23. Konfrontation mit Anubis
Tobias trippelte hektisch die eiserne Treppe weiter hinunter. Hinter ihm polterte es laut - jedes Mal, wenn der dämonische Anderwelt-Anubis ihm mit einem großen Schritt immer näher kam. Schon glaubte Tobias, den Atem des riesigen Monsters im Nacken zu spüren. Er hörte ein Knurren und spürte sogleich einen Luftzug. Einen Wimperschlag später knallte es ziemlich laut links hinter ihm und man konnte ein metallisches Kreischen hören. Der bizarre Anubis hatte anscheinend versucht, Tobias beim Hinterherlaufen mit seiner riesigen Hellebarde zu treffen, hatte aber lediglich die Wand damit malträtiert.
Tobias pustete einmal durch, schüttelte schnell seinen Kopf, um Konzentration zu wahren, und lief unbeirrt weiter. Das war auch gut so, denn der Anderwelt-Anubis musste scheinbar erst seine übergroße Waffe aus der vergitterten Eisenwand ziehen. Dieser kleine Moment reichte aus, dass Tobias wieder etwas an Vorsprung gewann.
Erfreut sah er plötzlich das Ende der Treppe in Sicht kommen. 'Endlich!', dachte er bei sich. Unten an der Treppe schloss sich ein Gang an, dessen Decke etwas niedriger war. Glück für Tobias, denn damit kam sein übergroßer Verfolger hier nicht so einfach lang.
Tobias lief in den Gang hinein. Gleich darauf setzte hinter ihm wieder ein Poltern ein. Kaum war Tobias im Gang verschwunden, krachte der dämonische Anubis mit einem Satz am Ende der Treppe mit beiden Füßen auf. Gleich darauf hörte er den Unterweltgott unmenschlich schnauben. Scheinbar hatte sein Verfolger gerade die Enge des Ganges festgestellt.
Unbeirrt lief Tobias weiter und bemerkte vor sich einen roten Lichtschimmer. Er leuchtete mit dem Halogenstrahler darauf und erkannte im nächsten Moment das Symbol halo of the sun. Rot leuchtend schien es direkt vor ihm mitten auf dem Gang zu schweben.
Plötzlich hörte er ein fleischiges Schaben und schleppende Schritte hinter sich. Ein unaufhörlich metallisches Quietschen begleitete diese Geräusche. Er hielt inne und wandte sich einmal kurz um. Dann sah er, was los war: der Anderwelt-Anubis hatte sich in die Hocke begeben und quetschte sich den Gang entlang. Die Klinge seiner Hellebarde, die er seitlich neben sich auf dem Eisenboden entlangschrammte, verursachte dabei dieses nervenaufreibende metallische Kreischen.
Tobias atmete einmal durch. Es war klar, dass dieses Ding so schnell nicht aufgeben würde. Doch noch hatte er einen Vorsprung.
Er wandte sich schnell wieder um und eilte auf das Siegel des verfluchten Ordens drauf zu. Während er näher herankam, geschah plötzlich etwas Seltsames: das Siegel teilte sich in der Mitte und bewegte sich auseinander.
Währenddessen schabte schnaubend der bizarre Anubis weiter heran.
Tobias hatte das Siegel fast erreicht. Erst jetzt bemerkte er den helleren Lichtspalt, der zwischen den geteilten Hälften des Symbols immer breiter wurde. Das vor ihm war eine sich öffnende Tür, begriff er! Er wusste zwar nicht, was dahinter sein würde - aber immerhin: ein Ausgang.
Schnell eilte Tobias durch die sich öffnende Tür hindurch. Keinen Moment zu früh, denn gleich darauf glitten die steinernen Türflügel wieder zusammen.
