8. Die unheimliche Bibliothek

Mit langsamen Schritten betrat Tobias den unteren Bereich der völlig im Finsteren liegenden Bibliothek. Sein einziger Trost war der Halogen-Strahler seines Fahrrades, den er mit der rechten Hand fest umklammert hielt.

Er blieb zunächst bei der Besucher-Theke stehen, die den eigentlichen Zugang ins Innere darstellte und wo die unterste Etage der Bibliothek begann. Die Service-Theke sah entsetzlich verwaist aus. Auf den Tresen lag und stand überhaupt nichts - nicht einmal die Kugelschreiber zum Unterschreiben - und dahinter fehlten die Stühle, so weit Tobias das im Licht des Strahlers sehen konnte. Sonst war dies hier immer eine belebte Stelle: Studis standen am Tresen, weil sie entweder Bücher abgaben oder sich neue holten, und hinter der Theke hielten sich meist immer zwei oder drei Bibliotheksangestellte auf, die neue Bücher ausgaben, alte zurücknahmen oder für sonstige Fragen ansprechbar waren.

Tobias seufzte, weil ihn dieser Gedanke an die normale Welt erinnerte, an die hier erlebten Dinge, die er bisher für selbstverständlich erachtet hatte. Aber was nützte es?! Jetzt war er hier in dieser dunklen, "falschen" Version der Bibliothek und konnte nur hoffen, irgendeinen Hinweis zu Anne oder dem Professor zu finden.

Er leuchtete einmal in die Runde. Weit nach vorn in den Gang, wo die Haupttreppe war, konnte er aber nicht sehen. Wo sollte er hier eigentlich hin? Gleich nach oben zu gehen, wäre sicherlich nicht so ratsam. Wenn es hier irgendwelche Hinweise geben sollte, dann musste er planvoll vorgehen, damit er nichts übersah und eine Stelle vergaß.

Er entschied sich daher erst mal nach links zu gehen, um dort mit der Suche anzufangen. Von dort konnte man sich einmal in die andere Richtung des Erdgeschosses vorarbeiten. Bevor er aber losging, fiel ihm noch etwas Wichtiges ein. Er wandte sich ganz nach rechts und leuchtete an die Wand bei der Besucher-Theke. Richtig, da hing ein Informationskasten!
Tobias ging an ihn heran und fischte eine Broschüre der Bibliothek heraus. Er durchblätterte sie im Licht des Strahlers. Er hatte richtig vermutet. In der Mitte gab es eine Karte von den einzelnen Stockwerken.

Tobias steckte sich die Broschüre in die Gesäßtasche und ging dann den linken schrägen Gang herunter. Er ließ sich Zeit, leuchtete mit dem Halogen-Strahler die rechts von ihm auftauchenden Bücherregale ab. Ihm war wegen der Dunkelheit immer noch ziemlich mulmig zumute, aber er wollte sich nicht übermäßig beeilen. Es wäre zu ärgerlich, wenn er einen wichtigen Hinweis übersehen würde. Zum Glück war der Nebel im Inneren des Gebäudes nicht ganz so schlimm wie draußen, auch deswegen, weil hier alles enger beieinander stand.

Die Regale sahen auf den ersten Moment aus wie immer, doch schon bald bemerkte Tobias überall erhebliche Lücken. Erneut kam es ihm vor, als wandere er durch eine halbfertige Kulisse, eine unzureichende Nachbildung der echten Bibliothek. Der Gedanke beunruhigte ihn. Denn was war, wenn es hier ebenso wie draußen irgendwelche Lebewesen gab, die man in der normalen Version der Bibliothek nicht antreffen würde? Ein weiterer Grund, nicht zu schnell durch die dunkle Bib zu eilen, fand Tobias.

Langsam vorangehend leuchtete er immer wieder in die Gänge zwischen den Regalen hinein und wappnete sich jedes Mal darauf, irgendein unheimliches Viech zu sehen. Doch das Erdgeschoss schien wirklich verlassen zu sein. Zum Glück würde man hier jedes leise Tapsen oder Flattern sofort hören. Doch das Einzige, was Tobias hören konnte, war das zaghafte Geräusch seiner Tritte.

