Die drei Versammelten in dem Siegelkreis und die Ordenshüterin von Silent Hill standen sich, ein paar Meter getrennt voneinander, Auge in Auge gegenüber. Ungeachtet dessen verlor der in einiger Höhe schwebende Talisman immer noch weitere Blutstropfen. Doch keiner der Anwesenden hatte momentan einen Gedanken dafür.
Dahlia Gillespie genoss die Aufregung, die sie mit ihrem Auftauchen verursacht hatte. Sie ging noch ein paar weitere Schritte auf das Siegel zu. "Meine Anwesenheit scheint dich immer noch zu bestürzen, Jonathan", sagte sie dabei in einem amüsiert schnurrenden Tonfall zum Professor auf Englisch.
Ihr Landsmann schnaubte und antwortete ihr sogleich in der gleichen Sprache: "Tu nicht so, du verrückte Hexe! Das weißt du genau. Du dürftest gar nicht am Leben sein! Das ist unmöglich!"
Dahlia blieb wieder stehen. Jetzt stand sie nur noch einige Meter von dem Siegelkreis entfernt. Sie grinste den Professor teuflisch an. Ihr vom Wahnsinn geprägtes Gesicht wurde für einen Moment noch etwas glühender. "Alles ist möglich auf der anderen Seite", säuselte sie langsam und verschwörerisch.
Der Professor verzog verächtlich den Mund.
Anne und Tobias konnten nur wie erstarrt den Beiden zuschauen. Auch wenn sie nicht alles verstanden, fühlten sie sich äußerst unwohl. Jetzt wo Dahlia dichter vor ihnen stand, war sie noch besser zu erkennen. Ihr Blick und ihre Stimme jagte ihnen regelrecht Schauer über den Rücken. Die selbstbewusste Haltung, mit der sich Dahlia Gillespie vor dem Siegel aufgebaut hatte, ließ keinen Zweifel daran, dass die Mutter von Alessa sie alle noch drankriegen wollte. Dass sie keinen von ihnen so einfach davonkommen lassen würde.
Dahlias Blick wanderte zum zuckenden und blutenden Talisman empor. Anklagend hob sie ihre Hand in seine Richtung. "Warum zerstörst du das Geschenk Gottes?", fragte sie urteilend.
Des Professors Puls schnellte nach oben, verärgert durch ihren Kommentar. "Geschenk?!", schnaubte er verächtlich. "Dieses Ding ist reinstes Teufelswerk", empörte er sich. "Es wird uns alle ins Unglück stürzen!"
Dahlia neigte ihren Kopf einen Moment zur Seite und sah den Professor ernst an. "Das denken nur Ungläubige", säuselte sie bedächtig und völlig überzeugt. "Närrisches Geschwätz! Es ist der Schlüssel zum Paradies."
Tobias schluckte und schaute einmal hoch zum Talisman. Er sah, dass das Amulett weiterhin zuckte und Blut verlor. Aber da war noch etwas. Der Talisman leuchtete inzwischen ein wenig. Es war wie eine Art Glühen und es wurde allmählich stärker. Tobias stieß Anne in die Seite und zeigte es ihr. Die wunderte sich ebenfalls.
Dahlia sprach indes weiter: "Auch du hast seine Stärke gespürt, Jonathan." Ihre Stimme wurde weicher und verschwörerischer, als sie hinzufügte: "Deswegen hast du ihn mitgenommen, nicht wahr?!" Sie grinste ihn schadenfroh an.
Im Gesicht des Professors arbeitete es. Eine erkennende Bestürzung machte sich darin breit. "Du - du hast den Talisman dort hinterlassen!", rief er aus. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Blitz: Dahlia Gillespie hatte die ganze Zeit gewollt, dass er den Talisman fand und ihn mitnahm! Es war gar kein Zufall gewesen, dass er dort gelegen hatte.
"So ist es", meinte Dahlia verschwörerisch und funkelte ihn glühend an. "Das Amulett war nur für dich bestimmt. Damit durch dein Opfer der Weg zu Gott neu gelegt wird."
