid, wenn du dich ignoriert gefühlt hast...es war nicht meine Absicht gewesen..."
„Du hast keine Ahnung, was ich durchmachen musste!", schrie er so laut, dass ich zusammenzuckte.
„Ich...k-kriege....k-keine Luft...mehr..." Verzweifelt versuchte ich zu atmen, doch es kam keine Luft und der Griff um meinen Hals wurde immer stärker. Dieser Wille in seinen Augen jagte mir einen Schauer über den Rücken. Mein bester Freund wollte mich gerade umbringen. Ich konnte es nicht fassen. Die Schwärze holte mich immer mehr ein, ich konnte beinahe nichts mehr sehen. Doch Daniel löste ein wenig seinen Griff von meinem Hals.
Ich nutzte diese Chance.
Ich trat ihm volle Kanne in seine Weichteile.
Der Griff löste sich sofort von meinem Hals. Unsanft fiel ich zu Boden, Daniel krümmte sich vor Schmerzen und hielt schützend seine Hände über sein Heiligtum. Ich atmete tief durch.
Luft.
Endlich.
Meine Sicht war noch immer ein wenig schummrig, aber es reichte um ordentlich stehen und gehen zu können. Ich griff nach der Axt. Das Metall war leicht erhitzt, der Schein der Flammen war darin zu erkennen.
Daniel lag noch immer krümmend auf dem Boden. Doch sein Blick war nun auf mich gerichtet. Ich sah die plötzliche Angst in seinen Augen. Reue. Doch für all das hatte ich jetzt kein Verständnis. Dieser Mann, Junge oder wie auch immer, war nicht Daniel. „Bitte, Heaven...", stotterte er als ich einen Schritt auf ihn zumachte. Meine Kniekehle schmerzte noch immer höllisch. Aber ich ignorierte diesen Schmerz und biss mir stattdessen auf die Zunge. „B-bitte, Heaven." Eine Träne rann seine Wange hinab. Ich spürte keinerlei Gefühle für ihn. Es gab nichts.
Ich stand vor ihm, starrte in seine ängstlich aufgerissenen Augen.
„Mir tut es leid, dass es so enden musste", sagte ich mit fester Stimme.
Ich wandte ihm den Rücken zu. Und ging.
Daniel rief nach meinem Namen, rief mir, dass ich sein Leben beenden sollte. Doch ich hörte ihm nicht zu. Er verdiente die Strafe, die alle Psychopaten verdienten. Wahrscheinlich hörte ich mich gerade selber nach einem an. Es war mir egal. Was zählte, war Niall zu retten. Als ich zu der Tür gelangte, hinter der er sich befand, nahm ich die Axt in die Hand.
Okay, Heaven.
Du schaffst das.
Ich schlug einmal zu.
Holzsplitter flogen herum.
Dann noch einmal.
Und noch einmal.
Immer und immer wieder.
Bald entstand ein kleines Loch, durch welches ich schauen konnte. Niall lag regungslos am Boden, das Gesicht zur Wand gewandt.
„NIALL!", rief ich über das Prasseln des Feuers hinweg.
Aber er bewegte sich nicht.
Nein, nein, nein, nein!!!
Panik erfasste mich. Meine Hände zitterten, unkontrolliert schlug ich auf die Tür ein bis ich endlich ein großes Loch hatte, durch das ich hindurchschlüpfen konnte. Ich ließ mich neben ihn auf dem Boden fallen, rüttelte an seiner Schulter.
Aber er bewegte sich nicht.
„Niall, nein..." Eine Träne rann meine Wange hinab.
Ich drehte seinen Körper um.
Seine Augen waren geschlossen. Er atmete nicht.
