Kapitel 1

Nachtflug

Er glitt sanft und leise durch den schwarzen Himmel. Doch die Sterne funkelten so hell, dass er die Baumkronen unter sich ohne Probleme erkennen konnte. Die Luft strömte gleichmäßig durch seine Lungen. Das kalte Licht der Nacht legte sich silbern auf seine Adlerschwingen, während er im Gleitflug über einen Felsvorsprung schwebte und in die Schlucht, die sich unter ihm auftat, eintauchte. Der Wald wurde nun links und rechts von massiven Felswänden eingerahmt. Patrick kannte den Weg auswendig, auch wenn er schon lange nicht mehr hier gewesen war.
Nichts war zu hören, nur das Rauschen des Windes und das Rascheln seiner Flügel. Er wollte für sich allein sein, fernab von allem was ihn so sehr bewegte.
Nach einigen Minuten gelangte er zu der Lücke unten in dem Meer aus Blättern und tauchte hinein. Unter den Baumkronen war es plötzlich viel dunkler und seine Augen mussten sich erst an das matte Licht gewöhnen. Dabei verfehlte er nur knapp einen Ast und Gestrüpp schlug ihm ins Gesicht. Er verfluchte sich, dass er nicht langsamer flog und hielt schützend die Hände nach oben. In seiner Luftgestalt waren seine Augen wesentlich besser als in seiner Erdgestalt als Mensch, aber es dauerte ein paar Sekunden bis er wieder mit voller Schärfe alle Konturen wahrnehmen konnte. Im Augenwinkel huschten einige Schatten vorbei. Die Tiere der Nacht hatten nicht mit seinem Besuch gerechnet. Allmählich standen die Bäume zu eng für seine Fluggeschwindigkeit. Er überlege das letzte Stück einfach zu laufen, entschied sich aber doch für einige Flugmanöver und schoss mit angewinkelten Flügeln zwischen den Baumstämmen hindurch. Würde er seine Schwingen ganz ausbreiten, hätten die Bäume sie längst zerpflückt.
Er zwang sich zur Konzentration um nicht die Orientierung zu verlieren. Kurz vor seinem Ziel glitt er zu Boden, verlor kurz das Gleichgewicht und landete auf allen Vieren. Sein Atem ging stoßweise, das Shirt klebte ihm feucht am Oberkörper. Die Flugmanöver hatten ihn mehr Kraft gekostet als er es sich eingestehen wollte. Er war ziemlich fertig.
Ein Funkeln erweckte seine Aufmerksamkeit und er trat auf eine Lichtung. Seine Schuhe versanken in Sand und der See, der sich vor ihm erstreckte, strahlte milchig weiß den Sternen entgegen. Er zog sein Shirt aus und faltete die Flügel am Rücken. Die kühle Luft umfing ihn mit einem Schauer und ließ seine Federn erzittern. Die meisten Menschen verwandelten sich in ihre Erdgestalt, wenn sie den Boden berührten. Doch Patrick gehörte zum Clan des Luftvolks. Er wurde in der Luftgestalt geboren, die sich bei Männern mit majestätischen Adlerschwingen am Rücken und bei Frauen mit feingliedrigen Elfenflügeln auszeichnete. Man fühlte sich grundsätzlich am wohlsten in der Gestalt, in der man zur Welt kam. Patrick legte den Kopf in den Nacken und schaute in den Himmel. Er wirkte so groß und unendlich tief, doch er wusste, dass er ihn nie bis zum Ende erkunden könnte. Als Sohn des Gouverneurs des hiesigen Luftclans war es ihm vorherbestimmt eines Tages zu regieren und den Platz seines Vaters einzunehmen. Er beneidete seine Freunde, die nach dem Schulabschluss erstmal um die Welt flogen oder schwammen oder fuhren. Er musste stattdessen in Regensburg bleiben und mit seinem Professor Merius Bücher wälzen. Er nahm auch an Kampftrainings teil zusammen mit den anderen Schülern, die sich dem Palast verpflichtet hatten. Plötzlich überkam ihn eine Traurigkeit und er fühlte sich sehr einsam, was aber irgendwie auch gut tat. So breitete er die Flügel zu beiden Seiten aus und ließ sich auf den Rücken fallen. Mit den Händen fuhr er durch das sanfte Gefieder und schloss die Augen.