Sie blickte als Nächstes zu Anne und Tobias. "Aber was für ein Jammer - nicht?!", sagte sie gedehnt und mit Spott und Häme in der Stimme. "Jetzt werden dich diese beiden Schützlinge auf deine Reise begleiten - ahahahahahaaa."
Der Professor funkelte sie zornig an und schnaubte.
Anne und Tobias verstanden kaum, was die Beiden im Detail besprachen. Ihre Blicke ging immer wieder zum Talisman empor, der allmählich stärker und heller glühte.
Schließlich sagte Tobias: "Professor - schauen Sie!" Jonathan Hayden wandte sich halb zu ihm um und hob seinen Kopf sogleich hoch in die Richtung, in die Tobias zeigte. Er staunte nicht schlecht. Über ihm glühte der Talisman so hell, dass er nur noch als leuchtendes Ganzes zu erkennen war. Auch alle Anderen staunten. Dahlia Gillespie blickte ebenfalls hoch und schien erschrocken.
Im nächsten Moment sah man blaue Blitze um den hell glühenden Talisman herumwirbeln. Nebenbei bemerkte Anne, dass auch gar keine Blutstropfen mehr nach unten fielen. Die Blitze nahmen einen Moment lang noch zu, dann zerriss plötzlich oben in der Luft der glühende Talisman mit lautem Knallen und Zischen.
Alle hielten den Atem an. Sobald die helle, kurze Explosion vorbei war, sah man oben an genau der gleichen Stelle plötzlich einen Riss in der Otherworld. Eine Art Durchlass woanders hin. Um ihn herum befand sich ein Ring aus einer nebligen Wolke, der sich unnatürlich zusammenzog und auseinander dehnte. Daher war die Öffnung des Durchlasses nicht gleichmäßig rund, sondern wechselte ständig zwischen schmalem Oval und breitem Kreis hin und her. Doch konnte man gut durch die Öffnung hindurch sehen. Anne, Tobias und der Professor sahen dort den unverwechselbaren blauen Oktoberhimmel von Greifswald hindurchschimmern. Vom normalen Greifswald!
"Ahh!", staunte Anne erleichtert und lächelte. Sie suchte den Blick zu Tobias, der sie ebenfalls anlächelte.
Auch der Professor nickte erleichtert. "The Exit", gab er zufrieden von sich. Dann drehte er sich zu Dahlia und rief ihr laut mit Genugtuung zu: "Du bist zu spät gekommen, du alte Hexe! Es ist vorbei."
Alessas Mutter kniff die Augen verärgert zusammen und knurrte. Plötzlich spürte sie eine Vibration und sah erstaunt um sich. Der eiserne Metallboden schien sanft zu beben. Auch die drei Verschworenen im Siegelkreis spürten das.
Der Professor ahnte, was das zu bedeuten hat. "Die Otherworld stirbt", sagte er schlicht zu Anne und Tobias. Dann rief er Dahlia fast schadenfroh auf Englisch zu: "Was willst du nun tun, du verrücktes Weib!"
Mit einer geschmeidigen Bewegung drehte Dahlia sich um und leuchtete hinter sich. Irgendwo dort hinten passierte etwas. Ein Geräusch, das wie abbrechendes Metall klang, schien näher zu kommen.
"Los - weg hier!", rief Anne dem Professor zu. Inzwischen war das Vibrieren des Bodens deutlich zu spüren. Jonathan Hayden nickte und die drei sahen nach oben. Der Durchgang in die normale Welt war leider etwas hoch. Sie standen einen Moment ratlos da, überlegten, wie sie am Besten herankamen.
Im gleichen Moment wandte sich Dahlia Gillespie mit wütender Miene wieder zum Siegelkreis um. Sie fasste in die rechte Tasche ihres Gewandes und holte einen gläsernen Gegenstand hervor. "Es ist noch nicht vorbei...", säuselte sie langsam mit zusammengebissenen Zähnen. Ihre Stimme zischte gefährlich wie eine in die Ecke getriebene Schlange.
