6. Plötzlich im Nebel
Tobias hielt den scheinbar verbrannten Talisman unter das warme Wasser. Zunächst passierte nichts, doch dann lösten sich die verkrusteten Rückstände an dem Symbol allmählich ab.
'Hab ich's doch gewusst!', dachte sich Tobias. Wenn der Talisman schon nicht wirklich verbrannt war, war auch dieser Ruß wahrscheinlich falsch und ließ sich ganz einfach abwaschen. Und genauso verhielt die Sache sich auch. Die verkrusteten Partikel auf dem Symbol lösten sich mühelos und kurz darauf offenbarte der Talisman seine wirkliche Gestalt.
Tobias musste schlucken. In perfektem Silber sah er genau die Symbole vor sich, die er eben noch als Abbild im Tagebuch des Professors gesehen hatte. Spätestens jetzt bestand kein Zweifel mehr: hier vor sich hatte er den "halo of the sun" - das Symbol dieses mysteriösen Ordens aus Silent Hill.
Tobias ging langsamen Schrittes zurück zu seinem Schreibtisch, den Talisman etwas ungelenk vor sich haltend. Auch wenn er es nicht zugeben würde: er hatte etwas Angst vor diesem Siegel. Das, was er im Tagebuch gelesen hatte, war schon schlimm genug. Aber dieses verfluchte Ding war offenbar auch dafür verantwortlich, dass Anne verschwunden war - und natürlich auch der Professor!
Tobias setzte sich bedächtig hin. Langsam drehte er das Siegel in seiner Hand hin und her. Der Professor wollte sich zuletzt die eingravierten Symbole anschauen, um etwas herauszufinden, das gegen den Orden half. Doch was sollte man da schon erkennen? Soweit Tobias das einschätzen konnte, stellten die Eingravierungen entweder Runenzeichen dar oder eine andere unbekannte Sprache.
Plötzlich spürte er eine Kraft. Der Talisman wurde warm - nein sogar heiß! Erschrocken ließ er ihn fallen. 'Was passiert jetzt?', fragte er sich angespannt. Mit einem Mal setzte ein stechender Schmerz in seinem Kopf ein. Es war, als umfasste irgendetwas sein Gehirn mit Fingern. Gleichzeitig nahm er plötzlich Stimmen in einer seltsamen Sprache wahr.
Bevor er irgendetwas Anderes denken konnte, überschlugen sich die Ereignisse. Der Talisman vor ihm begann zu leuchten. Die eingravierten Symbole waren plötzlich rot und blendeten ihn. Tobias schluckte. Alles um ihn herum flimmerte und schien zu verschwimmen. In seinem Kopf waberten tausende Flüsterstimmen und die Luft im Raum schien zu vibrieren.
Plötzlich wurde er von einem starken Sog erfasst. Es war als würde er in mehrere Richtungen gleichzeitig gezerrt werden. Sein Kopf tat höllisch weh. Verdammt, wie das ziepte! Tobias schrie schmerzvoll auf.Er bemerkte, wie sich das Bild um ihn herum immer mehr auflöste. Selbst das Siegel waberte undeutlich vor ihm auf und ab. 'Der Talisman! Ich muss ihn festhalten!', durchzuckte es ihn geistesgegenwärtig und er umschloss das Artefakt mit beiden Händen.
Sogleich war das Symbol wieder deutlicher zu sehen. Es fühlte sich auch gar nicht mehr so heiß an, aber leuchtete so hell, dass Tobias die Augen schließen musste. Gleich darauf gingen ihm viele Bilder durch den Kopf. Seltsame Figuren und Ungeheuer erschienen in schneller Abfolge vor seinem Auge und verschwanden sogleich wieder. Gleichzeitig hörte er immer mehr verzerrende Geräusche voller Rauschen und Piepen.
In seinem Kopf wirbelte alles durcheinander. Das Piepen, Schnarren und tiefe Stöhnen in seinen Ohren schien überhand zu nehmen und sich so schnell abzuwechseln, als hatte jemand tausend Radiosender zugleich auf seinen Kopf gelenkt. Zugleich sah er jetzt ganz viele Bilder in wilder Abfolge, trotz geschlossener Augen.
