⏭ 23; love you in an unbearable amount
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SKZ » Fairytale
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»Soonie hat ganz schön viel Hunger für so einen kleinen Zwerg«, lacht Minji, als sie sich neben Minho an der Küchenzeile anlehnt. »Er wollte Doongie schon wieder die Hälfte wegessen.« Minho sieht von dem Knoblauch auf, den er kleinschneidet, und grinst zurück. Die letzten paar Tage war Soonie, der weißnasige Kater, so verfressen, dass entweder Minji oder Minho aufpassen mussten, dass Doongie, der Dulder mit der orangen Schnauze, auch genügend Futter abbekommt. Mittlerweile sind die Zwei etwa zwölf Wochen alt und halten ihre beiden Menschen fast noch mehr auf Trapp als zur Zeit der ständigen Fläschchen.
»Dafür rennt er mehr rum als Doongie«, erwidert Minho grinsend und wendet sich wieder dem Kochen zu. Minji ist bis vor einer halben Stunde noch in der Arbeit gewesen und er hat frei gehabt, deswegen macht er heute das Abendessen. Sie wechseln sich da normalerweise ab oder kochen zusammen, je nachdem, wie viel Zeit sie gerade haben, und seitdem Soonie so verfressen geworden ist, muss außerdem immer einer von ihnen beim Füttern aufpassen, damit Doongie sich nicht alles klauen lässt.
»Du ergreifst bloß Partei für ihn, weil er dein Liebling ist«, ärgert Minji ihn. »Aber denk' ja nicht, dass ich meinen Schatz Doongie nicht mit allem verteidige, was ich habe!« Sie grinst Minho an, während sie spricht, und bekommt kaum die Worte heraus, weil sie lachen muss. Minho erwidert ihren Blick und ihr Grinsen und er lacht auch leise mit, weil es bei ihr so ansteckend ist. Vielleicht auch ein bisschen, da sie nicht ganz unrecht hat. Sie lieben zwar alle beide Kater abgöttisch, doch Minho bevorzugt womöglich Soonie ein ganz kleines winziges bisschen mehr als Doongie, und bei Minji ist es genau andersherum. Doongie hat damals am ersten Abend ihr Herz erobert, als er gleich in ihre Handfläche gekrabbelt ist und sich hochheben lassen hat. Soonie ist von Anfang an mehr an Minho geklebt, was natürlich nicht spurlos an ihm vorbeigegangen ist. Beide Kater haben es sich also verdient, die jeweiligen Favoriten ihrer Besitzer zu sein.
»Ich weiß schon, ich weiß schon«, erwidert Minho und wirft den Knoblauch in eine geölte Pfanne. »Aber du weißt ja auch, wer mein absoluter Liebling in diesem Haushalt ist«, redet er breit grinsend weiter, als er einen Esslöffel mit dem gebratenen Reis befüllt, der nur noch auf der Herdplatte steht, damit er warm bleibt, bis auch die Garnelen, die er dazu anbrät, fertig sind, und bietet ihn dann Minji zum Abschmecken an. »Bei dir muss man auch aufpassen, dass du nicht vom Fleisch fällst, so beschäftigt wie du immer bist. Ist also kein Wunder, dass du dich so mit Doongie verstehst.« Seine zweite Hand hält er unter ihrem Kinn auf, falls beim Probieren was daneben fällt, und wartet dann gespannt auf ihre Reaktion. »Und, schmeckt's? Braucht's noch irgendein Gewürz? Ist es zu scharf oder salzig, dass ich es strecken muss?«
Minji kommen glatt die Tränen, als sie versucht, den Bissen so schnell wie möglich runterzuschlucken und sie wedelt hektisch mit den Händen herum, um ihm zu zeigen, dass sie noch einen Moment braucht, bis sie wieder reden kann. »Also auf der Kellertreppe hast du's nicht gekocht«, kichert sie, als sie sich die Tränen mit den Händen wegwischt, und Minho muss mitgrinsen. »Außer, dass es echt heiß ist, schmeckt es super. Du brauchst gar nichts mehr verändern«, lobt sie ihn dann. »So wie immer eben. Es ist schon praktisch, wenn man seinen persönlichen Koch daheim hat.«
»Ich wär' ein toller Hausmann, nicht wahr?«, lacht Minho und stupst Minjis Schulter mit seiner an. Er schlingt von vorne einen Arm um ihre Taille, während sie noch genauso an der Kante der Arbeitsfläche fast direkt neben dem Herd lehnt und er die Garnelen mit einem Plastikkochlöffel in der beschichteten Pfanne wendet, und lenkt seine vollste Aufmerksamkeit schon im nächsten Moment wieder auf sie. »Aber echt, danke fürs Kompliment. Wenn du mich so viel lobst, koch' ich gleich noch ein bisschen lieber für dich«, fügt er ruhiger hinzu und lächelt nur noch zart. Jetzt hat er zum ersten Mal Zeit, Minji wirklich zu mustern – und das lohnt sich, denn sie probiert beim Schminken fast jeden Tag, wenn sie arbeiten muss, was anderes aus und es ist immer auf ihr Outfit abgestimmt. Ein bisschen wie ein Wimmelbild, irgendwie, nur hübscher.