Als er fast am Ende des Ganges und damit am unteren Ende des Raumes war, fiel der Strahl seiner "Lampe" auf etwas Seltsames. Das fast letzte Regal am Gang war komplett ohne Bücher, allerdings leuchtete dort irgendetwas auf. Verwundert trat Tobias in den Gang zwischen diesem Regal und dem dahinter und sah sich die Sache an. 

Er staunte nicht schlecht. In dem Regal fehlten viele Zwischenböden in der Mitte. Dadurch konnte man direkt von oben auf einen der unteren Böden schauen, wo jemand mit einem Leuchtstift etwas drauf geschrieben hatte.

Tobias ging an das Regal heran und las die Nachricht. In verschnörkelten Buchstaben stand dort:

Willst du in die Tiefe gehen, 
musst du erst ganz oben stehen.

Tobias schüttelte den Kopf. Das wurde ja immer merkwürdiger! Wer hatte das hier hingeschrieben? Und wann? Vor allem fragte er sich, was das bedeuten sollte. In die Tiefe gehen? 

Hektisch drehte er sich nach allen Richtungen um. War hier doch noch jemand? Doch der Strahl der Halogen-Leuchte versickerte in jeder Richtung im Dunkeln, ohne etwas Nennenswertes anzustrahlen.

Tobias blickte erneut auf die seltsame Botschaft und überlegte. Das mit der Tiefe verstand er nicht, aber auf jeden Fall riet ihm hier doch jemand, nach oben zu gehen und zwar "ganz oben". Also war die oberste Etage gemeint - das 3. Obergeschoss. 'Dennoch kann es ja nicht schaden, alle Etagen abzusuchen', dachte Tobias.

Er holte die Broschüre hervor und leuchtete auf die Seite mit der Karte. Er zeichnete seinen bisherigen Weg ein und die Stelle mit der Leuchtschrift und überlegte. Im Prinzip brauchte er nur von dem Hauptgang in der Mitte nach "oben" zu gehen. Dann hätte er die Etage einmal komplett abgegangen. Tobias kreiste die beiden möglichen Treppen ein und besah sich seinen Plan.

Von der Stelle, wo er stand,war es ratsam, einfach den Gang nach "oben" zu nehmen. Dann konnte ersich erstmal die Haupttreppe beim Fahrstuhl genauer anschauen. Sollte mit der irgendwas nicht stimmen, blieb ihm immer noch die Wendeltreppe auf der hinteren Seite des Erdgeschosses.

Tobias nickte zufrieden und steckte sich den Plan ein. Langsam und zaghaft ging er dann den Gang auf der anderen Seite der Bücherregale entlang. Er leuchtete hierhin und dahin, entdeckte aber nichts. Eigentlich hätte er froh sein sollen, aber irgendwie machte einem die dauerhafte Einsamkeit auch zu schaffen. Er seufzte im Gehen und fragte sich, wo Anne wohl gerade sein mochte.

Als er an dem schrägen Geländer-Dreieck vorbei war, ging er nach links Richtung Haupttreppe. Doch beim Näherkommen stellte er fest, dass die Treppen nach oben einfach fehlten. Also gab es hier doch Veränderungen! Tobias schnaufte und sah sich um. Hinter ihm - gegenüber der Haupttreppe - lag der Fahrstuhl der Bibliothek, doch das nützte ihm erst recht nichts. Wie schon in seiner Wohnung gab es auch hier keinerlei Strom.

Er drehte sich wieder zur Treppe und erstarrte. Was war das? Auf dem Pfeiler neben der Haupttreppe hatte jemand etwas ins Metall eingeritzt. In verzogenen Buchstaben stand dort:

Hier war ein Loch.
Jetzt ist es weg.

Tobias schüttelte den Kopf. Was sollte das? Wieder so ein Rätsel!
Unruhig leuchtete er hin und her, sah aber nichts und niemanden. Wo kamen plötzlich nur all diese Sprüche her? Und was sollte das Ganze überhaupt?

Er schnaufte und rief sich zur Ordnung. Er musste jetzt planvoll vorgehen. Wenn die Haupttreppe nach oben fehlte und der Fahrstuhl nicht ging, gab es nur einen weiteren Weg nach oben: die Wendeltreppe am Ende des Raumes. Dort musste er jetzt hin. Denn er sollte ja nach oben, also muss es ja einen Weg dahin geben.