„Niall, du darfst mich nicht verlassen!" Ich umfasste sein Gesicht, versuchte seine Augen zu öffnen. Aber nichts passierte. Ich versuchte es mit Herz-Lungenmassage. Es regte sich immer noch nichts. Mehr und mehr Tränen rannen meine Wange hinunter, ich sah nichts mehr. „Bitte, wach auf!" Ich vergrub mein Gesicht in seinem Pulli. Mir war egal, ob die Flammen direkt hinter uns waren. Meinetwegen konnten sie uns beide zusammen verschlucken. „Niall", schluchzte ich, „bitte bleib bei mir. I-ich habe die ganze Zeit von dir geträumt...und...und letztens habe ich geträumt, dass wir uns k-küssen. I-ich weiß, du hörst mich nicht, aber...i-ich...liebe dich. Wach auf. Verdammt, wach auf!" Ich weinte, schluchzte und hustete gleichzeitig. Meine Versuche, Niall wieder in die Welt der Lebenden zu bringen, scheiterten.
Er darf nicht tot sein.
Er darf es einfach nicht.
„Niall, bitte!", schrie ich, rüttelte erneut an seiner Schulter.
Mein Herz bekam einen riesigen Riss.
Meine Gedanken schwirrten in meinem Kopf herum.
Das Blut schoss durch meine Adern.
Ich verstand meine Träume. Sie wollten mich schon von Anfang an hier hin führen. Sie wollten, dass ich Niall kennenlernte. Einen charmanten, witzigen und fürsorglichen Kerl mit einer Engelsstimme, wundervollen blauen Augen und einem ehrlichen Lächeln. Sie wollten, dass ich erkannte, was Daniel eigentlich für ein Mensch war. All das hatten sie mir erklären wollen. Jetzt hatte ich beides verloren – meine Freundschaft mit Daniel und Niall.
Ich sah zur Axt.
Sie glänzte im Schein der Flammen.
Vielleicht war sie die Lösung aller Probleme.
Sie konnte jetzt dieser Qual ein Ende setzen.
Sie-
„Heaven...nicht..."
Diese Stimme ließ mich sofort herumfahren.
Niall's Mund stand leicht offen, seine Augen waren noch geschlossen. Aber ich spürte, wie sich sein Bauch unter meiner Hand hob und sank.
Er atmete.
Er war nicht tot.
ER WAR NICHT TOT!
„Niall!" Weinend fiel ich ihm um den Hals. Ein erstickendes, raues Lachen drang krächzend aus seiner Kehle. Eine Hand legte sich auf meinen Rücken. Mein ganzer Körper fing an zu kribbeln.
Ich weinte mir die Seele aus dem Leib.
Noch nie war ich so erleichtert und glücklich gewesen wie in diesem Moment.
Eine gefühlte Tonne an Steinen fiel von meinem Herzen.
„Ich hatte solche Angst um dich!"
„Ich...habe es gemerkt..."
Seine Augen öffneten sich ein Stück, sodass mich ein Teil seiner ozeanfarbenen Augen blendete. Gänsehaut durchzog meinen ganzen Körper.
Er sah sich um.
„Ich glaube...wir sollten...mal langsam raus...oder?"
Ich nickte und half ihm auf die Beine. Wir standen beide zittrig auf dem Boden. Das Blut floss mein Bein herab, Niall warf einen sorgenden Blick darauf. Ich winkte nur ab. Zusammen trugen wir uns gegenseitig aus den brennenden Trümmern.
Es war wie Himmel auf Erden als ich den kühlen Wind um mich herum spürte.
Ich fühlte mich befreit.
Es war toll.
Sanitäter, Feuerwehrmänner und was weiß ich wer sonst noch kamen herangeeilt, trugen uns zu Krankenwagen. Niall's ganze Schar an Kumpels tummelten sich um den Krankenwagen. Ich konnte nichts erkennen. Ein Arzt kümmerte sich um mein Bein.
Alles verlief wie in Zeitlupe.
Die Türen des Krankenwagens, indem Niall lag, schlossen sich.
Doch bevor sie ganz geschlossen waren, erblickte ich das funkelnde Blau und sein kleines Lächeln.
Ich musste ebenfalls lächeln.
Er war noch da.
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