Gewinner und ihre Freunde

Doktor Paulus arebitete nun schon seit Jahren im psychiatrischen Hospital und war berühmt dafür geworden, ein Krankheitsbild entschlüsselt zu haben, das fortan eine Standarddiagnose sein sollte. Er wusste, mit jeder neuen Krankheit, mit jeder psychischen Störung, konnte ein Mensch besser identifiziert werden, eine Art Entschlüsselung seiner DNA, seines Menschlichen Seins. Was er jedoch auch wusste, war, dass mit jeder neuen Entdeckung weitere Entdukcen einher gingen, dass die Entdeckung sich gegenseitig bedingt. Doktor Paulus hatte Angst davor, zu erfahren, was noch auf ihn zukommen würde.

Theodor saß auf einem Stuhl und wartete im langen Krankenhausgang, beobachtete die vorbeirennenden Ärzte und Krankenschwestern, starrte an die Wände, die Decke, den Boden, stützte das Kinn auf die geballte Faust. Er sah einigen Krankenschwestern un ihren Hauben hinterher, bevor Doktor Paulus um die Ecke bog. „Doktor Paulus!", rief er dann und sein Gegenüber, das wiedermal in Eile war, hatte schon längst den Türgriff in der Hand, bevor er sich umdrehte: „Ja?"

„Ich muss mit Ihnen reden, bitte!", flehte er ihn an.

„Haben Sie einen Termin gemacht?", fragte er rhetorisch, denn er wusste, hätte Theodor einen gemacht, wäre er jetzt nicht hier um diese Uhrzeit und würde ihm solche Fragen stellen.

„Nein", stammelte er, „also Ja, aber"

Doktor Paulus, der vor ihm im Arztkittel stand und sich in einer Situation befand, die er niemals wahrhaben wollte. Doktor Paulus hatte zu tun, mehr noch, als sonst. Doktor Paulus war seit seiner victor totalitati - Begründung noch gefragter gewesen als sonst. Doktor Paulus hatte dafür eigentlich keine Zeit gehabt. Doch er wusste ebenfalls, dass, wenn er niemandem half, der seine Hilfe brauchen würde, der so verzweifelt ist, er den falschen Beruf gewählt hätte. Er hatte sich geschworen, niemals so zu werden. Doktor Paulus hatte seine Prioritäten und er verteidigte sie vehement gegen jene, die die Ausgeburt der Gesellschaft waren.

„Kommen Sie herein", sagte er dann und atmete einmal laut aus. Er holte sein berühmt-berüchtigte Klemmbrett und sagte, als er an dem Vorzimmer mit seiner Sekretärin vorbeilief, dass die künftigen Termine neu zu strukturieren seien.

Er setzte sich. „Wie heißen Sie denn erstmal?", fragte er nach und sah den jungen Mann, der dort zusammengekauert auf einem Stuhl saß.

„Theodor", antwortete er und schloss für einen Moment die Augen. Als er sie wieder aufmachte, saß vor ihm immer noch Doktor Paulus, der ihn etwas fragend ansah.

„Und womit kann ich Ihnen helfen?"

„Ich glaube, ich habe ein Problem", sagte er dann und Doktor Paulus war nicht überrascht gewesen.

„Ich denke, sonst wären Sie nicht hier", ein lächeln huschte über sein Gesicht.

„Um was ge-„, begann er, ehe Theodor schon zu sprechen begann. „Sie haben doch diese These veröffentlicht, wie hieß es", er überlegte kurz, „die Gewinner", sagte er und Doktor Paulus nickte. „Ich glaube, ich habe einen fürchterlichen Fehler gemacht", fuhr er fort und begann zu weinen. Er legte seine linke Hand quer über den Mund und blickte nach links. Doktor Paulus wollte erst nichts sagen, begann wieder, doch erneut wurde er unterbrochen: „Ich werde enttäuscht von den Menschen, die mich umgeben."