Mit diesen Gedanken ausgerüstet nickte Tobias sich selbst zu und ging an der Treppe vorbei. Er beleuchtete die Tische, die als Nächstes links neben ihm auftauchten, doch auf ihnen war nichts Auffälliges zu finden. Auch in den Regalen dahinter war nichts zu sehen. Trotzdem klopfte Tobias' Herz unaufhörlich in einem schnellen Tempo. Nach allem, was er bis jetzt erlebt hatte, wollte er einfach nicht glauben, dass in der Bibliothek nichts Unheimliches auf ihn lauerte.

Nachdem er auf der anderen Seite des Raumes nichts Auffälliges feststellen konnte, betrat er die Wendeltreppe, in deren Nähe er sich jetzt befand. Mit schnellen Schritten erklomm er ihre Stufen.

Auf Höhe der zweiten Etage staunte er nicht schlecht. Hier war außen um die gesamte Treppe eine Art straffes Gitternetz gespannt. Er kam also nicht auf das 1. Obergeschoss rauf. Tobias leuchtete durch das Gitter und versuchte irgendwo etwas zu erkennen. Natürlich sah er nicht wirklich was, aber waren da nicht komische Geräusche?

Er leuchtete hektisch umher, doch der Strahl seiner Halogen-Lampe fing nichts ein. Allerdings ließ sich nicht leugnen, das irgendetwas auf dieser Etage herumstapfte. Tobias schluckte nervös. Vielleicht war es ganz gut, dass er hier nicht auf dieses Stockwerk gehen konnte. Er ging die Treppe weiter hoch. Mal sehen, wie es mit der nächsten Etage aussah.

Er ging die paar Stufen im Kreis aufwärts und war schon bald in der dritten Etage bzw. dem 2. Obergeschoss. Hier gab es keine Absperrungen. Gleichzeitig hörte die Wendeltreppe auf. Tobias war sich aber gar nicht mehr sicher, ob das auch in der "normalen" Welt üblich war oder ob die Treppe nur hier in der "falschen" Bibliothek an dieser Stelle endete. Auf jeden Fall hoffte er, noch einen anderen Weg nach oben zu finden, denn eine Etage gab es ja noch. Erst im 3. Obergeschoss würde er "ganz oben stehen".

Tobias verließ den Bereich der Treppe und begann die nähere Umgebung abzusuchen. Erneut fand er nur halb volle Regale und verwaiste Tische. Er wandte sich einen der Gänge Richtung Fahrstuhl zu und ging langsam durch die vernebelte Dunkelheit. Er leuchtete bald hierhin, bald dorthin, fand aber nichts Auffälliges. 

Auf einmal hörte er wieder dieses stapfende Geräusch. Was war das?! Tobias leuchtete mit klopfendem Herzen nach links, in einen der Gänge zwischen zwei Bücherregalen. Irgendetwas bewegte sich dort in der Dunkelheit! Tobias konnte das Ding noch nicht so recht erkennen. Es sah aus wie ein menschlicher Schatten, der dort allmählich auf ihn zu kam, aber irgendwie wirkten die Schultern übermäßig breit.

"H-h-hallo?!", rief Tobias unsicher. Sein stapfendes Gegenüber gab keine Antwort, kam aber unbeirrbar näher. Irgendwas war auch an seiner Art zu gehen komisch, es schien etwas ungelenk hin und her zu watscheln.

Als der seltsame Körper im Licht des Halogen-Strahlers auftauchte, erschrak Tobias heftig. Langsam wich er zurück. Vor ihm watschelte ein deformiertes Wesen auf ihn zu. Es war grundsätzlich menschlicher Natur, allerdings mit verwestem Körper und Gesicht. Das war aber nicht das Schlimmste. Denn zu seinem Körper gehörte auch ein übergroßes Buch aus Fleisch, in das der menschliche Teil des Wesens eingebettet war. Dieses mit dem Wesen verwobene Buch, das das Ding wie eine Art auferlegtes Kreuz an seinem Körper herum trug, bewirkte auch den Eindruck von den breiten Schultern, bemerkte Tobias schauderhaft.