Die Situation wurde schier unerträglich. Tobias zuckte schreiend auf seinem Stuhl herum. Er hatte jetzt das Gefühl, als würde er fallen, doch er fiel nicht nach unten, sondern irgendwie seltsam zur Seite hin. Im nächsten Moment kam es ihm sogar vor, als drehte sich der Stuhl im Uhrzeigersinn im Raum herum, gerade so, als wäre er als Zeiger an einer großen Uhr befestigt worden.
Mit einem Mal verhallten die Geräusche geradezu plötzlich. Tobias traute sich, kurz zu blinzeln und sah nur noch helles Licht um sich herum. Schnell schloss er wieder die Augen. Im nächsten Moment ließ das Gefühl des Fallens ebenfalls nach und die Geräusche hörten endgültig auf.
Tobias öffnete seine Augen. Im ersten Moment glaubte er, kopfüber an der Decke zu sitzen, aber dem war nicht so. Er saß immer noch an seinem Schreibtisch wie zuvor. Dennoch hatte er das Gefühl, als wirkte die Erdanziehungskraft irgendwie von oben her, so dass er jeden Moment "hoch fallen" würde. Doch irgendwie ließ dieses komische Gefühl nach, bevor er es richtig verstand. Im nächsten Augenblick hatten sich seine Sinne wieder geordnet und er sah das Zimmer richtig herum vor sich.
Sogleich kam ihm etwas komisch vor, das er noch nicht so ganz einordnen konnte. Das Zimmer war irgendwie dunkler, aber vermutlich war das nur eine Folge des extrem hellen Lichtes, das er gerade gesehen hatte. Trotzdem - irgendwas passte hier nicht.
Dann sah, was los war. Sein Schreibtisch - er war viel zu ordentlich! Wo waren seine ganzen Sachen, die hier eben noch gelegen haben? Seine Ordner, sein Tablet - alles verschwunden! Das einzige, was da lag, war das Tagebuch von Professor Hayden, auf das er seine Arme aufgestützt hielt. Alles andere fehlte!
Tobias konnte sich das nicht erklären. Sein Blick fiel auf das Siegel, das er immer noch in den Händen hielt. Was war das? Wo waren die Symbole? Tobias blinzelte, da es immer noch so dunkel im Zimmer war, doch so sehr er auch auf den Talisman starrte: die Symbole und Eingravierungen, die er als "halo of the sun" kennengelernt hatte, waren komplett verschwunden. Der Talisman war nur noch ein rundes silbernes Medaillon ohne jedwede Verzierung!
Verwundert legte er das Siegel ab und rieb sich die Augen. Allmählich fiel ihm etwas ganz Anderes auf: obwohl der Lichtblitz jetzt ein paar Augenblicke her war, war das Zimmer um ihn herum immer noch in so einem merkwürdigen Schummerlicht. Dabei hatte doch eben noch die Sonne herein geschienen.
Tobias stand langsam auf und sah sich jetzt richtig im Zimmer um. Tatsächlich war es um ihn herum viel dunkler geworden. Er ging zum Fenster und staunte nicht schlecht: draußen war die gesamte Stadt plötzlich in einem ziemlich dichten Nebel eingehüllt. Er konnte gerade noch so die vordere Seite der "Kiste" erkennen, die etwas entfernt auf der anderen Seite der Straße war.
'Das gibt's doch nicht!', war Tobias erster Gedanke. 'Wo kommt all der Nebel plötzlich her?' Verwundert schaute er weiterhin nach draußen und sah hin und her. Irgendetwas störte ihm an dem Bild da draußen. Dann bemerkte er, was es war. Niemand, weder Mensch noch Tier war zu sehen! Kein Fußgänger, kein Fahrradfahrer, kein Autofahrer! Das konnte doch gar nicht sein!
Allmählich begann Tobias Herz wild zu klopfen. Aber so sehr er auch nach draußen starrte: nicht ein Lebewesen war zu sehen. Selbst rechterhand, wo die große Makarenkostraße verlief, kam kein Auto entlang. Das konnte doch gar nicht sein, es sei denn... 'Es sei denn, das ist nicht das richtige Greifswald...' Der Gedanke kam völlig unerwartet und verursachte Tobias ein unschönes Ziehen in der Magengegend.