Das Gespräch endete, bevor es überhaupt angefangen hatte. Theodor wurde als Patient in die ambulante Therapie aufgenommen. Doktor Paulus saß über seiner Akte und schüttelte den Kopf. „Verdammt, das kann nicht", begann er, als plötzlich seine Tür aufging. Lily, eine Krankenschwester, betrat den Raum und brachte neue Akten vorbei. „Hier, die sind überarbeitet oder unvollständig", sagte sie dann und wollte den Raum verlassen.

„Haben Sie den neuen Patienten gesehen?", fragte er sie.

„Ja, wieso?", sagte sie dann und wartete auf eine Antwort. Doch eigentlich war es Doktor Paulus gewesen, der auf eine Rückmeldung wartete und mit ihrem nicht erscheinen schon genug gewusst hatte.

„Danke, das wars schon", sagte er dann wieder und erneut fiel die Tür mit dem überspannten Lärmschutz aus Leder in das Schloss. Er stand auf und trat hinter die langen Gardinen vor das Fenster. Er legte seine Hände auf den Rücken, seine Augen wanderten nach rechts während er weiterhin auf die Stadt blickte. „Ich bin dazu verdammt, deine Geheimnisse zu lösen", sagte er nachdenklich und wurde traurig bei dem Gedanken, dass die Formel, die er für sich selbst gefunden hatte, nur Verzweiflung und Trauer brachte. „Ist es das, wozu ich berufen wurde?", fragte er sich selbst, „Ist es meine Aufgabe, das Leben der Menschen zu erklären und sie mit der Realität zu konfrontieren, so dass ich daran zugrunde gehen? Bin ich wirklich so kalt, dass ich ihnen ihr Schicksal gönne?" Er blickte hinüber. „Die Gesellschaft sagt: Sei stets wie du bist. Doch die Gesellschaft verlangt, dass du dich ihr widerstandslos hingibst", hing unangetastet über seinem Arbeitsplatz. „Was ist der Preis der Wahrheit?", sprach er aus. „Ist es wert, die Menschen damit zu konfrontieren, was sie sind? Ist die Erkenntnis ihrer Fehler, die sie so massenhaft begehen, es wert, dass ich sie ihnen sage?", dann drehte er sich vom Fenster weg. „Ich habe das hier nicht erreicht, weil ich so war wie sie", er stützte sich auf seinen Schreibtisch. „Ich habe nicht so vieles Opfern müssen, nur um sie jetzt vor dieser Diagnose zu bewahren. Ich muss sie der Welt mitteilen, es ist meine Aufgabe. Ich muss es schaffen, dass sich die menschen aus ihrem selbstgewählten Leib befreien. Auch wenn ich dafür nur alleine bleibe, ist es mir doch wert, dass wenigstens einen von ihnen helfen kann. Wer einen Menschen rettet, der rettet die ganze Welt."

„Theodor wird schwere Wochen haben", sagte er dann.

„Sie offenbaren sich vor Ihren Freunden, aber sie erzählen Ihnen nichts?", fragte er.

„‚Nichts' ist vielleicht falsch formuliert. Sie erzählen mir nur nicht diese Dinge, die ich ihnen erzähle."

„Was meinen Sie damit?", hakte er nach.

„Während ich davon spreche, was für Ängste ich habe, welche Sorgen, wen ich mag und wen nicht, hören sie zu und fragen einander, ob es noch Popcorn gebe."

„Ich tue das, was sie wollen, ich betrinke mich, ich bin cool für sie und dennoch komme ich nie an sie heran. Ich mache alles, was sie wollen, doch ich habe das Gefühl, dass es niemals ausreicht."

„Und warum machen Sie das?"

„Was?"

„Warum betrinken Sie sich, warum tun sie etwas, das sie augenscheinlich nicht wollen?"

„Ich will dazugehören", Doktor Paulus kritzelte wieder etwas.

„Wie sieht ihr Sexualleben aus?"