Als er sich in dem neuen Raum umsah, stockte ihm der Atem. Eine Halle riesigen Ausmaßes tat sich vor seinen Augen auf. Aber wie dieser Raum aufgemacht war, konnte man nur glauben, wenn man es sah: Er stand auf einer eisernen Brüstung, von der man sehr tief fallen konnte. Weit unter ihm wartete ein Meer aus flüssiger Lava darauf, dass man hineinfiel. Aufgrund dieser Lava konnte man einigermaßen viel sehen - auch ohne Halogenleuchte. Die Außenwände dieser Halle waren sehr weit weg links und rechts von ihm und auch die Decke über ihm schien weit entfernt.
Doch das war nicht das Interessanteste. Dies war der Anblick direkt vor ihm: eine schmale Eisenbrücke von nicht mehr als zwei Metern Breite führte von seinem Standpunkt aus auf die andere Seite des riesigen Raumes. Es war der einzige Weg, den man hier nehmen konnte. Doch so einfach konnte man diese Brücke nicht überqueren. Riesige und wuchtige Pendel aus Eisen schwangen etwa alle 10 Meter auf der Brücke hin und her. An ihrem Ende befanden sich scharfe Klingen, in Form einer doppelköpfigen Axt geformt, deren Ausmaße die Länge eines Autos übertrafen.
Tobias konnte es nicht fassen: der einzige Weg nach vorn war eine riesige Todesfalle in XXL-Ausmaß. Überhaupt wie dieser Raum aussah, erinnerte ihn an etwas ganz Bestimmtes. 'Na toll - jetzt also auch noch Tomb Raider...', dachte er.
Mehr Zeit zum Überlegen hatte er nicht. Hinter ihm krachte es plötzlich ziemlich laut. Tobias ruckte herum. Im nächsten Moment sah er die Seitenflügel der steinernen Tür auseinanderbrechen und seitlich in die Tiefe stürzen. Dann sah er eine riesige, dunkle Hand aus ekligem Fleisch und großen Krallen, die sich am Türrahmen festhielt. Gleich darauf zog sich der bizarre Anubis mit dieser Hand knurrend und tief stöhnend durch den schmalen Türspalt hindurch.
Tobias überlegte nicht lange. Bevor ihn der dämonische Unterweltgott zu Hackfleisch verarbeiten würde, nahm er doch lieber den Weg über die Todesbrücke. Er setzte sich in Bewegung und eilte auf das erste riesige Axtpendel zu...
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Anne rannte wie besengt den schmalen Gang aus eisernen Gitterwänden entlang. Hinter ihr krochen die ekelhaften Kreaturen an der Decke und verfolgten sie. Ab und zu tauchten von vorn neue Ungeheuer über ihr auf. Anne fackelte nicht mehr lange, ließ die Viecher ihre Körper und Krallen herunterschnellen, um entweder dran vorbei zu hechten oder gleich eiskalt mit dem Katana zuzuschlagen. Auf diese Weise kam sie nun viel zügiger voran. Irgendwann musste dieser beschissene Gang doch mal zu Ende sein.
Plötzlich hörte sie hinter sich ein metallisches 'Plänk'. Erschrocken stoppte sie, drehte sich um und leuchtete Richtung Verfolger. Was sie sah, ließ ihr fast das Herz gefrieren: eines der Viecher hatte sich von der Decke fallen lassen und sprintete nun wolfsähnlich auf dem engmaschigen Eisengitterboden entlang. Anne war wie erstarrt, ihr Puls raste. Im nächsten Moment sah sie, wie sich ein zweites Untier weiter rechts ebenfalls fallen ließ. 'Plänk' tönte es erneut, als das Monster auf dem Boden aufschlug und sogleich nach vorn preschte.
Anne wandte sich blitzschnell um und rannte drauf los. "Ach du Sch...", entfuhr es ihr dabei. Gleich darauf kam vor ihr ein Abgrund in Sicht. 'Nicht auch das noch!', dachte Anne. Sie schaute schnell, wo sie rüber kam, während hinter ihr die polternden Metallgeräusche vom Heranhechten der Viecher immer lauter wurden.