Minho ist selbst ja auch eitel, aber Minji plant ihr ganzes Auftreten, besonders für die Arbeit, absolut detailorientiert durch und bei ihr wirkt das so gar nicht eitel, findet er, sondern eigentlich eher künstlerisch oder so. Vielleicht findet er das, weil sie jeden Tag Freude daran hat, was Neues auszuprobieren, und mehr eine Harmonie für sich selbst erreichen will, als irgendwem zu gefallen. Deswegen würde Minho sie nicht als eitel bezeichnen, sondern viel mehr als perfektionistisch – falls es da überhaupt einen Unterschied gibt, was er schon findet. Minji ist bei ihrem Aussehen ein bisschen so wie Chan mit seinen Gedichten, die Minho mit als erster sehen durfte, und das auch erst vor ein paar Monaten, als Chan, der alte Perfektionist, ganz egal in welchem Gebiet, sie endlich für gut genug zum Lesenlassen befunden hat. Oder wie Seongwha bei seiner Gesamtperformance. Minho hat schon länger nichts mehr von ihm gehört, weil sein Freund seit letztem Jahr ein K-Pop-Trainee bei irgendeinem Entertainment ist, von dem er persönlich vorher noch nie was gehört hat, aber Yongbok verfolgt von Anfang an ganz genau, ob es irgendwelche mehr oder weniger offiziellen Updates von Seonghwa gibt, und schickt sie in den alten Gruppenchat ihres größtenteils zerfallenen Tanzteams. Da tauschen sie sich fast alle ziemlich rege aus, denn außer dem werdenden Superstar, der den Chat wegen der Richtlinien seines Unternehmens verlassen musste, sind noch alle von vor zwei, drei Jahren drin.
Minji und Minho schicken zum Beispiel fast jede Woche Fotos und Videos von ihren zwei Katern in die Gruppe, auf die meistens ein Herzchen-Schwall von den anderen folgt. Bora teilt als Antwort so gut wie immer Schnappschüsse von ihrem Shiba Ddalgi, Wooyoung von seinen drei Hamstern Sokrates, Platon und Aristoteles und Sihyeon von ihren Kaninchen Bomi und Bongcha. Nur Yongbok hat keine Haustiere und es kommt nicht selten vor, dass er schreibt, wie gerne er welche hätte. Soweit Minho weiß, schickt Minji ihm noch viel mehr Fotos von Soonie und Doongie als in die Gruppe, weil die Zwei es ihm besonders angetan haben. Wenn er trotz seines Lernstresses in den Sommerferien Zeit dazu findet, von Gimpo nach Seoul zu fahren, kommt er vermutlich mal vorbei und Minho hofft wirklich, dass es klappt. Er vermisst die Zeit, in der sich ihr ganzes Team so regelmäßig getroffen hat, sowieso so sehr, und Yongbok hat es damals mit am meisten mitgenommen, als zuerst Seonghwa, dann Minji und ein Jahr später auch Minho die Gruppe verlassen haben und weggezogen sind. Minji ist außerdem die einzige gewesen, die auch 2000 geboren ist, obwohl sie eine Klassenstufe über ihm besucht hat, deswegen stehen sich die beiden schon immer ein bisschen näher.