Ungefragt des Hintergrundes antwortete Theodor: „Exzessiv, es gibt kaum jemanden, mit dem ich nicht schlafen würde. Manchmal ist es anstrengend für mich, dass ich so bin. Aber es macht auch Spaß, ich genieße es."

„Susan", sagte er, „mir ist etwas schreckliches aufgefallen." Wieder saßen sie im Café, er rührte in seinem Tee und seine beste Freundin blickte ihm in die Augen.

„Das Leben ist eine Hierarchie. Meine Gewinner, unsere Gewinner, sie wollen ganz oben stehen. Sie nutzen alle aus, die nicht so sind wie sie. Die gesellschaft ist radikal."

„Beruhige dich", sagte sie dann und fasste an seinen Arm.

„Ich kann nicht! Siehst du das nicht? Merkst d nicht, wie traurig es ist, wie traurig ich bin, dass wir in einer Gesellschaft leben, die darauf fußt, Anerkennung zu bekommen? Es gibt leute, die gewinner, sie haben das perfektioniert. Sie geben nichts Preis, denn mit jeder Information, mit allem, was du mehr über sie weißt, dest mehr werden sie individuell. Sie haben den Vorteil, verstanden zu haben, dass das Leben wie ein Puzzle ist."

„Wie meinst du das?"

„Wir setzen uns aus dem zusammen, was wir sagen. Du weißt, dass ich traurig und emotional werde, wenn ich über Gewinner rede, ich habe also einen persönlichen Bezug zum Thema. Siehst du, was ich meine?" Sie nickte.

„Gewinner sagen dir nichts, sie sind ganz bewusst oberflächlich. Sie nutzen dich aus, mich, uns. Sie brauchen uns, um sich gut zu fühlen, um sich als besser darzustellen, sie haben verstanden worum es im Leben geht, was die Gesellschaft verlangt. Sie bestrafen Leute dafür, wenn sie individuell sein wollen. Sie lassen sie glauben, dass es etwas schlechtes ist, wenn man persönliche Details erzählt, Dinge, die einen bewegen. Sie sitzen vor dir und sehen dir zu, wie du in die Misere läufst, denn sie interessieren sich nicht für dich. Unterbewusst sind das natürlich Prozesse, die damit zutun haben, dass sie Angst vor Zurückweisung haben. Wer ehrlich ist, verliert, das denken sie. Denn mit allem, was du sagst, kannst du verletzt werden." Es entstand eine Pause, als er ruhiger wurde.

„Ich habe einen neuen Patienten. Er holt sich seine Anerkennung, indem er mit einer reges Sexualleben hat. Er denkt, dass er die Zuneigung, nach die er sie so sehr sehnt, die Bestätigung, dadurch bekommt, begehrt zu werden. Er hat allerdings nicht verstanden, dass man mit Leuten verkehren kann, nur, damit sie ihre sexuellen Triebe befriedigen. Gewinner lassen ihn glauben, dass, je mehr Menschen einen begehren, je mehr Menschen einen auf Rendezvous begleiten, je mehr menschen mit einem schlafen, desto höher dein eigener Wert ist. Nun hat er verstanden, dass das nicht funktioniert, er ist wütend darüber. Nun will er umziehen. Es wird dazukommen, dass er das, worauf er so sauer ist, das, was er will, nicht zu haben, dass er es wieder tun wird, sobald er die Möglichkeit hat, um nicht mehr sauer zu sein. An dieser Stelle offenbart sich sein fragiles Selbstbewusstsein, er macht seinen Wert abhängig von der Zuneigung anderer personen. Das ist traurig und nicht überraschend, da die Gesellschaft, die darauf ausgelegt ist, Bewunderung erhalten zu wollen, mit Menschen so umgeht. Wer sich offenbart, verliert. Das Problem ist: Er befindet sich in einem Teufelskreis. Mit den Leuten, die ihm das glauben lassen, befindet er sich in gesellschaftlichen Konstruktionen, die schon seit Jahren festgelegt sind?"

„KOnstruktionen?", fragte sie, weil es ihr wieder einmal zu schnell ging.