Jonathan Hayden sah kurz zu ihr hin. In diesem Moment fing der Gegenstand in der Hand der Frau zu leuchten an. Der Professor schluckte. "Was ist das...", murmelte er erschrocken. Wegen dieser Worte schauten auch Anne und Tobias zu Dahlia. "Oh nein, nicht das Ding", sagte Anne beklommen, die den Gegenstand sofort erkannte. Aber warum leuchtete er dieses Mal?
Dahlia hielt die rechte Hand zur Seite und ließ den pyramidenartig geformten Gegenstand los. Dieser schwebte daraufhin in die Höhe, öffnete einige dreieckige Teile seines Gehäuses leicht nach außen und strahlte helles Licht aus.
Dahlia lachte laut. "Jetzt wird es Zeit, dass ihr die volle Macht meines neuen Flauros kennenlernt", rief sie selbstsicher und erhaben. Der Gegenstand drehte sich derweil mehrfach um sich selbst und flog immer höher. Er gab einen gleichbleibenden summenden Ton von sich, seine Lichtstrahlen wurden immer breiter und heller.
Der Professor erschrak. 'Ein Flauros???', dachte er beklommen. Sofort drehte er sich zu Anne und Tobias und rief: "Hurry!" Dann sank er gleich auf ein Knie und faltete die Hände zu einer Räuberleiter. Er nickte schnell zu Tobias, damit er das Gleiche tat. Der brauchte keine lange Einladung, sank ebenfalls neben ihn und positionierte sich genauso. Ohne viel Worte hielten sie Anne die Hände hin. Die reagierte sofort und stieg darauf.
Währenddessen schwebte der Flauros wenige Meter von dem Siegel entfernt immer höher und drehte sich tönend um sich selbst. Einer Discokugel gleich verströmte er überallhin seine weiten Lichtstrahlen.
Tobias und der Prof stießen Anne nach oben. Die machte einen Satz in die Luft. Kaum war sie ein Stück näher an der Öffnung dran, spürte sie plötzlich eine Schwerkraft über sich. Ohne Vorwarnung drehte sie sich in der Luft um 180 Grad nach oben und wurde verkehrt herum nach oben gerissen. "Wooaaah!", schrie Anne, dann war sie auch schon durch den Ring in der Luft verschwunden. Jonathan Hayden und Tobias konnten nur staunen.
Der Flauros hielt derweil in einiger Höhe an und begann, sich schneller zu drehen. Dahlia schaute auf die verbliebenen Männer und grinste erwartungsvoll.
Tobias hielt dem Professor die Hand hin. "Los - Sie als Nächstes!", rief er. Doch Jonathan Hayden schüttelte eilig den Kopf. "No - das ist nicht richtig", meinte er, "Sie zuerst, Toby! Ohne mich wären Sie nicht in diese Schwierigkeiten. Ich geh als Letzter."
Sogleich sank er wieder auf das Knie und hielt seinem Gegenüber die gefalteten Hände hin. Tobias seufzte, doch spürte er auch allmählich den Boden beben. Widerwillig stieg er auf die Handflächen und ließ sich nach oben drücken.
Im gleichen Moment verwandelte sich der Flauros in reines Licht und stieß als heller, großer Pfeil nach unten auf das Siegel zu.
Tobias sprang gerade von der Räuberleiter ab und drehte sich verkehrt herum in die Höhe. Jonathan Hayden nahm sogleich Schwung und streckte seine Hand aus, um Tobias Hand noch zu erwischen, damit er ihn mit nach oben zog. Doch während er absprang, knallte der Lichtpfeil auf den Lichtschild des Siegels. Es gab eine kurze Erschütterung, die den Lichtschild sofort zum Erlöschen brachte und die ausreichte, dass Hayden daneben griff und wieder nach unten fiel. Tobias flog bereits nach oben weg und streckte die Hand vergebens aus. "Professor!", rief er.