»Für einen richtigen Hausmann bist du viel zu karriereorientiert«, antwortet Minji auf seine Aussage von vorhin. Bestimmt sind schon zehn, zwölf Sekunden vergangen, seitdem sie es gesagt hat, aber Minho ist viel zu beschäftigt mit Nachdenken gewesen, um sie eher zu hören. »Außer du willst als potentiell-zukünftiger Dr. Lee in Teilzeit arbeiten oder so, damit du mehr Zeit für den Haushalt hast«, meint sie kichernd, als Minho immer noch nichts sagt, sondern sie einfach nur ansieht. Lustig eigentlich, wie er gedanklich erst dadurch abgeschweift ist, sie gemustert zu haben, und jetzt versucht, zurück ins Hier und Jetzt zu finden, indem er sie wieder richtig betrachtet, statt nur irgendwie gedankenverloren in ihre Richtung zu starren. »Irgendwie wäre das sogar ein Power-Move gegen das hegemoniale Männerbild – in der Karriere erfolgreich, aber doch bodenständig.«
»Das ›Hege‹-Was?«, fragt Minho lachend nach. »Power-Move verstehe ich noch und deine seltsame Wortbildung mit ›potentiell-zukünftig‹ auch, aber das andere ist kein Fachbegriff aus meinem Gebiet.« Er schaltet schnell den Herd aus, damit die Garnelen nicht zu trocken werden, und stützt dann beide Hände links und rechts von Minji an der Küchentheke ab. »Ist das was Feministisches?«, vermutet er grinsend. Er weiß gar nicht genau, wobei Minji leidenschaftlicher ist: bei Mode oder bei Gleichberechtigungsfragen. Ist ihm eigentlich auch ziemlich egal, denn er mag es, wenn sie ihm von beidem was erzählt, denn sie ist da genauso begeistert, wie wenn Jisung über seine Musik redet. Und bei beiden lernt Minho immer wieder was Neues dazu, auch wenn die Fachbegriffe ihm regelmäßig entfallen.
Wie man jetzt zum Beispiel diesen eckigen Ausschnitt bei Oberteilen nennt, hat er längst vergessen, und dieses ganze System Fis-, Cis- und Bes-Tonleitern – oder auch nicht – in Dur und Moll übersteigt auch alles, was Minho im Moment greifen kann und will. Trotzdem hört er es sich gerne an, weil es einfach Spaß macht, zuzusehen, wie zum Beispiel Jisungs Augen zum Leuchten beginnen, wenn irgendwas für ihn total viel Sinn ergibt und bei ihm noch mehr Freude an der Musik, nicht nur als sein Studienfach, erzeugt. Minjis feministisches Wissen ist da nochmal ein wenig anders, denn diese Fachbegriffe versucht Minho sich wirklich zu merken. Es tut ja keinem weh, mehr über die Gender-Pay-Gap oder verinnerlichte Misogynie – Minho hat den Begriff beim ersten Mal Hören eigentlich als ganz wohlklingend empfunden, bis er erfahren hat, dass damit die Geringschätzung von Frauen gemeint ist – zu wissen. Minji ist bei sowas ein laufendes Lehrwerk, genau wie Jisung neben seinem musikalischen Wissen auch bei so ziemlich allem, was queer ist.
»Hegemoniale Männlichkeit hat mit der Rollenverteilung vom starken Mann und von der untergeordneten Frau zu tun«, erklärt Minji und grinst zurück. Ihre Arme sind schon so lange locker hinter seinem Rücken verschränkt, dass Minho gar nicht weiß, seit wann genau. »Also ja, ist was Feministisches.« Klar ist es was Feministisches, das hat Minho sich schon aus dem ganzen Kontext denken können. Außerdem kennt sich Minji so gut mit dem meisten aus, was damit zu tun hat, dass sie die Begriffe ganz unabsichtlich verwendet, wenn sie mit ihm spricht. Bei anderen hält sie sich mehr zurück oder verwendet eine muttersprachliche Variante, die sich von selbst erschließt, aber bei Minho muss sie nicht so viel nachdenken, wie sie ihr feministisches Fachwissen möglichst allgemeinverständlich ausdrückt, denn er will die Begriffe ja wissen, und er ist auch nicht gerade schüchtern nachzufragen, wenn er was nicht versteht.