Mit einem Mal wurde es ganz warm um ihn herum. Er glitt schwerelos durch das Wasser im See. Nichts war unter ihm und nichts war über ihm. Endlose Leere. Wobei das stimmte nicht ganz.
Er spürte auf einmal nackte Haut auf seiner. Er wollte danach greifen, wollte nach ihr greifen, aber sie entglitt ihm ständig wieder. Er wusste nicht wo er war, was passierte, doch er hatte keine Angst. Sanft fuhren Finger über sein Gesicht, liebkosten seinen Körper. Er sah um sich herum nur milchiges Weiß, ab und zu aber zwei nackte Körper in der Ferne, die eng umschlungen miteinander tanzten ohne sich wirklich zu berühren. Er holte tief Luft, um weiter in diesem berauschenden Gefühl unterzugehen. Doch es strömte nur kalte Nachtluft in seine Lungen, er riss die Augen auf und setzte sich aufrecht hin. Vor ihm lag nach wie vor der See, doch der Himmel war wolkenverhangen. Er fröstelte und wollte sich mit seinen Flügeln wärmend ummanteln. Da fiel ihm erst auf, dass er sich längst in seine Erdgestalt zurück verwandelt hatte und die Flügel wieder in seinem Rücken verschwunden waren.
Was war das bloß für ein komischer Traum gewesen. Gerüchten zufolge gab es Nymphen in diese Wäldern, die Botschaften in Träumen sandten. Aber was sollte das für eine Botschaft gewesen sein? Dass er eine Freundin brauchte? Patrick schüttelte genervt den Kopf.
Er war zwei Flugstunden von Regensburg entfernt und sollte sich langsam auf den Heimweg machen, wenn er noch vor der Morgendämmerung zurück sein wollte. Gerade als er sich vom See verabschiedete und sich das vertraute Kribbeln in seinem Rücken breit machte, so wie immer wenn er wieder seine Adlergestalt annahm, spürte er eine unbekannte Präsenz.
Als er ein lautes Schnauben vernahm, wusste er: Er war nicht allein.
Wie der Troll sich so nah an ihn heranschleichen konnte, ohne dass er überhaupt etwas mitbekommen hatte, war ihm ein Rätsel. Jedenfalls musste er vorübergehend nicht mehr ganz dicht sein, wenn er so unaufmerksam war! Ihm blieb kaum Zeit zum Reagieren. Der Troll war drei Meter hoch gewachsen, schwang eine Keule, die wohl eher einem Baseballschläger ähnelte und verfehlte Patrick nur um Haaresbreite. Dieser zückte einen Langdolch, den er an seinem Gürtel trug und ging zum Gegenangriff über. Dabei schlitterte er zwischen den Beinen des Trolls hindurch und zog die Klinge präzise über die Innenseite einer seiner wulstigen Oberschenkel. Der Troll schrie wütend auf und trat vergeblich nach Patrick, der sich gekonnt zur Seite rollte und dann auf die Füße federte. Er nutzte den Moment und verwandelte sich in seine Luftgestalt. Mit kräftigen Flügelschlägen stieß er sich vom Boden ab. Kaum zwei Meter in der Luft, packte ihn eine Klaue am Fußgelenk und schleuderte ihn mit solch einer Wucht zurück auf den Boden, sodass Patrick kurz die Luft ausblieb und er nur mit einem Stöhnen wieder auf die Beine kam. Trolle konnten hartnäckige Biester sein und dieser schien besonders verärgert, zumindest ließ das der animalische Schrei vermuten, den er nun mit hasserfüllten Tönen erklingen ließ. Patrick machte kurzen Prozess, sprang im Zickzack um den Troll herum und ritze ihn wo er nur konnte mit dem Dolch ins Fleisch. Er wollte ihn keineswegs umbringen. Immerhin war es Patrick, der in sein Revier eingedrungen war.