Im gleichen Moment, wo der Professor auf dem Hosenboden landete, knallte das schwebende Siegel plötzlich laut auf dem Boden auf und verlor schlagartig seine Helligkeit. Jetzt wirkte es schon wieder fast wie eine normale Zeichnung.
Tobias spürte, wie er sein Schwebeflug langsamer wurde. Er steckte schon halb in dem Durchlass, doch schien die Schwerkraft über ihm zu schwinden. Hilflos konnte er nur mit ansehen, was unter ihm geschah. Der Professor sah bestürzt um sich. Das Siegel von Metatron hatte seine Kraft eingebüßt.
Dahlia fing laut zu gackern an und ging langsam auf den Siegelkreis zu. Der Boden bebte nun regelrecht, gleichzeitig hob ein starker Wind zu wehen an.
Ungläubig sah Tobias, wie das rot leuchtende Siegel sich im nächsten Moment auflöste. Professor Hayden stand langsam auf und schaute ebenso erschrocken umher. Die inneren Linien verändern sich, ordneten sich neu und plötzlich stand der Professor auf dem verhassten Sonnenkranz-Symbol. Das Siegel von Metatron hatte sich in "halo of the sun" verwandelt!
Tobias ächzte. Das kann doch nicht wahr sein! Von all dem unerschrocken trat Dahlia in seinen Sichtkreis und lachte schadenfroh.
Der Professor sah auf zu Tobias, der so unerreichbar hoch war. Für einen Moment trafen sich ihre Blicke. Dann stürzte plötzlich der Boden samt Siegel unter ihm ein und verwandelte sich in einen seltsamen Schlund aus drehenden Wolken. Wie in Zeitlupe sah Tobias den Professor in den Schlund stürzen, die Hand hilflos nach oben gestreckt. "PROFESSOOOOR!!!", schrie Tobias mit Tränen in den Augen und reckte die Hand nach unten. Doch der Gelehrte war verschwunden.
Dahlia gackerte laut und schrie etwas. Doch es war so windig, dass Tobias nichts verstehen konnte. Mit Schrecken stellte er fest, dass er langsam aber sicher aus der Öffnung rutschte. Der wirbelnde Schlund unter ihm schien ihn stärker anzuziehen. Wie bei einer Portion Zahnpasta, die aus der Tube gedrückt wird, glitt er langsam aus dem Durchlass und drohte ebenfalls in den tückischen Abgrund dort unten zu stürzen. Panisch keuchte er und ruckte mit dem Kopf wild umher.
Als er nur noch mit dem Fuß in dem Durchlass steckte, erschien plötzlich eine Hand in der Öffnung, die ihn am Fußknöchel festhielt. "Tobi - wo bist du???", hörte er eine Stimme rufen, die sich seltsam verwaschen anhörte. Anne???
Im nächsten Moment tauchte eine zweite Hand am Rand des Durchlasses auf, die sich an dem wabernden Rand festhielt. Anne hatte sich die ganze Zeit am Rand der Öffnung aufgehalten und auf die anderen gewartet. Jetzt konnte sie den Sog nach oben aber nicht viel länger aushalten.
"Tobi - komm jetzt!", rief sie und umfasste beide Fußknöchel von Tobias mit ihren Händen. Gleich darauf wurde sie nach oben gerissen und zog Tobias mit.
Der spürte plötzlich wieder einen Sog von oben und glitt langsam mit den Beinen voran durch den Durchlass, der allmählich sogar schmaler wurde.
Unter ihm toste inzwischen die Welt. Die Sternwarte und auch das Historische Institut begannen zusammenzustürzen und ins bodenlose Nichts zu fallen. Auch die versteinerten Vollstrecker zerfielen und stürzten in die Tiefe.
Als Tobias bereits mit dem Kopf in dem Durchlass steckte, sah er noch, wie Dahlia sich gackernd mit ausgestreckten Armen ohne Angst in den seltsamen Wirbel hineinfallen ließ, während um sie herum sich ebenfalls schon der metallene Boden endgültig auflöste.
Dann war er ganz hindurch und flog verkehrt herum in unendlich weißes Licht hinein...
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