Ihr Herz blieb fast stehen, als sie schnell erfasste, dass der Abgrund diesmal einmal komplett über den Gang verlief. Aber was war das??? Auf der anderen Seite des Abgrundes war eindeutig das Ende des Ganges zu sehen - ja und sogar eine Tür!
Das stachelte Anne nochmals an. Ohne lange zu überlegen, lief sie auf den Abgrund zu, nahm Schwung und sprang mit Schwert voran auf die andere Seite. Beim Aufkommen gab es ein lautes 'Klänk' und Anne stolperte, fing sich aber und schlitterte gleich darauf gegen die Tür, auf der wiederum das Symbol "halo of the sun" in hellem Rot zu sehen war. Zum Glück lauerte ihr hier kein weiteres Ungeheuer auf.
Anne ruckte an der Tür herum und leuchtete zu den Verfolgern. Die dunkelbraunen Viecher mit den grünen Schlingpflanzen am Körper hechteten unentwegt vorwärts auf den Abgrund zu. 'Die werden auch springen!', begriff Anne.
Doch das konnte ihr egal sein. Sie erblickte schnell den metallischen Türgriff, zog die schwere Tür auf und schlüpfte zügig hindurch. Gleich darauf fiel die Tür hinter ihr mit einem lauten 'Rumms' zu. Vorsichtig ging sie rückwärts von der Tür weg. Im nächsten Moment hörte man etwas dagegen prallen, aber die Geräusche verpufften nahezu an der dicken Tür. 'Glück für mich', dachte Anne. Offenbar konnten die Viecher nicht so einfach durch diese Tür durchkommen.
Etwas erleichtert wandte Anne sich um. Sie war in einen neuen Gang gekommen, der eigentlich nicht viel anders aussah als der davor. Selbst die Flämmchen weit unterhalb des vergitterten Fußbodens gab es hier, so dass auch die Lichtverhältnisse gleich waren. Der einzige Unterschied schien in der Biegung des Ganges zu sein. Anders als bis eben, verlief dieser Gang nicht gradlinig, sondern hatte eine leichte Biegung nach Rechts.
Anne blieb noch einen Moment bei der Tür stehen und lauschte. Es war nichts zu hören oder zu entdecken.
'Na dann', dachte sie und lief los. Der Gang verlief unverändert immer weiter in einer Rechtskurve. Die Biegung hatte scheinbar kein Ende. Aber was soll's? Anne konnte eh nur hier lang. Ob sie am Ende wieder zum Institut kam, konnte keiner wissen.
Mit einem Mal hörte sie doch etwas. Sie blieb sofort stehen und konzentrierte sich auf das Geräusch. Da war es wieder! Eine Art metallisches Schaben. Es war leise, aber es schien näher zu kommen. Anne leuchtete umher. Doch vor ihr war nichts zu entdecken.
Im nächsten Moment war das Schaben noch dichter. Diesmal konnte Anne hören, dass es von oben her zu kommen schien. Sofort leuchtete sie mit der Taschenlampe an die Decke. Dann sah sie es! Oben an der Decke sah man durch das Gitter hindurch eine Bewegung. Zunächst unscheinbar näherte sich dort etwas von der Biegung aus immer dichter an sie heran.
Das metallische Schaben wurde immer lauter. Jetzt konnte Anne eindeutig durch das Gitter zwei Füße und Beine sehen, die sich oberhalb der Decke in ihre Richtung bewegten. Kein Zweifel: dort oben war etwas!
Anne versuchte ruhig zu bleiben. Das Ding war ja quasi im oberen Stockwerk, daher brauchte sie keine Panik schieben. Erstmal.
Sie leuchtete durch das vergitterte Decke, versuchte etwas auszumachen. Sie konnte höchstens die Beine ausmachen. Die wirkten aber nicht gerade menschlich. Und dann dieses Schaben! Was könnte das sein? Anne konnte sich das nur so erklären, dass das Ding irgendetwas hinter sich her zog. Das würde auch die etwas ungleichmäßige Bewegung der Beine erklären, die bei jedem Schritt des Wesens zu erkennen war.