»Hegemonial...«, wiederholt Minho. »Hoffentlich merke ich mir das. Geht einem nicht ganz so leicht von der Zunge wie misogyn.« Minji weitet überrascht die Augen, als er den Fachbegriff so souverän benutzt, und nickt ihm dann anerkennend zu. »Aber genug von Hausmännern und Teilzeittierärzten. Wie war die Arbeit heute?«, wechselt Minho das Thema. »Hast du viele Komplimente für dein Styling bekommen oder muss ich das Pensum erfüllen? Mir fallen auf die Schnelle nämlich schon drei bis fünf ein.«
»Pass auf, dass du auf deiner Schleimspur nicht ausrutschst«, erwidert Minji. Sie muss ziemlich schnell leise lachen, obwohl sie es unterdrücken wollte, und lässt dabei den Kopf nach vorne an Minhos Schulter fallen, bevor sie sich nach ein paar Augenblicken wieder fasst. »Heute war sogar was Besonderes«, sagt sie und grinst dann, als sie fragt: »Rate mal, wer bei uns eingekauft hat?«
»Seonghwa?«, rät Minho. Fast schon hoffnungsvoll, findet er, weil sie mittlerweile ja so wenig Kontakt haben. Und es wäre schön, mal wieder über irgendeinen direkten Kontakt von ihm zu hören statt nur über Social-Media-Postings von Dritten.
»Stimmt, er würde auch zu dem Laden passen«, erwidert Minji und blickt nachdenklich zur Decke. »Aber nein. Hyunjin war da, mit einem Jeongin aus seiner Klasse. Sie haben mir erzählt, dass sie sich schon länger fest vorgenommen haben, mal zusammen nach Seoul zum Shoppen zu fahren, und mein Arbeitgeber ist da eben doch eine der bekanntesten Adressen.« Als Minji das so erzählt, grinst sie einfach stolz. Das letzte Mal, dass sie ein Wort über Hyunjin verloren hat, war, als sie sich in dem einen Bekleidungsgeschäft daheim in Gimpo getroffen haben, und damals hat sie alles andere als glücklich ausgegesehen. Heute tut sie das schon und sie erzählt von selbst weiter: »Jeongin ist irgendwie niedlich, er hat auch so richtige Grübchen. Und ich weiß ja nicht, wie Hyunjin und er zueinander stehen...« Am Ende lächelt sie schief und sieht Minho mit glitzernden Augen an. »Aber sie sehen richtig glücklich miteinander aus.«
Minho grinst zurück – einerseits, weil spekulieren, ob jemand vergeben ist, immer Spaß macht, andererseits, weil Minji so glücklich dabei aussieht, über Hyunjin zu reden, ganz anders als vor zwei Jahren. Seitdem hat sie nie wieder ein Wort über ihn verloren, deswegen hat Minho nicht gewusst, ob sie immer noch an ihm hängt oder ob sie schon über ihn hinweggekommen ist. Doch so, wie sie jetzt spricht, scheint sie den Liebeskummer wirklich hinter sich gelassen zu haben. »Und, hat er dir ein Kompliment gemacht?«, fragt Minho nach und er weiß gar nicht, ob er sich dabei nach vorne lehnt oder ob er schon länger so nah bei Minji steht. »Zum Beispiel, dass das Dunkelblau von deinem Set aus Rock und kurzer Jacke dir echt steht? Oder dass es süß ist, wie du aus dem Muttermal unter deinem Ohr ein Herz gemacht hast? Dass deine Stufen deine Haare irgendwie total voll und leicht gleichzeitig aussehen lassen?«
Minji verengt die Augen bei seinem Gefrage, aber sie kann ein Lächeln nicht zurückhalten. »Sind das drei von den Komplimenten, die du mir vorhin angedroht hast?«, fragt sie und kichert. Ihre Wangen werden dabei ganz zart rosa und sie lehnt den Kopf wieder nach vorne an seine Schulter, sodass er nur noch ihren Hinterkopf sieht. Er lacht leise über ihre Reaktion und fährt mit einer Hand durch ihre verlockend seidig aussehenden Haare. Sobald Minji einen ganz besonders tiefen Atemzug genommen hat, um sich wieder zu sammeln, hebt sie ihren Kopf von seiner Schulter und schaut zurück in seine Augen. »Danke, Minho, ehrlich. Ich freu mich so, wie du alle Details bemerkst«, flüstert sie, wobei ihr Gesicht nicht mehr zartrosa ist, sondern knallrot. »Und ja, Hyunjin meinte, dass ich gut aussehe. Aber so allgemein, er hat sich jetzt nicht irgendwas im Speziellen rausgepickt«, antwortet sie auf seine Frage, die er selbst schon vergessen hat. »Er hatte fast nur Augen für Jeongin«, fügt sie hinzu und es schleicht sich der Anflug eines Grinsens auf ihr rotes Gesicht.