Beklommen wich er immer weiter zurück. Das Wesen schien es auf ihn abgesehen zu haben und kam weiter auf ihn zu. Mit einem Mal holte es mit seinen verwesten Armen aus und schlug die Hände in einer Art erregter Geste zusammen. Tobias stellte erschrocken fest, dass die Hände platte Buchdeckel aus Fleisch waren! Wenn man diese Dinger abbekam, tat das bestimmt schön weh.

Langsam ging er noch weiter rückwärts. Das konnte doch alles nicht wahr sein! Erst die Höllenhunde und die Flugmonster und jetzt das hier! Während er überlegte, was er tun könnte, prallte er plötzlich an eines der Geländer, die hinter ihm waren. Sogleich war ein metallenes Klirren zu hören. 

Hektisch drehte sich Tobias zum Geländer um. Was war denn jetzt schon wieder? Dann sah er am Rand des Abgrunds, der hinter dem Geländer lauerte, eine etwa ein Meter lange Metallstange liegen. Eines der Querstangen vom Geländer schien nicht richtig befestigt gewesen zu sein. 
Das war seine Chance! Tobias schnappte sich die Stange und blickte schnell zu dem Wesen hin. Es würde ihn gleich erreicht haben.

Die Stange war schwer mit einer Hand zu halten. Tobias umklammerte sie mit beiden Händen, wobei er den Halogen-Strahler mit umfasste und an der Stange fixierte. Er ging etwas vom Geländer weg, damit er nicht hinunter fiel, und schwang die Stange sogleich auf das zukommende Wesen. Er fühlte mehr, wo das Wesen war, als dass er es sah, weil der Strahler nun  parallel an der Stange entlang leuchtete. Doch während des Schwingens kam das Unding plötzlich ins Licht des mitgeschwungenen Halogen-Strahlers. 

Das Knirschen von Knorpel war zu hören, als Tobias mit der Stange die Nase des Unwesens traf. Sie brach zur Seite weg, fiel aber nicht ab, sondern hing dort unnatürlich zur Seite und gab den Blick auf zwei fleischige, verfaulte Nasenlöcher preis. Das Wesen stöhnte betroffen und taumelte rückwärts.

Tobias musste schlucken. Ihm kam fast das Kotzen, nicht nur wegen der Nase, sondern weil das Ding  aus allen Poren zu stinken schien. Aber er konnte hier nicht einfach stehen bleiben! Dieses Monster war nur kurz angeschlagen, würde aber sicherlich gleich erneut versuchen anzugreifen.

Bevor das Ding sich erholt hatte, nahm Tobias die Stange wieder in die rechte Hand und lief an dem Monster vorbei. Am Ende des Geländers eilte er nach rechts. Er war jetzt beim Fahrstuhl.

Plötzlich sah er genau vor sich ein weiteres dieser Buchwesen auftauchen. Er prallte erschrocken zurück. Hinter ihm war bereits das andere Ding wieder zu hören, das ihm auf den Fersen war. Wo sollte er hin, verdammt?!

Hektisch leuchtete er umher. Dann staunte er nicht schlecht. Die Treppen! Gegenüber vom Fahrstuhl sah man, wie die Haupttreppe nach oben führte. Die nach unten fehlte, so wie im Erdgeschoss. Aber ab diesem Stockwerk war die Treppe anscheinend wieder da.

Tobias überlegte nicht lange. Bevor die Dinger ihn in die Zange nehmen konnten, stürzte er auf die Treppe zu und eilte in die oberste Etage. Hier sollte er ja sowieso hin - zumindest, wenn man dem Spruch aus dem Erdgeschoss trauen konnte. Doch welche Wahl hatte er schon groß?!

Im obersten Stockwerk angekommen, entfernte Tobias sich möglichst schnell von der Treppe. Unsicher sah er sich um. Würden die Dinger ihm folgen? Auszuschließen war das nicht, allerdings waren diese Viecher nicht besonders schnell.

Er sah wieder nach vorn und überlegte. Wo könnte hier ein Hinweis sein? Irgendwie hatte er das Gefühl, dass er hier etwas finden würde. Während er noch überlegte, hörte er wieder diese stapfenden Geräusche. 'Oh nein!', dachte Tobias, 'hier oben also auch!' Das konnte ja heiter werden.

