28. Wieder zurück?
Licht. Anne und Tobias spürten nur Licht. Dann kamen weitere Sinne zurück. Sie fühlten festen Boden an ihren Körpern und Händen. Er war allerdings über ihnen. Sie waren am Ende ihres seltsamen Fluges von unten nach oben hier aufgeschlagen. Die Glieder schmerzten aufgrund des Aufpralls. Beide ächzten auf und versuchten die Augen zu öffnen. Sie konnten nur blinzeln. Das Licht war so schmerzend hell.
Im nächsten Moment veränderte sich ihre Wahrnehmung. In ihrem Kopf drehte sich alles, gleichzeitig nahm das Licht ab. Das Gefühl, verkehrt herum an der Decke zu liegen, verschwand allmählich. Gleich darauf nahm das Licht weiter ab und offenbarte Tageslicht um sie herum. Zugleich spürten Anne und Tobias nun, dass sie auf dem Boden lagen und nicht an einer Decke. Tobias erfühlte mit seinen Handflächen feste Steine unter sich, auf denen Sandkörner waren.
Schließlich war das Licht ganz verschwunden. Anne und Tobias öffneten zaghaft die Augen. Um sie herum nahmen sie plötzlich gewöhnliche Tagesgeräusche wahr: Vögel zwitscherten, Autos dröhnten in einiger Entfernung vorbei, Stimmen von Menschen, die sich etwas entfernt unterhielten. Ungläubig schauten sie sich um. Diese Luft! Dieser Himmel! Konnte es denn wahr sein?
Anne entdeckte vor sich das Historische Institut. Der ockerfarbene Steinbau schien sie freundlich willkommen zu heißen. Auch Tobias blickte sich langsam um. Sie lagen auf dem Parkplatz des Historischen Instituts, doch diesmal sah er aus wie sonst auch - so, wie er es seit einigen Semestern gewohnt war. Er atmete erleichtert auf.
Sie lagen beide auf den leicht höher gesetzten Bürgersteinen in der Mitte des Parkplatzes, direkt bei dem silbernen Pfeiler, den es dort gab. Anne lag schräg längs über dem mittleren Bürgersteig, direkt mit dem Kopf nahe bei einem Auto, während Tobias etwa 90 Grad versetzt auf ihr drauf lag, mit dem Kopf bei dem Hinterreifen des gleichen Autos.
Anne richtete sich etwas auf und seufzte. Sie suchte den Blick zu Tobias, der immerhin mit seinem Po auf ihrem Bauch lag. Tobias sah sie an. Er bemerkte, dass sich Anne unter ihm befand und rollte sich sogleich von ihr herunter. Dann rappelten sich beide mühsam auf. Dabei stöhnten sie gequält. Seit Stunden waren sie nur am Rennen und Weglaufen gewesen - und dann noch dieser Flug durch den Riss in der Otherworld.
Ächzend brachten sich beide in eine stehende Position. Obwohl sie allmählich begriffen, dass sie scheinbar wieder in der normalen Realität waren, sagten beide noch immer kein Wort. Sie müssten sich eigentlich freuen, doch all das, was hinter ihnen lag, steckte ihnen in den Knochen.
Als sie beide standen, hörten sie etwas entfernt einige Leute lachen. Müde blickten sie quer über den Parkplatz. Nahe des Historischen Instituts standen drei Studierende beieinander und grinsten die verschmutzten Gestalten an. "Na die haben wohl gestern ganz schön gefeiert", meinte einer von ihnen feixend. Dass man so besoffen sein konnte, dass man am nächsten Tag auf dem Parkplatz des Instituts aufwachte, war ihnen selbst noch nicht passiert.
Anne und Tobias nahmen das Gelächter ungerührt zur Kenntnis. Sie sahen, wie weitere Studierende aus dem Institut kamen und grinsten, sobald sie die seltsamen Gestalten im Vorbeigehen dort stehen sahen.