»Also hat er auch nicht bemerkt, dass dein Lidstrich von dem gleichen Blau wie dein Rock zu einem fast schwarzen Dunkelblau übergeht?«, fragt Minho weiter nach, weil er weiß, dass Minji entweder noch verlegener wird – was sehr süß ist – oder dass sie ihm langsam seine Schranken aufweist. Oder beides, wie sich herausstellt, denn Minji hält auf seine Worte hin einen Moment lang die Luft an und haut ihm dann sanft gegen die Brust. »Ist schon okay, ich hör auf«, räumt Minho schmunzelnd ein, bevor er ernst wird. »Minji. Wie ging's dir, als du ihn mit Jeongin gesehen hast?«
»Ich hab mich gefreut«, platzt Minji heraus, als Minho es kaum ausgesprochen hat. »Wirklich, ich hab mich riesig gefreut. Da ist nichts mehr. Echt nicht. Seitdem wir ihn vor zwei Jahren mal getroffen haben, hab ich eigentlich nicht mehr über ihn nachgedacht und irgendwann... Irgendwann in der Zeit bin ich anscheinend über meine Schwärmerei von damals hinweggekommen«, erklärt Minji ihm und blickt dabei wohl in jede Richtung, bloß nicht in Minhos Augen. Das ist ungewöhnlich für sie... Genau, wie ihre immer noch roten Wangen, die nur so aussehen, wenn ihr etwas peinlich oder richtig unangenehm ist.
So kennt er Minji nicht, wenn sie bloß zu zweit sind, und er weiß auch nicht wirklich, was er machen soll. Ob er was machen soll. Deswegen tut Minho einfach das, was er immer tut. Was sie beide immer tun, wenn der andere gerade ein bisschen Unterstützung oder so braucht. Er nimmt eine Hand von der Küchenarbeitsfläche und legt sie an ihre Seite, wo er behutsam auf und ab streicht – denn, obwohl Minho es sich vor der Scheinbeziehung mit Minji niemals eingestanden hätte: Ihm tut Körperkontakt gut. Und Minji hat das auch immer gut getan. Eine Hand auf dem Arm, wenn die Knie sich beim Nebeneinandersitzen berühren, ab und zu eine Umarmung, die Stirn aneinanderlehnen...
»Minho«, haucht Minji schließlich, während sie immer noch wegschaut. Sie kaut schon länger auf ihrer Unterlippe herum und Minho müsste sie nicht mal so gut kennen, wie er es tut, um zu sehen, dass ihre Gedanken rasen. Ein paarmal holt sie Luft und öffnet den Mund, bevor sie doch weiter schweigt. »Minho.« Als sie seinen Namen dieses Mal sagt, ist ihre Stimme fester und sie sieht endlich wieder zu ihm. Minho hat keine Ahnung, was jetzt kommt und es beunruhigt ihn irgendwie, wie sie seinen Namen sagt. So als hätte das, was sie beschäftigt, nicht nur nebenbei mit ihm zu tun, sondern als stecke er tief mit drin...
»Hast du noch Gefühle für Jisung?«
»Bitte, was?«, fragt Minho perplex zurück. Er weiß ja, dass er sich selbst gerade danach erkundigt hat, ob Minji über Hyunjin hinweg ist oder nicht. Aber das ist in einem ganz konkreten Zusammenhang gewesen: Minji hat Hyunjin in der Arbeit getroffen. Jisung und er treffen sich ziemlich häufig, schreiben fast jeden Tag zumindest kurz miteinander und Minji und er reden gar nicht mehr darüber, weil es schon so normal geworden ist. »Ich meine, ja... denke schon. Ich bin nicht mehr so eifersüchtig wie früher, aber manchmal tut es schon noch weh, wenn... wenn Sungie mich zum Beispiel mit so großen Augen ansieht. Oder wenn er mich so breit anlächelt, dass ich am liebsten seine Hamsterbäckchen kneifen möchte. Oder wenn er auf irgendwas konzentriert ist und die Lippen so spitzt. Weißt du, wie? Dann sehen sie so voll aus... Und so weich... Und-« Dann schneidet Minho sich selbst das Wort ab, bevor er noch mehr vor sich hin plappert. Ist ja schon schlimm genug, in einen seiner besten Freunde verliebt zu sein, der seit Ewigkeiten vergeben ist, und es dann auch noch so unverblümt zuzugeben, dass er ihn am liebsten küssen und für sich selbst haben würde...