Er leuchtete in verschiedene Richtungen, konnte aber nichts erkennen. Trotzdem hörte es sich so an, als kämen mehrere Wesen aus verschiedenen Richtungen auf ihn zu. Dann fiel ihm etwas ganz Banales ein: wegen des Lichtes aus dem Strahler stand er ja förmlich auf dem Präsentierteller in dieser Dunkelheit! Kurzerhand knipste Tobias den Strahler aus. Die totale Finsternis hüllte ihn sofort ein.

Zunächst blieb er noch etwas dort stehen und lauschte. Die Wesen kamen scheinbar weiter auf ihn zu. Aber sie konnten ihn jetzt nicht mehr sehen! Langsam bewegte sich Tobias von der Stelle. Wenn er sich leise verhielt, konnte keines der Wesen wissen, wo er gerade war.

Er sah im Prinzip gar nichts, ganz gleich, wohin er blickte. Allerdings waren alle Etagen ja identisch aufgebaut und da er sowieso schleichen musste, konnte er sich langsam vorarbeiten. Er tastete sich zunächst zum Fahrstuhl voran, der in jeder Etage ja so eine Art Mittelpunkt darstellte. Von dort tappte er quer über den Gang bis zum nächstbesten Regal vor ihm. Als er es erreichte, schlich er am Regal entlang und ging einfach gerade aus.

Mit einem Mal kam er an die Wand. Das hatte Tobias auch bezweckt. Hier an der Außenwand, abseits von den Gängen, würde er sicherlich auf keines der Viecher stoßen. Er tastete sich an der Wand entlang Richtung Südseite der Bibliothek. 

Nach einer Weile schlich er wieder Richtung Hauptgang zurück. Mittlerweile war von den Monstern nichts mehr zu hören. Tobias hoffte, dass hier keine weiteren Überraschungen auf ihn lauerten. 

Er schaltete den Halogen-Strahler ein und leuchtete umher. Nichts war zu sehen oder zu hören. Das Gefühl der Metallstange in seiner rechten Hand vermittelte ihm zudem ein Gefühl der Sicherheit. Er ging den Gang weiter runter und stoppte plötzlich. Ihm fiel ein Bücherregal am Ende des Ganges auf. Irgendwelche bunten Platten lagen darauf.

Tobias eilte an dieses Regal heran. Zwölf farbige, kleine Platten aus Metall lagen darauf verstreut. Jedes Plättchen war 10 Zentimeter lang und breit. Jedes hatte irgendeine Art von Bild eingraviert.

Tobias schaute verwundert. Was sollte das denn? Er sah sich nochmal um und lauschte hinter sich. Aber es war kein Stapfen zu hören.
'Noch nicht', kam ihm in den Sinn. Was auch immer diese Plättchen für eine Funktion hatten, er sollte sich möglichst beeilen, dies herauszufinden.

Er sah sich die Motive in Ruhe an. Jedes schien eine bestimmte Situation darzustellen. Auf einem war ein Mann mit Bogen dargestellt, um den Vögel herumkreisten. Auf einem anderen konnte Tobias einen Mann sehen, der etwas von einem Baum pflückte. Wiederum auf einem anderen konnte er einen Mann erkennen, der einen Stier von der Seite an den Hörnern packte.

Das kam ihm doch irgendwie bekannt vor! Er schob die Plättchen nacheinander vor sich her und suchte nach etwas Auffälligem. Ihm fiel auf, dass immer irgendein Mann zu sehen war, der etwas ausführte. Der Abgebildete schien auch immer gleich auszusehen - war es vielleicht auch der Gleiche? 

Schließlich entdeckte er ein Motiv, auf dem der Mann einen abgeschlagenen Kopf hochhielt, an dem Schlangen herum zischelten. Und dann fiel bei ihm der Groschen! Zwölf Plättchen - alle mit einem Mann, der etwas tat. Das sind die zwölf Aufgaben des Herkules! Der Kopf mit den Schlangen symbolisiert die Hydra, die Herkules besiegte. Doch welchen Sinn hatte das hier?