Unruhig sah er wieder nach draußen. Er hoffte, irgendetwas zu sehen, was ihn wieder beruhigen würde. Die Straßenzüge sahen aus wie sonst und doch wirkte jetzt alles völlig anders. Wegen dieses Nebels. Doch dann fiel Tobias noch etwas Weiteres auf, wodurch der Anblick der Häuserzeile so anders wirkte: irgendwie standen dort draußen zu wenig Autos. Es hörte sich absurd an, doch wenn man genau hinsah, war zu erkennen, dass auf den Parkplätzen gegenüber und auch an den Straßenseiten viel weniger Autos wie sonst standen. Deutlich weniger.
Tobias sah zu seinem Aufgang nach unten und hielt Ausschau nach den Fahrrädern. Nur noch ein einziges stand vor der Tür, nämlich sein eigenes. Er blickte wieder in den Nebel der Straße und sah auch - so weit er gucken konnte - nur hier und da mal ein Fahrrad stehen. Auch viel zu wenige! Erst recht in einer Studentenstadt wie Greifswald.
Sein Herz hämmerte. Zu wenig Autos und Fahrräder. Es war, als... "Als hätte jemand Greifswald als Kulisse nachgebaut aber nicht bis ins Detail", murmelte Tobias leise vor sich hin. Der Gedanke hatte etwas Verstörendes. War das also nicht mehr das echte Greifswald? Konnte das die Erklärung sein?
Doch wie wollte er sonst den Nebel erklären? Eine Geschichte von Stephen King fiel ihm ein, die er mal vor Jahren gelesen hatte. Darin war ein ominöser Nebel über eine Stadt hereingebrochen und hatte allerlei Monster mitgebracht. Die Geschichte erzählt davon, wie eine Handvoll Überlebender sich in einem Einkaufszentrum verbarrikadieren und versuchen, das beste aus der Situation zu machen.
Doch scheinbar war dies hier ganz anders. Dass der Talisman die Welt in den Nebel stürzen konnte, das war ja vielleicht denkbar. Doch wie sollte er zeitgleich alle Menschen verschwinden lassen können? War es nicht vielleicht eher so, dass er Derjenige war, der für alle Anderen verschwunden ist?
Tobias trat vom Fenster zurück und schluckte. Er sah sich erneut in seiner Wohnung um. Auch hier schien die Einrichtung wie immer auszusehen. Doch wenn er genauer hinsah - fehlte nicht überall irgendein Detail? Schnellen Schrittes ging er zum Schreibtisch und öffnete die Schubladen seines Rollis. Leer! Und zwar gleich alle! 'Das kann doch nicht...', dachte Tobias erregt. Sein Blick fiel auf den Tisch. Die Sachen, die drauf gelegen hatten, fehlten ja sowieso schon.
Angespannt ging Tobias ins Bad. Hier fehlten sämtliche Reinigungsmittel im Schrank. Auch die Küche glänzte mit fehlenden Utensilien. In den Schubladen gab es kein Besteckkasten mehr, auf dem Gewürzregal standen einsam und allein nur einmal Pfeffer und einmal Salz und von seinen ganzen Kaffeetassen gab es nur noch zwei - wenigstens seine Lieblingstassen.
Tobias machte die Küchenschränke zu und ging laut schnaufend zu seinem Schreibtisch zurück. Er hatte eigentlich genug gesehen. Es konnte nur eine Erklärung geben: dies hier war nicht mehr das richtige Greifswald, die Stadt, wie sie jeder sieht und kennt. Der Talisman musste ihn in eine Art parallele Welt versetzt haben, eine Art "falsches Greifswald", in dem nur alles scheinbar genau wie in der Realität aussah.
Er nahm den Talisman vom Tisch auf und betrachtete ihn nachdenklich. Noch immer war das Sonnenkranz-Symbol darauf verschwunden. "Hmm", sagte Tobias leise, "selbst du wirkst wie ein falsches Requisit in einer Kulisse." Er grinste vor sich hin. Seine Stimme zu hören, hatte fast etwas Tröstendes in dieser Stille. Sein Blick fiel auf das Tagebuch des Professors. Der Gelehrte hatte von einer "Otherworld" geschrieben. War er dort etwa jetzt angekommen? War das etwa das Geheimnis des Ordens? Dass es diese Welt wirklich gab?