»Du bist so süß, wenn du über ihn sprichst«, flüstert Minji. Einen Moment lang lächelt sie ihn sogar ganz sanft an und beobachtet Minho mit ihren großen Augen, die zwar ganz anders als Jisungs aussehen, aber doch irgendwie so gleich sind. Zumindest haben sie einen sehr ähnlichen Effekt auf Minho wie Jisungs, denn egal, wer von den beiden ihn so anschaut, ihm schmilzt dabei jedes Mal fast das Herz, wenn auch auf eine ganz andere Weise.
Doch dieser eine Moment, in dem sie ihn so ansieht, ist viel zu schnell vorüber. »Ich... Minho. Eigentlich habe ich versprochen, mit niemandem darüber zu reden, aber... aber du bist mein bester Freund. Und das könnte dich auch betreffen. Also ich meine, ich will, dass du Zeit hast, darüber nachzudenken, ob du was damit anfangen kannst. Denn vielleicht hilft es dir ja. Wenn du Jisung noch magst, dann bestimmt schon, weil...«, sprudeln die Worte nur so aus Minji heraus, während sie wieder total nervös ihren Blick durch den Raum schweifen lässt. »Nein. Verdammt, nein, tut mir leid. Das, was ich sage, macht gerade gar keinen Sinn«, stoppt sie ihren Redeschwall auf einmal selbst und lässt ihren Kopf nach vorne an Minhos Schulter fallen, er weiß gar nicht, zum wievielten Mal in den letzten paar Minuten. Und noch weniger weiß er, was Minji ihm sagen will, doch er wird einen Teufel tun und dazwischenreden.
»Neulich, als du in der Arbeit warst, hab ich mit Jisu telefoniert«, sagt Minji zwar leise, aber ihre Stimme ist klar und deutlich. Jisu... Wenn sie mit Jisu telefoniert hat und Minho jetzt nach so langer Zeit wieder fragt, ob er noch in Jisung verliebt ist... »Sie hatte doch vor zwei Wochen Geburtstag und Jisung und ich sind nach Gimpo gefahren, um mit ihr zu feiern, du konntest ja wegen der Arbeit nicht mit. Jedenfalls... Da kamen mir die beiden schon ein bisschen distanziert vor. Nicht schlimm oder so, es ist ja normal, dass man ein bisschen anders ist, wenn man so weit auseinander wohnt und wegen Stress in der Schule und in der Uni nicht mal viel telefonieren kann und so. Aber jetzt...« Minho spürt ganz genau, wie schnell Minjis Herz schlägt, weil sie sich mit jedem Wort ein bisschen fester an ihn drückt, und sein eigenes passt sich an ihren Rhythmus an. »Minho, ich habe Jisu eigentlich versprochen, niemandem was zu sagen, aber ich hab auch miterlebt, wie du unter deinem Liebeskummer und der Gewissheit, deine erste mögliche Chance mit Jisung verpasst zu haben, gelitten hast und ich will einfach, dass du Zeit hast, über alles nachzudenken... Jisu hat gesagt, dass sie sich von Jisung trennen will, wenn sie nächste Woche mit zwei Freundinnen nach Seoul kommt und ihn besucht, weil ihr Alltag nicht mehr zusammenpasst. Weil keiner von ihnen noch so richtig Kraft und Lust hat, ihre Beziehung irgendwie am Leben zu erhalten, auch wenn sie sich gut verstehen. Sie verstehen sich noch gut, aber die Gefühle sind weg, und Jisu weiß, dass sie nicht unnötig an etwas festhalten will, das man jetzt noch auf eine gute Weise beenden kann, und sie meint, so wie Jisung sich verhält, dass er sie auch nur noch aus Gewohnheit seine Freundin nennt und wahrscheinlich einfach zu höflich ist, um ein paar Monate vor ihrem Schulabschluss mit ihr Schluss zu machen.«
Deswegen. Deswegen hat Minji ihn gefragt, ob er noch Gefühle für Jisung hat. Wenn er nein gesagt hätte, hätte sie niemals ein Wort über das Telefonat mit Jisu verloren, denn so eine Freundin ist sie nicht. Sie ist eine Freundin, die ihre Versprechen hält und immer zusieht, ihren Liebsten das Leben ein bisschen leichter zu machen und sie überall zu unterstützen, wo sie es brauchen.