Tobias hörte ein Geräusch und wandte sich um. Das Stapfen der Buch-Monster war wieder leicht zu hören. Diese Dinger hatten den Lichtschein bemerkt und kamen allmählich in seine Richtung.

Schnell klaubte er alle zwölf Plättchen auf und ging in den Gang zurück. Vielleicht konnte er an der hinteren Außenwand nach links entweichen. Er eilte zum Ende des Ganges und blieb plötzlich erstarrt stehen. Vor ihm an der Außenwand prangten seltsame Einlassungen in der Wand. Davor stand ein Tisch, auf dem ein einzelnes aufgeschlagenes Buch lag.

Verwundert trat Tobias an die Stelle heran. Das aufgeschlagene Buch sah extrem alt und vergilbt aus. Auf der aufgeschlagenen Doppelseite waren nur auf der rechten Seite einige wenige Zeilen zu sehen. Was zum Henker sollte das bedeuten?

Tobias drehte sich schnell nochmal um und vergewisserte sich, ob die Buch-Monster noch weit weg waren. Da das der Fall war, leuchtete er auf den Spruch im Buch. Er erschrak kurz, als er bemerkte, dass die Zeilen mit Blut geschrieben waren. Auch das noch! Er wollte gar nicht wissen, woher dieses Blut stammte.

Er schüttelte sich und besah die Buchstaben. In fein geschwungener Schrift stand dort folgender Spruch:

Es ist der starke Mann, der über alles wacht,
der einst zwölf Aufgaben ziemlich schnell vollbracht,
der einzig wahre Held.

Ordne all die Taten, die er einst gemacht,
dann wird der dunkle Weg eigens für dich entfacht - 
das Tor zur Unterwelt.

Tobias staunte nicht schlecht. Wieder so ein Spruch mit mysteriösen Reimen. Der "starke Mann" - okay, das sollte wohl Herkules sein, aber was meinte der Spruch mit dem "Tor zur Unterwelt"? Irgendwie war Tobias nicht sonderlich scharf auf eine Antwort darauf.

Er sah sich nochmals um und wurde sogleich nervös. Das Stapfen war wieder etwas lauter zu hören. Wenn er hier etwas tun konnte, sollte er es bald hinter sich bringen!

Er leuchtete an die Wand und besah sich die Einfassungen. Sie waren quadratisch und nicht besonders groß. 'Moment mal!', dachte Tobias und hielt eines der Plättchen an eine Einfassung. Es ließ sich problemlos einsetzen. Jetzt begriff er! Er leuchtete die Wand ab und zählte die Vertiefungen. Tatsächlich! An der Wand waren genau zwölf quadratische Einfassungen nebeneinander zu einer Reihe angeordnet. Und er hatte genau zwölf quadratische Plättchen in der gleichen Größe.

Er überlegte kurz. "Ordne die Aufgaben...", murmelte er leise vor sich hin. Na klar! Er sollte die zwölf Plättchen mit den Herkules-Aufgaben in genau der richtigen Reihenfolge hier einsetzen. Dann würde irgendwas passieren - so war der Spruch offensichtlich gemeint. Zum Glück kannte Tobias sich mit griechischer Mythologie und mit der Götterwelt aus. Es war eines seiner Lieblingsthemen in Alter Geschichte. Erst vor kurzem hatte er sich damit beschäftigt.

Er suchte das Plättchen mit einem Löwen drauf und steckte es in die ganz linke Einfassung. Das war die erste Aufgabe gewesen. Daneben setzte er das Plättchen mit dem Hydra-Kopf ein, denn das Erschlagen der Hydra war die zweite Aufgabe.

Hinter ihm wurde das Stapfen allmählich zu laut. Tobias stöhnte auf und beschleunigte das Einsetzen. Als er alle Platten angeordnet hatte, passierte nichts. 'Irgendwas stimmt nicht', kam es ihm in den Sinn. Er besah sich nochmal die Plättchen in der Mitte. Bei einigen Aufgaben von Herkules war er sich noch nie ganz sicher gewesen. 

Er betrachtete die Einfassungen in der Mitte und überlegte. War das Ausmisten des Stalles nicht vor der Vertreibung der Vögel gewesen? Tobias wusste es nicht genau. Zweifelnd nahm er die Plättchen Fünf und Sechs wieder heraus und tauschte sie.