Als das ungewisse Etwas ungefähr ihre Höhe erreicht hatte, stoppte es plötzlich. Dann hörte Anne ein unmenschliches Stöhnen und nahm eine Bewegung wahr. Das Ding schien irgendwas zu machen.
Im nächsten Moment kreischte es laut metallisch und Anne sah über sich Funken fliegen. Erschrocken sprang sie zurück. Gleich darauf sah sie die Spitze einer riesigen Schneide durch die Decke klaffen. "Ahh!", entfuhr es ihr. Was auch immer das Ding hinter sich herzog, es musste scheinbar eine Art riesiges Schwert sein, mit dem es gerade einen Riss durch die engmaschige Gitterdecke geschlagen hatte. Da der entstandene Riss ein ganzes Stück vor der Stelle war, an der das Ding stand, musste die Schneide dieser Waffe riesige Ausmaße haben.
'Nichts wie weg!', dachte Anne und rannte wieder vorwärts. Nebenbei bemerkte sie, wie das Ding seine riesige Klinge aus dem Riss heraushebelte.
Mit klopfendem Herzen rannte Anne den Gang weiter entlang, der immer noch endlos einer Rechtsbiegung folgte. Schon bald hörte sie hinter sich wieder dieses metallische Schaben. Offensichtlich hatte sie einen neuen Verfolger...
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Tobias stand ganz dicht vor dem ersten Axtpendel. Jedes Mal, wenn es vorbeiglitt, spürte er einen kräftigen Luftzug. 'Jetzt!', dachte er, als das Pendel zum zweiten Mal ganz links war. Er rannte vor und hatte die ersten Schritte auf dieser höllischen Brücke geschafft. Sie hatte kein Geländer, nichts. Wenn ihn eines der Axtpendel erwischte, würde er entweder in die Lava tief unter ihm gestoßen oder gleich an Ort und Stelle in zwei Hälften geteilt.
Hektisch blickte er sich um. Der Anderwelt-Anubis bäumte sich gerade bedrohlich auf, so als müsse er erst nochmal alle Glieder strecken, nach dem Kriechen in dem engen Gang. Tobias stand sicher hinter dem ersten Pendel und gönnte sich den Augenblick, seinen Gegner genauer anzuschauen. Der bizarre Anubis besaß gegenüber seinem Original erschreckend fleischige und verweste Details an seinem ganzen Körper. Tobias stach auch der besondere Anhänger der Kreatur ins Auge: statt einem Ankh-Kreuz wie sonst üblich, trug dieser Anubis das Sonnenkranz-Symbol in leuchtend roter Form um den Hals. Das bizarre Amulett wirkte wie eine teuflische Version des Talismans, den sie alle so gut kannten.
Gleich darauf setzte sich der Anubis in Bewegung. Tobias spürte, wie die eiserne Brücke bei jedem seiner Schritte vibrierte. Er wandte sich sofort um und machte sich daran, ans nächste Pendel vorbeizukommen. Da die Axtpendel stets dem gleichen Rhythmus folgten, gelang ihm das recht schnell.
Zufrieden drehte er sich um. Da der Anubis so groß war, konnte er nicht mal eben so schnell an den Pendeln vorbeihuschen wie er selbst, der sich in dieser riesigen Halle wie eine Maus vorkam. Kaum an dem Pendel vorbei, drehte er sich um und sah mit Genugtuung, wie der Anderwelt-Anubis bereits vor der ersten Axtschwinge stoppte und sich das Hindernis von allen Seiten besah.
Er schmunzelte und widmete sich dem dritten Axtpendel zu. Er wollte gerade daran vorbeipreschen, als er ein Ruckeln hinter sich bemerkte. Er hielt inne und wandte sich noch einmal um. Was er sah, ließ sein Herz in die Hose rutschen: der dämonische Anubis hing mit beiden Füßen seitlich an der Brücke ohne Abzustürzen. Im nächsten Moment machte er noch zwei Schritte und befand sich nun sogar kopfüber auf der Unterseite der Brücke.