»Minho. Natürlich kannst du dich nicht von jetzt auf gleich auf ihn stürzen und ihm deine Liebe gestehen oder so, denn ich denke, er wird einige Zeit brauchen, um die Trennung von seiner ersten Freundin zu verarbeiten. Aber ich glaube auch, dass du genauso Zeit brauchst, darüber nachzudenken, wie du jetzt weitermachen willst, wenn du vielleicht eine zweite Chance bei ihm haben kannst«, sagt Minji nach ein paar Augenblicken des Schweigens, in denen sich ihr Herz wieder beruhigt hat. Minhos nicht. »Ich will nur, dass du glücklich bist und dass du genügend Zeit hast zu entscheiden, ob du die mögliche Chance ergreifen willst, oder ob du die Sache einfach ruhen lassen willst und dich für eine reine Freundschaft mit Jisung entscheidest«, fährt sie fort und hebt langsam den Kopf von seiner Schulter, um ihm in die Augen zu sehen. Doch dieses Mal kann Minho nicht hinschauen und er ist derjenige, der nun den Kopf sinken lässt und an ihrer Halsbeuge versteckt, die noch ganz zart nach ihrem Parfüm riecht, das er ihr mal geschenkt hat.
»Ich verstehe, Minji, danke, dass du's mir gesagt hast«, nuschelt Minho nach so vielen, langen Momenten, in denen er versucht hat, alles zu verarbeiten. »Ich sag niemandem was, niemals. Ich weiß doch, dass du sonst keine Versprechen brichst.« Nun hält nicht nur sie sich dicht an ihm fest, sondern er sich auch an ihr, denn er hat seine zweite Hand genauso von der Arbeitsfläche genommen wie die erste und beide Arme um ihre Taille geschlungen. So als wäre sie das einzige, an dem er sich festhalten kann – oder, als ob er nicht mehr lange die Möglichkeit hätte, sich so an ihr festzuhalten. Denn; wenn Minho irgendwann mit Jisung zusammen sein will, dann muss er sich von Minji trennen. Auch wenn sie danach ja noch genauso beste Freunde sein können wie sie es jetzt sind... Was wird dann aus ihrem Leben? Wie reagieren ihre Eltern? Wie reagieren Minjis Eltern, wenn Minho sich vor ihnen outet und wohl oder übel zugeben muss, dass er nie so verliebt in ihre Tochter gewesen ist, wie er immer vorgespielt hat? Was sollen sie dann von ihm denken, wenn er zugibt, dass er sie eigentlich nur als Ausrede benutzt hat? Ganz egal, ob Minji zugestimmt hat oder nicht – anfangs war sie nichts weiter als eine Ausrede, um nicht zugeben zu müssen, dass er nicht hetero ist.
Aber jetzt ist sie so viel mehr als das. Sie ist seine beste Freundin, mit der er wirklich alles machen kann, ob es nun Pärchenkram ist oder nicht, und sie haben angefangen, sich gemeinsam ein Leben aufzubauen. Verdammt, wenn sie sich trennen und Minho mit Jisung zusammenkommen sollte – Minji und er wohnen zusammen. Sie teilen sich nicht mal nur eine Wohnung, sondern sogar ein Schlafzimmer, ein einziges Bett. Sie haben vor nicht so langer Zeit zwei kleine Kater adoptiert, von denen sich wahrscheinlich keiner von ihnen trennen könnte – und es wäre ja gar nicht möglich, in verschiedene Wohnungen zu ziehen. Das ist viel zu teuer. So, wie sie jetzt miteinander leben, ist es am praktischsten und am wirtschaftlichsten. Und noch viel mehr als das: Minho liebt sein Leben, wie es ist. Er hat sich schon so sehr daran gewöhnt, vor fast allen anderen Minjis fester Freund zu sein und dadurch zu verstecken, dass er eigentlich schwul ist. Es macht ihm gar nichts mehr aus, dass er einen Teil seiner Identität leugnet, solange er mit ihr zusammen ist, weil er vor ihr ja immer absolut ehrlich sein kann.