Er steckte sich den Talisman in die Hosentasche und nahm das Tagebuch an sich. Er blätterte es nochmal durch und überflog die entsprechenden Passagen. Allmählich kehrten seine Gedanken wieder zum Wesentlichen zurück. Natürlich! Er war jetzt in einer anderen Version der bekannten Welt - eine Anderwelt! Und das konnte doch nur Eines heißen: dass der Professor auch hier sein musste - und natürlich Anne!
Tobias eilte mit dem Tagebuch in der Hand zum Fenster und starrte angestrengt nach Osten. Aber weiter als bis zur "Kiste" konnte er nicht sehen, geschweige denn bis zum Ernst-Thälmann-Ring oder Annes Block. Er drehte sich um und ging beschwingt in den Flur. Er zog sich die Jacke an und steckte sich das Tagebuch wieder in die linke Brusttasche. Endlich kehrte sein Unternehmergeist zurück. Es mochte sein, dass niemand draußen zu sehen war, aber zwei weitere Menschen waren auf jeden Fall hier: Anne und der Professor. Und die musste er jetzt finden.
Tobias schlüpfte in seine Schuhe, öffnete seine Wohnungstür und ging in den Treppenflur. Dabei erschrak er sofort, weil er feststellte, dass auch im Flur dichter Nebel hing. 'Was für ne kranke Scheißwelt ist das denn hier nur?!', ging es ihm durch den Kopf. Er drückte den Lichtschalter. Nichts passierte. 'Jetzt sag nicht...', dachte er und ging mit Schuhen wieder in seine Wohnung. Aber welchen Schalter er dort auch drückte, keine Lampe und kein Gerät ließ sich anschalten. Strom gab es in dieser falschen Stadt also auch nicht - wunderbar!
Tobias ging eilig nach unten vor die Tür. Zum Glück stand sein Fahrrad noch vor dem Block, wo er es vorhin angeschlossen hatte. Draußen wirkte die Umgebung noch unwirklicher. Kein Windhauch wehte, kein Geräusch war zu hören. Tobias hatte fast den Eindruck, taub zu sein, würde er nicht das Tappen seiner Schuhe und das Rascheln seiner Jacke hören. Unsicher ging er ein paar Schritte auf die Straße hinaus und blickte mehrmals nach links und rechts. Nichts zu sehen, nichts zu hören. Wirklich gar nichts.
"Hallo?", rief Tobias unsicher nach links. Keine Reaktion. "Haaallooooooo!!", brüllte er daraufhin nach rechts. Sowie er den Ruf gestoppt hatte, war seine Stimme verklungen. Kein Echo war zu hören. Offenbar konnte der Nebel den Schall genauso verschlucken wie das Licht. Und natürlich reagierte wieder Keiner. "Na großartig", murmelte Tobias und machte missmutig sein Fahrrad los.
Aber wenigstens konnte er jetzt Anne finden. Wenn sie vorhin erst verschwunden ist, sitzt sie vielleicht immer noch drüben in dem Wohnblock dieser alternativen Stadt. Dachte Tobias und fuhr eilig los. Doch hinter der "Kiste" musste er plötzlich hart bremsen. "Was ist das denn?!", rief er laut aus und stoppte geradeso vor dem plötzlichen Abgrund, der vor ihm im Nebel aufgetaucht war. Fassungslos sah Tobias nach vorn. Mitten auf der Straße klaffte ein riesiger Abgrund. Tobias starrte nach links und rechts. Das Ding schien kein Anfang und kein Ende zu haben.
'Das gibt's doch nicht!' dachte Tobias mit klopfendem Herzen. Er schob das Fahrrad nach rechts auf die andere Straßenseite, aber der Abgrund war auch dort überall. Der Plattenbau auf der rechten Seite, der hier gleich hinter dem anderen kommen musste, war auch nicht zu sehen. Als wäre er mit in die Tiefe gerissen worden. 'Was für ne kranke Sache ist das denn??', ging es Tobias durch den Kopf.
