#38. Magie...

Pfeifend schlenderte ich durch den Gang. Keine Menschenseele war hier zu sehen, entweder sie waren alle noch in ihren Zimmern, aßen in der Kantine oder hatten sich in irgendeine Ecke verkrochen.

Aber mein Weg führte mich geradewegs in die Kantine.

Denn ich hatte einen riesen Hunger. Hier wurde man echt unter Zwangsdiät gestellt, es gab noch nicht einmal einen Süßigkeitenautomaten!

Wirklich. Eine Unverschämtheit.

In der Kantine saßen nur ein paar Leute, träumten in ihrer eigenen Welt vor sich hin. So sahen sie eigentlich ganz friedlich aus, aber wenn ich mich an die Stunde von gestern denke...nein. Sie waren ganz und gar keine ruhigen Menschen.

Mit meinem heilen Arm griff ich nach einem Tablett und ließ mir eine Schüssel Cornflakes - heute mal kein Ekelbrei! - darauf stellen. Vorsichtig balancierte ich es auf einen der vielen leeren Tische. Ich ließ mich auf einen Stuhl nieder und fing an zu essen.

„Da hat ja einer Hunger", bemerkte jemand direkt vor mir.

Ich brauchte nicht zu schauen, wer da gerade gesprochen hatte. Das wusste ich auch so.

„Man wird hier auch auf Zwangsdiät gesetzt, da muss man alles essen, was man zwischen die Finger bekommt. Zumindest, wenn man nicht verhungern will", erwiderte ich Schulter zuckend und aß weiter.

Manda setzte sich gegenüber von mir auf den Stuhl und schaute mich einfach nur an. Die Schüssel vor ihr rührte sie nicht mal mit einem Finger an.

Sekunden vergingen...

Minuten...

„Du kommst mir wirklich sehr bekannt vor", sagte sie schließlich.

Ich seufzte. „Ich komme so ziemlich jedem bekannt vor."

„Nein...ich meine, ich habe dich sicherlich schon einmal gesehen", verbesserte sie sich schließlich und verschränkte die Arme. „Aber nicht in irgendeinem Traum oder so...oder?" Manda runzelte verwirrt die Stirn und schüttelte langsam den Kopf. „Neeeein...? Was? Ach egal. Aber ich habe dich auf jeden Fall schon einmal gesehen."

Mich haben schon viele Leute gesehen, na und?, wollte ich sagen, aber verbiss mir diesen Kommentar.

„Und dein Name...Niall...der kommt mir auch sehr bekannt vor."

„Heutzutage hat fast jeder fünfte den Namen Niall."

„Ja, ich weiß, aber...du kommst mir wirklich sehr bekannt vor."

„Nein, tu ich nicht."

„Doch tust du."

„Nein."

„Doch!"

„Wann willst du mich bitte mal gesehen haben?"

„Hm...keine Ahnung, weiß ich ni- OH MEIN GOTT!" Sie sprang hysterisch auf und starrte mich mit aufgerissenen, ungläubigen Augen an.

Okay.

Das hieß auf jeden Fall nichts Gutes.

„D-d-d-d-du b-bist...", stotterte sie überfordert.

Oh nein.

„Ich bin...?", hakte ich fragend nach, obwohl ich die Antwort schon kannte.

„D-d-d-du b-bist Niall...von One Direction OH MEIN FUCKING GOTT!" Jetzt fing sie an zu kreischen, sodass ich mir die Ohren zuhalten musste. „OH MEIN GOTT ICH GLAUBE ES NICHT!"

Und dann kippte sie um.

Im wahrsten Sinne des Wortes.

Sie war einfach umgekippt.

Und ich saß da, völlig geschockt und starrte auf sie herab.

„Ähm...Sanitäter?"

*

„Man ist das peinlich", murmelte sie peinlich berührt und versteckte ihr Gesicht hinter ihren gefärbten Haaren. Ich musste mir krampfhaft mein Lachen zurückhalten, weil die Situation einfach nur zu komisch war.