Jetzt die Vielleicht-Möglichkeit zu haben, doch eine richtige Beziehung mit seinem Schwarm anfangen zu können, in den er wirklich so richtig verliebt ist... Es ist verlockend. Es ist wirklich verlockend und eigentlich ja auch das, was Minho sich eine Zeit lang ganz offen, und während Jisungs Beziehung noch versteckt gewünscht hat.
Aber egal, wie verlockend es ist... Minho könnte auch so viel verlieren. Die Sicherheit, die Minji ihm gibt, solange sie ein Paar spielen. Das Vertrauen ihrer Familie und bestimmt auch ein bisschen das seiner eigenen. Natürlich liebt Minho seine Eltern und sie lieben ihn, aber bei ihnen zuhause wurde nie über Homosexualität gesprochen und er weiß einfach gar nicht, wie sie dazu stehen. Und sie sehen Minji als Teil der Familie an. Wenn sie herausfinden... Minho will gar nicht darüber nachdenken. Zumindest nicht jetzt, wo er sowieso so verwirrt ist.
»Hey, Minho... Du hast Zeit«, bringt Minjis Stimme ihn endlich wieder auf den Boden, nachdem er so lange im Chaos seiner Gedanken herumgeschwirrt ist. »Und ich bin da für dich. Egal wann, egal wo, egal wie. Für immer.« Sie will Minho mit ihren Worten beruhigen, doch ihre Stimme klingt ganz heiser und auch wenn sie die gute Freundin sein will, die sie ist, und Minho unterstützen möchte – sie steckt genauso tief in der Sache drin wie er. Und obwohl sie das beide wissen, überlässt sie die Entscheidung, wie es weitergehen soll, voll und ganz Minho. Nicht, um keine Verantwortung tragen zu müssen, ganz sicher nicht, sondern weil sie einfach das Beste für Minho will und ihr dafür alles recht zu sein scheint.
Und irgendwie... Das macht die Entscheidung noch schwerer für ihn. Denn sie zeigt ihm mal wieder, wie sehr sie ihn liebt, und er erkennt durch ihre Liebe mal wieder, dass er sie auch mehr liebt als sonst wen. Aber Jisung... Minho ist noch nie so sehr in jemanden verliebt gewesen wie in Jisung und er wird sich auch niemals so oder ähnlich in Minji verlieben, weil ihre Beziehung einfach anders ist.
Deswegen muss Minho darüber nachdenken – ganz ungeachtet dessen, ob Jisung sich überhaupt mal in ihn verliebt oder nicht, das kann ja weder Minji noch Minho vorhersehen oder beeinflussen – welche Art von Liebe er sich wünscht. Die, die ihm schon immer Sicherheit gegeben hat, oder die, wegen der er sich schon so oft gefühlt hat, als könne er schweben, aber die ihn genauso gut emotional schon in die Tiefe gerissen hat und es sicherlich auch wieder schaffen würde.
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Vielen Dank fürs Lesen! Ich hoffe, das Kapitel hat euch gefallen, und freue mich sehr über Feedback, denn das hilft mir sehr weiter. 🫧
Zuallererst – Entschuldigung, dass ich letzte Woche nicht geupdatet habe. Es war leider viel los und mir ging es auch nicht so gut, deswegen hatte ich manchmal entweder keine Zeit zu schreiben oder es ging körperlich nicht. Dafür ist das Kapitel heute nochmal etwas länger als die anderen vorher ((:
Könnt ihr Minhos Zwiespalt nachvollziehen? Und wüsstet ihr, wie ihr euch an seiner Stelle entscheiden würdet?
Ich persönlich würde wahrscheinlich die Route Sicherheit nehmen, aber ich bin bei sowas nicht der richtige Ansprechpartner, befürchte ich haha (und ich bin ein sehr, sehr anderer Mensch als Minho in meiner Geschichte, also macht er nicht alles so, wie ich es machen würde). Aber es ist nicht nur die Sicherheit, die mich in dem Zusammenhang an der Scheinbeziehung (wahrscheinlich) festhalten lassen würde, sondern auch das ganze Drumherum: Outing vor den Familien an sich und dann auch noch zugeben müssen, dass das ganze Verliebtsein nur gespielt war, die Wohnsituation und schließlich natürlich auch die beiden Katzen, die sie zusammen adoptiert haben...
Naja – genug geredet haha. Ich hoffe, euch geht's gut und wünsche euch eine gute Woche! 🧡
[11.12.23]
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