„Er nennt sie Freunde", antwortete er dann. „Diese Freunde, viel mehr: diese Gewinner haben einen Freund, ihn, die sich ihren Wert, der anscheinend so sehr gelitten haben muss, dass sie es nötig haben, aus der Erniedrigung anderer Personen ziehen. Sie stehen über ihren Freunden, weil sie sich besser fühlen wollen.

„Das heißt, im Endeffekt leiden sie beide? Sie haben beide ein Problem mit ihrem Selbstwert?", hakte sie nach.

„Vollkommen richtig, treffend formuliert", bestätigte er sie. „Der Unterschied ist jedoch, dass die einen, die Gewinner, radikal vorgehen und sich zurückziehen, sie negieren ihr Verhalten, ihre eigene Persönlichkeit, um sich so einem Bild der Masse anzupassen, wodurch sie von allen nur akzeptiert werden können, da es keine Information gibt, weshalb man sie nicht leiden könnte. Das sind dann dieselben Leute, die auf die Straße gehen, protestieren und dir erklären, was du in deinem Leben an falschen Entscheidungen getroffen hast. Während du bereits vor ihnen dir Gedanken darüber gemacht hast, als Verlierer, den Mut hattest, dich selbst zu reflektieren, meinen sie nun, die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben und dir erklären zu können, wie du besser leben kannst. Sie kamen aber erst zu dem Gedanken, als die breite Masse der Gesellschaft davon überzeugt wurde. Ansonsten hätten sie zu viel über sich selbst verraten, du verstehst?" Sue nickte.

„Jedenfalls, die anderen, die Freunde der Gewinner, die vielleicht auch Verlierer sind, sie haben ihr Selbstbewusstsein verloren, aber versuchen, dieses aufzuarbeiten, in dem sie so viele Informationen sagen und dadurch Bestätigung wollen. Ihr primäres Ziel ist es nicht, ihren Wert dadurch zu erhalten, sich über andere zu stellen, sondern lediglich auf dieselbe Stufe zu kommen, sich selbst besser kennenzulernen, dafür bestätigt zu werden, wer sie sind. Gewinner haben es sich zur Aufgabe gemacht, haben es perfektioniert, wie eine Gottesanbeterin all jene auszusaugen und sich von ihrer Energie zu ernähren, die die kraft haben, jedenfalls den Versuch dafür, sich selbst zu reflektieren. Die Gewinner stehen scheinbar felsenfest im Leben, weil sie alles so getan haben, wie es die Gesellschaft für richtig erachtet. Sie hätten Nazis gewählt, bevor sie dann so tun würden, dass es das schlimmste war, was der Welt passieren konnte. Dann sagen sie, dass alle daran Schuld waren und sehen dich, der du immer wusstest wie falsch etwas war, mit bösen Augen an und verachten dich. Mein Patient wird es schwer haben, denn die Gewinner, die er seine Freunde nennt, sind die einzigen Kontakte, die er noch hat. Seine sozialen Beziehungen hängen an Leuten, die ihn dafür benutzen, um über ihn zu stehen. DIe wollen, dass er so ist wie sie, während sie wissen, dass er nie an sie heranreicht. Er ist kein Gewinner. Lily ging wortlos an ihm vorbei. Er ist nicht so schön wie sie, er hat nicht das Glück gehabt, ein derart einfaches Leben führen zu können. Mein Patient wird eines Tages sehen, wie sie ihn fallen lassen, wenn er nicht mehr zu gebrauchen ist. Niemand wird ihnen etwas vorwerfen können, keine unsachgemäßen Dinge, keine Taten, die nichts mit dem Vorgehen zu tun haben, da niemand etwas über sie weiß. Gewinner sind unsicher, aber sie sind Gewinner in einem Spiel, das man Leben nennt, das darauf aufbaut, so zu sein wie die Gesellschaft. Wir bewundern jene Leute, die sich derart in sie einprägen, dass wir sie „schön" nennen."

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