Angespannt schob er das Fahrrad eilig in die andere Richtung. Aber auch dort war kein Ende des Abgrunds in Sicht. Er war jetzt schon auf Höhe der "Kiste". Hier müsste eigentlich der nächste Block zu sehen sein. Doch stattdessen war ab dieser Stelle nichts mehr zu sehen, außer der Abgrund. Tobias schluckte nervös. 'Was ist denn hier nur los?' Es wirkte fast, als wäre die gesamte Welt östlich von dieser Stelle einfach abgebrochen. Ins Nichts. Aber was ist dann mit Anne? Mit ihrer Wohnung?
Angstschweiß erschien auf Tobias Stirn. Offensichtlich hatte er gerade ein weiteres Detail dieser Welt entdeckt. Offensichtlich wurden nicht alle Stadtteile einer Gegend 1:1 in dieser Version übernommen. Er überlegte. Vor sich sah er den Weg, der bis zur Fahrradstraße führte. Dieser ging ziemlich nahe am Abgrund entlang. Tobias stieg schnell auf und fuhr ihn entlang.
Schon sah er weder die "Kiste" noch die anderen Gebäude der Makarenkostraße hinter sich. Sie waren im Nebel verschwunden. Er drehte seinen Kopf aber schnell wieder nach vorn. Nicht, dass vor ihm ein weiterer Abgrund auftauchte. Er kam aber gut voran und erreichte die bewaldete Fahrradstraße. Tobias atmete durch und bog rechts ab. Der Fahrradweg war vorerst seine letzte Chance, Richtung Anne zu fahren.
Doch schon nach zwei Metern sah er auch hier den Abgrund vor sich. "Das gibt's doch nicht!", schimpfte er laut. In der plötzlichen Stille erschrak er fast über seine eigenen Worte. Aber es war ihm egal. Hören konnte ihn ja sowieso keiner.
Tobias schnaufte durch. Offensichtlich war der Stadtteil vor ihm komplett abgebrochen. Aber was hatte das zu bedeuten? War Anne etwa...? Er wollte diesen Gedanken nicht zu Ende führen. Nein, Anne musste hier irgendwo sein! Sie musste einfach! Vielleicht war sie ja ganz woanders in diese Welt gekommen. Ausschließen konnte man das nicht. Wer wusste schon, was der Talisman alles so drauf hatte.
Tobias schob sein Rad zurück bis zu der Stelle, wo er auf die Fahrradstraße eingebogen war. Er sah erst diesen Weg entlang, dann geradeaus in die andere Richtung der Fahrradstraße. Vielleicht sollte er erst dort lang fahren. Es gab viele Wege zum Ernst-Thälmann-Ring, auch Umwege. Vielleicht fuhr er erstmal Richtung Zentrum.
Er nickte sich selbst zu, so als wollte er sich zu neuem Mut verhelfen. Dann kam ihm eine Idee. Er griff in seine rechte Jackentasche und holte die Greifswald-Broschüre heraus. Darin gab es von jedem wichtigen Viertel der Stadt Pläne. Er schlug den Teil mit "Schönwalde II" auf und trug alle seine bisherigen Erkenntnisse darauf ein. Auf diese Weise würde er nicht vergessen, wo er schon gewesen war und was er als Nächstes tun sollte.
Zufrieden betrachtete Tobias "seinen Plan" und steckte ihn wieder ein. Er setzte gerade zum Fahren an, als er etwas hörte. Abrupt hielt er an. Die Geräusche waren zwar leise, kamen aber so unerwartet, weil es die ganze Zeit so still gewesen war. Tobias blinzelte angestrengt in Richtung des schmalen Weges, den er gekommen war. War da ein Schatten?
Er konzentrierte sich auf das Geräusch. Es klang wie ein Tapsen. Tatsächlich konnte er jetzt einen Schatten ausmachen. Aber - das konnte kein Mensch sein! Der Schatten wies auf etwas Kleineres, sich am Boden Bewegendes hin. Ein Hund vielleicht oder so etwas. Tobias schaute angestrengt in die Richtung. Aus irgendeinem Grund klopfte sein Herz mit einem Mal wild. Es war vielleicht ein Hund, ja gut, aber wieso sollte es den hier geben? Wenn doch sonst alles verschwunden war.