Kaum hatte er das getan, hörte er hinter sich ein maschinelles Geräusch und bemerkte auch einen Lichtschein. Er drehte sich um und erstarrte. Da wo der Fahrstuhl sein müsste, war jetzt ein Lichtschimmer zu erkennen. Doch gleichzeitig sah er dadurch jetzt auch die beiden Buch-Monster, die von vorne und von der Seite auf ihn zukamen und die schon ziemlich nahe waren.

Tobias überlegte nicht lange. Er stürmte direkt nach links, an einem der Regale entlang bis zu der Wand zurück, an der sich vorhin entlang getastet hatte. Dort machte er seinen Strahler wieder kurzerhand aus. Das bisschen Licht, das aus dem Fahrstuhl zu kommen schien, reichte völlig, um sich im Dunkeln zurecht zu finden.

Tobias schlich langsam an der Wand entlang. Die Viecher hatten ebenfalls eine andere Richtung eingeschlagen und schienen ihm nachzugehen. Mit klopfendem Herzen arbeitete sich Tobias an der Wand vor. Gleich war er auf Höhe des Fahrstuhls. Dann würde er nach rechts preschen und in diesen hinein eilen. 

Plötzlich hörte er vor sich ein Schnauben. Er stoppte und schaltete kurz das Licht ein, um nach vorne zu leuchten. Im nächsten Moment war direkt vor ihm eines dieser Buch-Dinger zu sehen, das ihm den Weg von vorne versperrte.

"Scheiße!", brüllte Tobias erschrocken, nahm die Stange wieder samt Halogen-Strahler in beide Hände und schlug auf das Ding ein. Es stöhnte auf und schien zu schimpfen. Tobias schlug wieder zu und traf den Schädel. Das Monster holte mit seinen gruseligen Buchdeckel-Händen aus und schlug in Tobias' Richtung.

Dieser war aber geistesgegenwärtig zurückgesprungen, sonst hätte ihn das Ding vermutlich umgehauen oder zumindest die Stange aus den Händen geschlagen. Tobias wartete bis der Angriff des Buchwesens ins Leere ging und holte dann aus. Bevor das Monster seine platten Handteller wieder zurückziehen konnte, traf Tobias es an einer dieser Hände. 

Es knackte knorpelig, dann sah Tobias, wie die linke Buchdeckel-Hand des Dings auseinander matschte und abfiel. Das Monster kreischte auf und taumelte zurück, wobei es irgendwie versuchte, seinen knorpeligen Stumpf mit der anderen platten Hand festzuhalten. Es sah einfach nur total merkwürdig aus.

Tobias war das egal. Sowie das Ding zurück getaumelt war, eilte er schnell an dem wuchtigen Körper vorbei. Dabei nahm er einen Gestank nach verfaultem Fleisch und Verwesung wahr. Ihm wurde sofort schlecht, aber zum Glück währte der Geruch nur kurz.

Endlich war er nun auf Höhe des Fahrstuhls. Er eilte durch den Quergang in Richtung Treppe und Fahrstuhl zu.
Und dann sah er es. Der Fahrstuhl war tatsächlich plötzlich in Betrieb. Seine Türen standen einladend weit offen. Aus ihnen heraus drang das Licht der Innenkabine in die dunkle Etage hinaus. Deswegen hatte man also plötzlich einen Lichtschein wahr genommen.

Tobias betrat schnell den Fahrstuhl. Vielleicht kam er von hier jetzt auf das 1. Obergeschoss bzw. die zweite Etage. Dorthin konnte er ja vorhin nicht gehen und sie nicht untersuchen.

Er drückte einen der Knöpfe, doch nichts passierte. 'Komm schon!', dachte Tobias erregt. Schon hörte er, wie das Stapfen der Buchmonster näher kam. Doch zum Glück schlossen sich gerade in diesem Moment die Türen.

Tobias drückte die Knöpfe für die Etagen, doch nichts passierte. Er wollte sich gerade fragen, warum er hier eigentlich rein gehen sollte, als ihm etwas Merkwürdiges auffiel. Ein Stückchen unterhalb der Knöpfe für die Etagen, befand sich noch ein weiterer Knopf. Darauf stand ein "U", als wenn das Untergeschoss gemeint war.