Der Troll schrie wie am Spieß und schlug um sich, als ob ihn ein Schwarm Bienen attackieren würde. Patrick kam nicht schnell genug aus der Gefahrenzone und wurde erneut zu Boden geschleudert. Er lag wieder am Seeufer, der Troll bäumte sich vor ihm auf und versuchte ihn mit seinen Fäussten zu zermalmen. Er rollte sich zur Seite und plötzlich griffen zwei kräftige Hände nach Patricks Füßen. Er wurde rücklings in die Fluten des Sees gezogen. Das letzte was er sah waren zwei große Klauen, die vor seinem Gesicht den Sand durchpflügten. Das Geschrei des Trolls erstarb, als die Wassermassen über Patrick zusammen schlugen. Er hielt instinktiv die Luft an, während er das Gefühl für oben und unten verlor. Die unbekannten Hände zogen ihn immer weiter in die Tiefe. Er musste sich verwandeln sonst würde er ersticken. Mühselig konzentrierte er sich auf seine Wassergestalt, während die Hände seine Fußgelenke eisern umklammert hielten. Zuerst entstanden die Kiemen hinter seinen Ohren, dann die seitlich an seinen Rippen. Nun begannen seine Beine zu kribbeln, wobei das ein bisschen brannte. Als sie zusammen schmolzen und sich der kräftige Fischschwanz bildete, konnte er schon längst durch die Kiemen atmen.
Patrick mochte die Wassergestalt am wenigsten, aber man konnte super schnell mit ihr schwimmen. Die Hände, die ihn unter Wasser gezogen hatten, waren verschwunden und er überlegte in welcher Richtung die Wasseroberfläche lag. Auf einmal tauchte direkt vor seinem Gesicht, aus dem Weiß des Sees, eine unglaubliche Schönheit auf. Er schnappte erschrocken nach Luft oder ehergesagt nach Wasser. Ihre Augen zogen ihn magisch an. Kein Zweifel, sie war eine Wassernymphe und schien in dem milchigen See zu wohnen. Sie deutete nach oben und das Wasser wurde mit einer ihrer geschmeidigen Handbewegungen klarer. Patrick erkannte einige Meter über ihnen den Troll, der wütend auf und ab wanderte und am Seeufer auf Patricks Rückkehr wartete. Die Nymphe legte einen Finger auf den Mund und bedeute Patrick ruhig zu sein. Nach einigen Minuten verlor der Troll das Interesse und wandte sich ab. Da schlang die Nymphe ihre Arme um Patricks Körper und schwamm mit ihm zur Oberfläche. Sie sagte nichts, doch ihre Augen strahlten ein Liebe aus, wie Patrick sie noch nie empfunden hatte. Der Troll lag auf der Seite und schnarchte. Blut tropfte ihm aus mehreren Schnittwunden.
Die Nymphe stieg aus dem See und Patrick folgte ihr wieder in Erdgestalt. Er suchte seinen Dolch, aber der schien im See versunken zu sein. Die Nymphe schaute kurz nach dem Troll und wandte sich dann Patrick zu. Eher er es sich versah, presste sie ihre Lippen auf seine und bevor Patrick protestieren konnte, beendete sie ihren Kuss auch schon wieder. Patrick taumelte kurz. Ihn durchströmte eine Kraft wie aus Himmeln. Er fühlte weder Erschöpfung noch seine Prellungen vom Kampf mit dem Troll. Die Nymphe sprach mit klarer Stimme: „Ein Geschenk, das du eigentlich nicht verdient hast." Sie deutete in den Himmel: „Flieg! Bevor du noch mehr Unheil anrichtest." Letzteres war keine Aufforderung sondern ein Befehl. Patrick nickte knapp, wusste nicht was er sagen sollte, verwandelte sich und schwang sich in die Lüfte. Einen kurzen Moment schwebte er noch über dem Schauplatz des Sees und sah wie die Nymphe sich zum Troll nieder kniete und mit ihrer Kraft auch seine Wunden heilte. Der Troll atmete seufzend aus und Patrick machte sich auf den Heimweg. Dabei berührte er vorsichtig seine Lippen. Diese Nymphen waren wirklich mystische Wesen.

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