Prolog

Berlin, 20.07.1936

(kurz vor den Olympischen Sommerspielen in Deutschland)


Matthias starrte auf die vielen Seiten dicht beschriebener Blätter auf seinem Schreibtisch. Vier Artikel, die morgen früh in den Druck sollten. Und er bezweifelte, dass die Redakteure ihm in den letzten Wochen zugehört hatten. Eigentlich sollte er sie melden und in Schutzhaft nehmen lassen. Das geschähe ihnen recht.

Aber ein guter Alpha schützt die Seinen.

Matthias seufzte und schnippte eines seiner eigenen kurzen, blonden Haare von seinem gut geschnittenen Anzug, der seine gesamte, musterhaft arische Erscheinung unterstrich.

„Traudl!" Sein Ruf klang mehr nach einem zu lauten Bellen. Dann sah er wieder auf die Artikel. Die Fehler darin mussten korrigiert werden.

Einen Moment später drückte sich die Türklinke herunter und Traudl stand in seinem Büro. „Ja, Herr Angerloh?"

Er verzog die Mundwinkel und richtete sich auf, Rücken gerade, Blick geradeaus, wie es seiner Alphaposition zustand. Ihr widerlicher Vampirgeruch juckte in seiner Nase. Penetrant süß, wie Obst im ersten Stadium der Fäulnis. Mit einem Ruck stand Matthias von seinem Platz auf und ging zum Fenster, um es so weit wie möglich zu öffnen. „Dir sind die aktuellen Formulierungsrichtlinien in Bezug auf Juden und ähnlichen Abschaum geläufig?", fragte er und warf einen Blick hinaus auf die Straßen Berlins. Er würde bald Feierabend machen und die Sonnenwende genießen.

Dann drehte er sich zu der kleinen Gestalt in sittsamer Bluse und wadenlangen Rock um. Einen Moment lang hing Matthias Blick an einer widerspenstigen, dunklen Strähne, die sich aus ihrer einfachen Hochsteckfrisur gelöst hatte und die sie jetzt mit unruhiger Hand zurückschob, unsicher. Ein hungriges Grinsen zog an seinen Mundwinkeln.

„Ja", antwortete Traudl mit leiser Stimme. „Der Führer wünscht, dass in allen Berichterstattungen, egal ob für Radio, Fernsehen oder Zeitung, ein neutraler Ton gehalten wird, insbesondere über -" Sie zögerte, die Worte kamen ihr schwer über die Lippen. Gebrochener Widerwille. Matthias Hand zuckte. „-Juden oder anderen unerwünschten Personen. Vor allem im Hinblick auf die Olympischen Spiele, um unsere ausländischen Gäste nicht zu verunsichern."

„Richtig", bestätigte Matthias und ging zu seinem Schreibtisch zurück, wo er den Hakenkreuzwimpel zurechtrückte. Ein Geschenk der Partei. „Ich habe dazu eine Aufgabe für dich, Traudl: Die Artikel hier müssen auf diese neue Richtlinie kontrolliert und korrigiert werden. Ich habe sie bereits überflogen und es gibt einige momentan noch unpassende Formulierungen. Aber ich habe keine Zeit für solche Kleinstarbeiten. Meine Pflichten im Rudel rufen mich." Um seine Aussage zu verdeutlichen, schob Matthias die Papierseiten wieder zu einem unsortierten Stapel zusammen. „Morgen früh um sieben muss das in den Druck."

Langsam kam Traudl näher und blickte erst auf den Stapel Papier in seinen Händen, dann in sein Gesicht. „Morgen früh?", wiederholte sie tonlos.

Jetzt spürte Matthias auch den Hauch von etwas, das mit menschlichen Sinnen nicht greifbar war, aber für seine Wolfswahrnehmung so unverwechselbar da, wie das schleimige Gefühl, das man beim genauen Betrachten einer Nacktschnecke bekam. Gestohlene Aura. Tote Aura. Genommen, um ihren abnormalen Körper am Leben zu erhalten. Matthias erwiderte ihren Blick, wohl wissend, dass diese Korrekturen Stunden in Anspruch nehmen würden. „Spätestens halb Sieben muss es in der Druckerei sein."

„Aber-"

„Deinesgleichen muss eh nicht schlafen." Er hielt ihr den Papierstapel hin. Sollte diese Vampirschickse sich nützlich machen. Er wollte endlich seinen verdienten Feierabend beginnen. „Du legst mir nachher die fertige Ausarbeitung auf den Tisch und kannst dann gehen. Ich bringe es morgen früh selbst runter."

Traudl versteifte sich. Doch schließlich nickte sie und senkte den Blick, wie es ihrer Position zukam und nahm die Artikel entgegen. Ihre Hand streifte die seine und Matthias zuckte wie gestochen zurück. Einen Moment lang starrte er die Vampirin an, während seine Haut noch immer dort kribbelte, wo ihre weichen, kühlen Finger ihn berührt hatten. Unwillkürlich ballte er die Hand zur Faust und fragte sich, wie es wäre, wenn ...

„Geh jetzt. Du weißt, was du zu tun hast", knurrte er und beobachtete mit zusammengekniffenen Augen, wie sie sein Büro verließ. Vielleicht sollte er wirklich verfügen, dass sie nicht länger seine Räumlichkeiten betreten dürfte. Er wollte solchen Vampirabschaum nicht hier haben. Wenn ihre Versetzung zu ihm nicht vom Orden selbst gekommen wäre, er hätte sie schon am ersten Tag durch den Wald getrieben. Warum auch immer der Orden eine Vampirin hierher schickte.

Lieber hätte er eine dieser Jüdinnen in seinem Büro.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top