Allmählich tapste die Gestalt langsam aus dem Nebel heraus in Tobias Sichtweite. Es schien tatsächlich ein Hund zu sein - jedenfalls lief das Ding auf vier Pfoten. Aber irgendwas war komisch mit dem Oberkörper. Plötzlich erkannte Tobias, was nicht stimmte. Vor ihm tapste ein Hund mit drei Köpfen aus dem Nebel! Ein Zerberus! Tobias schluckte nervös und stieg mit seinem Fuß langsam aufs Pedal.
Das seltsame Viech blieb plötzlich stehen und knurrte gefährlich. Das heißt, alle drei Köpfe knurrten abwechselnd. Tobias lief ein Schauer über den Rücken. Das Ding war tatsächlich ein Zerberus, doch sah es seltsam verunstaltet aus. Das Fell des Tieres war vollkommen verbrannt und blutig. In seinem Hinterleib war ein riesiger Nagel in die Seite hineingesteckt worden, dessen Spitze auf der anderen Seite wieder herausragte. Die Augen waren seltsam rot und leuchteten.
Das Ding knurrte und fletschte die Zähne. Dabei öffnete alle Köpfe mehrmals ihre Mäuler. Sie konnten diese unnatürlich weit öffnen, was dem ganzen Viech ein noch bizarreres Aussehen verlieh. Tobias bekam es mit der Angst zu tun. Eben hatte er sich fast noch gefreut, doch nicht allein zu sein - und jetzt das! Er musste etwas tun, denn das Ding wollte ja offensichtlich nicht mit ihm freundlich reden.
Ohne Vorwarnung setzte Tobias plötzlich zum Spurt an. Er riss sich von dem Anblick los und stürzte in die Pedale. Der Zerberus bellte mit allen Köpfen dreimal wütend auf und stürmte los. Doch Tobias war ein verdammt guter Radfahrer. Schon war er fast im höchsten Gang. Er drehte sich um und sah den Zerberus dicht hinter sich her sprinten. Wild tropfte Geifer aus den drei großen Mäulern der Bestie.
Tobias haute in die Pedale und sah nach vorne. Wenn jetzt nur kein Abgrund kam! Er schaltete seinen Halogen-Strahler vorne ein. Er ging sogar! Anscheinend waren Batterien nicht von den Funktionsstörungen der Welt betroffen. 'Ha! Immerhin etwas', dachte Tobias erfreut und grinste. So viel mehr sah er allerdings nicht. Er drehte sich noch mal schnell um. Sein Verfolger war immer noch da, wenn auch etwas weiter zurück jetzt.
Zufrieden drehte sich Tobias um. Jetzt kam rechts das Freizeitbad in Sicht. Also zumindest soweit es im Nebel ging. Doch was war das! Von vorne preschte etwas heran. Das war... noch ein Zerberus? Gibt es etwa noch mehr? Diese Frage wurde Tobias sogleich beantwortet, als zwei weitere dieser Dinger neben ihm aus den Sträuchern sprangen und sich zu dem Verfolger hinter ihm gesellten.
Tobias atmete keuchend, doch gönnte er sich keinen Moment der Angst. Ohne auf seine Verfolger zu achten hielt er mit Volldampf auf den Zerberus vor ihm zu. 'Mal sehen, ob du nicht ausweichst!', dachte er verbissen. Tatsächlich blieb dem Höllenhund nichts anderes übrig, als zur Seite zu springen.
Tobias schnaufte durch und fuhr schnurstracks weiter. Jetzt war er schon am Freizeitbad vorbei. Doch die Hunde würde er abhängen können, da war er sich sicher. Er fühlte sich schon fast siegessicher, als er plötzlich mehrfaches Flügelschlagen über sich hörte. 'Wie? Was?', konnte er gerade noch denken, als er aus dem Augenwinkel eine Bewegung sah. Vom Dach des Schwimmbads hatte sich etwas ziemlich Großes in die Lüfte erhoben...
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