- und ich verstand sie echt nicht.

Sie war gerade von ihrem Idol eigenhändig in das Krankenzimmer getragen worden, weil die Schwester meinte, sie würde sie nicht getragen bekommen...und dann versinkt sie vor Peinlichkeit im Boden. Sowas habe ich ja auch noch nie erlebt.

„Es gibt schlimmere Dinge, glaub' mir", erwiderte ich und nickte beschwichtigend dazu.

Sie seufzte, und sah mich dann fragend an. „Aber was macht so einer wie du hier in einer psychischen Anstalt?"

„Nur weil man berühmt ist, heißt das nicht, das wir keine Menschen sind, die unheilbar sind oder so. Wir sind wie jeder andere auf dieser Welt auch...wenn auch manche nicht der Meinung sind. Außerdem hat so ziemlicher jeder Promi seine Probleme, manche verstecken sie nur sehr gut."

„Hm...", machte Manda und runzelte die Stirn, „da wirst du wohl recht haben..."

Es trat eine Stille ein, aber mich störte sie nicht.

Ich beobachtete die kleinen Fische, die aufgeregt hin und her schwammen. Für sie war das etwas Unvorstellbares, irgendwann die Weiten des Meeres zu sehen. Sie werden nur durch das dicke Glas des Aquariums sehen können, jeden Tag das Krankenzimmer. Mehr nicht.

Irgendwie war das traurig...

Es machte mich traurig.

Fische sollten frei in der Natur leben, nicht eingesperrt hinter dickem Glas.

Es erinnerte mich an das hier: Eingeschlossen von diesen vier Wänden, umgeben von nichts als Grauem.

Das Leben konnte wirklich traurig sein...

„So, ich bin dann mal", meinte ich schließlich und richtete mich auf. Manda blickte mir mit einem nicht deutenden Blick hinterher, während ich die Tür des Krankenzimmers öffnete und dadurch verschwand. Auf dem Gang war es noch immer leer, aber aus der Entfernung konnte ich eine Stimme hören...

Und ein Klavier.

Da sang jemand.

Wieso hat mir niemand gesagt, dass die hier so eine Art Musikzimmer hatten? Dann hätte ich ihn schon längst beschlagnahmt.

Mit leisen Schritten näherte ich mich dem Raum.

Das Lied klang traurig, genauso wie die Stimme des Mädchens.

Ich blickte neugierig durch den Türspalt.

Ein Mädchen mit langen, verwuschelten, blonden Haaren saß auf dem Klavierhocker, mit verwaschener Jogginghose und grauem Morgenmantel, vollkommen konzentriert auf das, was sie spielte. Ihre Stimme dazu glich wie die einem Engel.

Aber wenn ich sie mal näher betrachte...

Es war Heaven!

And I always meant to say to you I can't

So just turn your face

Until I can't see you anymore

Turn your face

Until I can't feel you anymore

Walk away

Until you're not standing at my door

Turn your face

Walk away and stay...

Ich musste echt aufpassen, dass ihre Stimme mich nicht zum Weinen brachte. Sie klang so unglaublich schön...wirklich. Soetwas habe ich noch nie gehört, noch nie mit so viel Gefühl.

Ihre Finger glitten über die Tastatur - wie als wären sie und das Klavier eins.

So now what's your excuse?

What do we have to lose?

Since I'm already loosing you...

Irgendwann endete das Lied und das Klavier verstummte. Die Stille eroberte wieder die Atmosphäre.

„Das war schön."

Ertappt fuhr sie herum und starrte mich mit großen, überraschten Augen an. „D-Danke. Ich habe dich gar nicht bemerkt", erwiderte sie leicht stotternd und zwang sich zu einem Lächeln, aber die Röte, die ihr ins Gesicht schoss, konnte sie damit nicht überdecken. „Ich war auch extra leise angeschlichen, damit ich dich nicht störe."

Langsam schlenderte ich zu ihr und lehnte mich an den schwarzen Flügel. „Und du spielst Klavier...?", fragte ich leise nach.