Tobias runzelte die Stirn. Zwar hatte die Bibliothek tatsächlich ein Untergeschoss, doch soweit er wusste, konnte man mit dem Fahrstuhl eigentlich nicht dorthin fahren. Aber er hatte bis jetzt schon so viele Merkwürdigkeiten erlebt, das ihn bald gar nichts mehr wunderte.

Er drückte den Knopf und tatsächlich setzte sich der Fahrstuhl nach unten in Bewegung. Tobias starrte auf das "U". Gerade, als ihm einfiel, dass auch das Wort "Unterwelt" mit einem "U" anfing, geschah etwas Seltsames. Ohne Vorwarnung hörte er plötzlich sonderbare Stimmen im Kopf und das Bild um ihn herum flackerte merkwürdig. Im nächsten Moment fiel das Licht im Fahrstuhl aus.

Das Piepen und Summen in seinem Kopf wurde immer schlimmer. Tobias hielt sich die Hände an die Stirn und sackte zu Boden. Fast glaubte er, Sirenen in der Ferne zu hören. Verdammt, diese Kopfschmerzen! Was war denn hier nur los? Stöhnend wälzte er sich auf dem Boden des Fahrstuhls, der seltsamerweise immer noch weiter nach unten fuhr, obwohl es hier unmöglich so weit runter gehen konnte.

Irgendwann ruckelte es und der Fahrstuhl kam zum Stehen. Sogleich hörten die Geräusche auf. Erleichtert rappelte Tobias sich auf und schaltete das Licht ein. Er staunte nicht schlecht. Der Fahrstuhl sah jetzt merkwürdig bizarr aus. Statt der üblichen hellen Wände, erblickte Tobias rostige Metallplatten um sich herum.

Er erschrak. Was war denn jetzt los? Auf der Tür des Fahrstuhls, die jetzt ebenfalls aus Metall war, prangte leuchtend rot das Sonnenkranz-Symbol, ihm auch bekannt als "halo of the sun". Entsetzt sprang Tobias ein Stück zurück. Was ist hier bloß los? Woher kommt das Symbol so plötzlich? Ist das denn nicht mehr der Fahrstuhl der Bibliothek?

Bevor er diesem Gedanken nachgehen konnte, öffnete sich die Fahrstuhltür. Das Sonnenkranz-Symbol teilte sich und gab den Blick auf das Untergeschoss der Bibliothek frei. Also - das angebliche Untergeschoss. Denn als Tobias langsam den Fahrstuhl verließ, wollte er seinen Augen nicht trauen.

Der gesamte Raum vor ihm bestand aus verrosteten Metallwänden. Der Boden war ebenfalls durchgehend aus Eisenplatten. Er konnte einige Buchregale ausmachen, aber auch die bestanden jetzt aus verrostetem Metall und waren zudem stark verzogen, so als waren sie schon einmal fast zerschmolzen und erst im letzten Moment abgekühlt worden.

Tobias bewegte sich ein Stück vom Fahrstuhl weg und blickte hilflos umher. Das sah noch aus wie die Bibliothek, aber was waren das jetzt nur für veränderte Räumlichkeiten? Ein Schrecken durchzuckte ihn, als ihm plötzlich die Vision seines Zimmers einfiel, die er gehabt hatte, als Anne verschwand. Ja, genau so, mit all diesen verrosteten Metallwänden und dem Boden aus Eisen hatte doch auch sein Zimmer ausgesehen.

Tobias begriff allmählich, was hier los war. Die Hinweise hatten von einer Unterwelt gesprochen, von einem Gang in die Tiefe. Bis zu diesem Moment hatte er geglaubt, diese seltsame Welt im Nebel war die Anderwelt gewesen - die "Otherworld", die der Professor in seinem Tagebuch erwähnt hatte. Doch anscheinend hatte er sich geirrt. Anscheinend war dies hier vor ihm erst die wahre Ansicht der Anderwelt.

Mit zitternder Hand umklammerte Tobias die Stange und leuchtete beklommen umher. Er hatte die entsetzliche Ahnung, dass der wahre Albtraum jetzt erst so richtig begonnen hatte.





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