Die beiden Geplagten konnten die Amüsiertheit schon verstehen. So wie sie jetzt aussahen - mit verschmutzten Gesichtern, eingerissenen Kleidern und sicherlich allerhand Augenringen - musste man auf einem Universitätsgelände zweifelsohne auf eine wilde Nacht schließen.
Doch leider hatten sie beide weitaus Unangenehmeres hinter sich. Anne suchte Tobias' Blick. Kaum sah er sie an, schlang sie die Arme um ihn und senkte ihren Kopf an seine Brust. "Tobi", hauchte sie leise, "wir haben es anscheinend geschafft. Wir sind zurück." Die Worte waren ohne Freude, sondern lediglich eine Feststellung.
Tobias nickte, wodurch seine Wange über Annes Haar strich. "Ja", meinte er müde, "Sieht wohl so aus."
Anne löste sich von ihm, sah sich kurz um und fragte dann mit sorgenvoller Miene: "Aber der Professor - wo ist der?"
Tobias senkte den Blick, verzog seine Lippen zu einer geraden Linie und schüttelte mehrmals den Kopf. "Er hat's nicht geschafft...", meinte er dann traurig mit geschlossenen Augen.
Statt zu antworten, suchte Anne wieder Schutz an seiner Brust. "Oh nein", schluchzte sie. Tobias spürte wie sein Shirt nass wurde. "Diese verfluchte Hexe...", fügte Anne gepresst hinzu.
Wieder konnte Tobias nur zustimmend nicken.
Anne löste sich von ihm. Tobias sah Tränen unterhalb ihrer grünen Augen hängen. "Aber er hat uns gerettet", gab sie dankbar von sich. Ihr Gegenüber streichelte ihr über die Arme. "Ja, das hat er zweifelsohne", sagte er mit schiefem Grinsen. In dem Moment begriff Tobias, warum er sich nicht so recht über die Rückkehr in die Normalität freuen konnte. Es war einfach ungerecht, dass Professor Hayden es nicht geschafft haben sollte.
"Und was jetzt?", fragte Anne schließlich gedehnt.
Tobias zuckte mit den Achseln. "Wir können wieder in unsere Wohnungen zurück", stellte er nüchtern fest.
"Und weitermachen wie bisher?", fragte Anne skeptisch.
Tobias hielt den Kopf schief und antwortete: "Das sollten wir zumindest versuchen, oder?!"
Anne verzog ihren Mund zu einem leichten Lächeln.
Ohne etwas darauf zu erwidern, wandte sie sich seitwärts und zog Tobias am Arm mit sich. "Vielleicht sollten wir erstmal was essen", meinte sie trocken, "ich hab einen Mordshunger."
Diese Worte rangen Tobias ein leichtes Schmunzeln ab. Einen besseren Vorschlag hätte seine Lieblingskommilitonin nicht machen können.
Sie setzten sich in Bewegung und überquerten den Parkplatz Richtung Uni-Hauptgebäude und Domstraße. Wie von selbst suchte Annes Hand dabei die von Tobias und verschränkte sich mit ihr. Tobias ließ dies ohne Kommentar geschehen. Hand in Hand gingen beide ohne ein Wort zu sagen auf die Domstraße. Sie überquerten sie, schlenderten am Rubenow-Denkmal vorbei und gingen weiter Richtung Löffler-Straße, wo die neue Mensa auf sie wartete.
Die ganze Zeit über sprachen sie kein Wort, hielten sich weiter an den Händen fest und genossen einfach die frische Luft, das herrliche Wetter und die Laute des Lebens um sie herum.
___
Es dauerte ein paar weitere Tage, bis Anne und Tobias realisierten, dass sie wirklich und wahrhaftig in der Normalität zurück waren. Zuviel Schreckliches und Tückisches lag hinter ihnen, als dass sie dem Frieden zunächst so leicht trauen konnten. Doch weder hatten sie erneut irgendwelche Erscheinungen, noch veränderte sich plötzlich die Welt um sie herum, wie sie es mehrmals erlebt hatten.