Okay, die Frage war dumm gewesen...

Sie lachte. „Ja, schon seit ich klein bin. Manchmal habe ich Stunden damit verbracht, irgendetwas zu spielen. Meistens habe ich hierdurch meine Gefühle freien Lauf gelassen, besonders als ich ständig nur alleine war, weil meine Eltern nie Zeit für mich hatten." Ein leichter Hauch von Traurigkeit durchzog für eine Millisekunde ihr Gesicht, aber sie zwang sich schon wieder zu einem Lächeln und verscheuchte damit die Traurigkeit. „Ich kann es dir beibringen, wenn du willst. Es ist gar nicht so schwer."

„Ich glaube nicht, dass ich...", versuchte ich zu erklären, aber sie brachte mich mit einer Handbewegung zum Schweigen und deutete auf den kleinen Platz auf dem Klavierhocker, auf dem sie saß. „Papperlapapp, ich bin eine geduldige Lehrerin. Jetzt komm schon!"

Was man nicht alles tun musste, um manchen eine Freude zu machen...

Widerwillig setzte ich mich neben sie auf den kleinen Hocker. Sie rutschte ein wenig zu Seite, damit ich auch genügend Platz hatte - aber wenn wir ehrlich waren: Sie durfte ruhig noch ein wenig ran rutschen. Mich würde das überhaupt nicht stören.

Die nächste halbe Stunde verbrachte sie damit, mir zu erklären, wofür welche Taste diente, und wofür man die Pedale unten brauchte.

Sie war so vollkommen in ihrer Erklärung vertieft, dass sie gar nicht bemerkte, wie ich sie von der Seite anschaute.

Ihre Augen leuchteten - wahrscheinlich ohne, dass sie etwas dagegen tat - ,ihre Lippen hatten ein breites Lächeln gebildet und die blonden Strähnen tanzten vor ihrem Gesicht. Dieser Anblick...es zog mich in seinen Bann. Und ich konnte mich nicht davon lösen. Selbst als sie meinen Blick bemerkte und deswegen ihre Erklärung stoppte.

Selbst da konnte ich meine Augen einfach nicht von ihr reißen.

Es war...wie Magie.

Oder so ähnlich.

Sie erwiderte diesen Blick.

Im Raum war es ganz still geworden.

Man hätte das Summen einer Fliege oder das Zirpen einer Grille hören können, so still war es hier.

Aber das war mir egal.

Ich wusste, dass, seit ich das erste Mal in diese grauen Augen gesehen habe, irgendetwas in mir passiert ist, was ich schon so lange nicht mehr gefühlt hatte. Nur sehr viel stärker, als es je bei mir passiert ist. Und es fühlte sich so unbeschreiblich gut an, dass es bereits meine persönliche Droge geworden ist.

Ich konnte auch nichts sagen, denn mein Mund war wie ausgetrocknet.

Aber wie hieß es so schön? Ein Bild sagt mehr als tausend Worte.

Und das hier sagte auf jeden Fall mehr als tausend Worte.

Mit einer Hand strich ich ihr eine Strähne aus dem Gesicht, und ruhte auf ihrer Wange. Ihr Mund öffnete sich leicht, aber kein Wort kam heraus. Ihre Augen waren starr auf die meine gerichtet.

„Küss mich."

Ja, jetzt schien dieser Satz aus meinen Träumen eine Bedeutung zu haben.

Jetzt wusste ich, was dieses Mädchen die ganze Zeit von mir wollte.

Meine Augen schauten abwechselnd in ihre Augen und auf ihre weichen Lippen. Unbewusst näherte ich mich ihrem Gesicht, und kurz bevor meine Lippen auf den ihren lagen, krachte die Tür mit so einem Geräusch auf, dass wir beide synchron zusammen zuckten, und ich beinahe vom Hocker rutschte.

Als ich jedoch sah, wer diese Person war, rutschte ich vollkommen vom Hocker und landete unsanft auf dem Fliesenboden.

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