Allerdings hatten beide oft Alpträume und auch Schwierigkeiten, das Erlebte zu verarbeiten. Vor allem von Dahlia Gillespie träumten sie die wildesten Horrorgeschichten. Beide befürchteten, dass sie eines Tages in Greifswald auftaucht, um sie noch dranzukriegen, obwohl es gar keinen Hinweis dazu gab. Tobias erzählte Anne auch von dem seltsamen Strudel, in dem Dahlia und der Professor verschwunden waren. Was auch immer das zu bedeuten hatte - die Gillespie war jetzt irgendwo anders. Sie würden sie vermutlich nicht mehr wiedersehen.
Es stellte sich auch heraus, dass Anne und Tobias insgesamt sogar fünf Tage in der Realität verschwunden waren und nicht nur einen. Scheinbar hatte die Zeit in der Otherworld ihre eigenen Gesetze. Das brachte sie vor gewisse Schwierigkeiten, insbesondere bei der Polizei, die sie seit einigen Tagen suchte. Den Beiden blieb nur übrig, sich eine abstruse Entführungsgeschichte auszudenken. Ihr offizieller Bericht lautete, dass man sie mit prominenten Kindern verwechselt und entführt hatte. Nach drei Tagen klärte sich der Irrtum auf und sie wurden bei einem Dorf nahe der A 20 freigelassen. Von dort hatten sie sich zu Fuß bis nach Greifswald durchgeschlagen. Wenngleich die Polizei wegen dieser Aussagen skeptisch blieb, war der Fall nach diesen Aussagen für sie bald erledigt.
Anne bekam allerdings noch ein Problem mit ihrem Freund Jacob. Der war wegen der Ereignisse bei ihrem Verschwinden sowieso schon misstrauisch gegenüber Tobias gewesen. Dass Anne nun ausgerechnet mit ihm allein fünf Tage lang irgendwohin verschwunden sein sollte, war zu viel für ihn. Er überschüttete sie mit Unterstellungen und zeigte ihr ständig, dass er ihr nicht so ganz traute und ihr die angebliche Entführung nicht abkaufte.
Schließlich war es Anne zu bunt mit ihm und sie trennte sich von Jacob.
Zwei Wochen später wurden Anne und Tobias ein Paar. Es passierte mehr oder weniger schleichend, doch schien es Beiden der richtige Schritt zu sein. Sympathie hatte es ja schon immer zwischen ihnen gegeben, doch das Erlebte in der Otherworld von Greifswald hatte sie näher zusammengebracht. Beide hatten nur sich, um darüber sprechen zu können, beide hatten auch gesehen, dass sie sich auf den jeweils Anderen in schwierigen Situationen verlassen konnten. Das Ganze hatte sie schlicht und einfach zusammengeschweißt.
Schließlich tauchte auch noch das amerikanische FBI in Greifswald auf. Sonderermittler gingen dem Verschwinden von Professor Hayden nach und befragten dazu auch Anne und Tobias. Woher die Ermittler wussten, dass sie Hayden näher kannten, verrieten sie nicht, doch glücklicherweise konnten sie ihnen keinen Zusammenhang zwischen dem Professor und sich nachweisen. Die einzigen Beweisstücke - Talisman und Tagebuch - waren unwiederbringlich in der Otherworld verloren gegangen. Und selbst, wenn Anne und Tobias den Ermittlern die Wahrheit sagen würden - wer sollte ihnen das glauben???
Schließlich ließ das FBI sie in Ruhe und suchte nach anderen Hinweisen. Doch so sehr sie sich auch bemühten und so sehr sich Tobias und Anne dies wünschten: der Professor blieb weiterhin verschwunden und wurde auch nicht mehr gefunden.
E N D E ?
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