"Nicht dein Ernst!", rief Tobias verärgert in seine Richtung. Offenbar galten für den Gott der ägyptischen Unterwelt bestimmte physikalische Gesetze nicht.
'Scheiße!', konnte Tobias nur noch denken und sah zu, dass er an dem nächsten Pendel vorbeikam. Im nächsten Augenblick spürte er eine Erschütterung an den Füßen. Er brauchte nicht hinzusehen, um zu wissen, was los war: der Anderwelt-Anubis spurtete kopfüber an der Unterseite der Brücke entlang und würde so ungehindert an allen Pendeln vorbeikommen. Tobias nahm Hackengas und ging in den Laufschritt über. Die nächsten beiden Pendel schwangen fast synchron. Er rannte am ersten vorbei, als es ganz rechts war, und lief ohne Anzuhalten auf das dahinter zu. Zeitgleich bemerkte er ein Poltern unter sich. Anubis war dabei, ihn einzuholen.
Mit klopfendem Herzen kam er auf das nächste Pendel zu, dass gerade wieder von rechts nach links schlug. Er rannte fast auf die doppelköpfige Axt auf, doch dann war sie vorüber und Tobias kam ohne Anzuhalten weiter. Angstvoll bemerkte er den riesigen Schatten unter sich, der ihn überholte. Sein Herz raste. Nur noch zwei Pendel!
Sogleich trat er bis an das nächste heran. Dann bemerkte er ein Ruckeln. Weit vor ihm, hinter der letzten Axtschwinge, erschien der Körper des Anubis wiederum seitlich an der Brücke. Tobias schluckte. Das dämonische Ding tat noch einen Schritt und stand nun vor Tobias auf der anderen Seite des letzten Pendels.
Tobias zögerte, dann trat er an dem vorletzten Pendel vorbei. Jetzt trennte ihn nur noch eine große Axtschwinge von dem Anderwelt-Anubis.
Dieser belauerte Tobias hinter dem schwingenden Pendel und knurrte. Was jetzt? Fieberhaft überlegte Tobias, wie er eine Konfrontation mit dem Ding überstehen könnte. Er beschloss, dass es am Besten war, erstmal einfach hier stehenzubleiben und sich was zu überlegen.
Der bizarre Anubis hatte anscheinend aber nicht die Geduld dafür. Nach einigen Augenblicken des Wartens hob er plötzlich seine riesige Hellebarde in die Luft. Tobias stockte der Atem. 'Er wird doch nicht...?', dachte er beklommen.
Da passierte auch schon das, was er befürchtet hatte: Als das Axtpendel von links auf Höhe der Brücke zurückschwang, holte Anubis aus und donnerte laut brüllend mit seiner übergroßen Waffe gegen das Pendel. Ein ohrenbetäubendes metallisches Krachen war zu hören, als Eisen auf Eisen traf. Tobias spürte einen Ruck und sprang ein Stück zurück. Gleichzeitig hörte man ein tiefes, langgezogenes Knatschen. Das Axtpendel löste sich von der Decke, änderte leicht seine Richtung gen Tobias und krachte dann mit einem ohrenbetäubenden Knallen und Poltern auf die Eisenbrücke.
Tobias spürte einen heftigen Ruck und fiel nach hinten. Dabei wurde er fast von der Axtschwinge hinter sich geköpft. Während die ganze Brücke wackelte und es ungeheuer laut metallisch polterte, rollte er sich geistesgegenwärtig wieder ein Stück nach vorn.
Dann sah er was los war: das abgeschlagene Pendel hatte durch die Wucht des Aufpralls ein Stück aus der Brücke vor ihm rausgeschlagen. Die abgetrennten Eisenplatten stürzten samt ihren Pfeilern an der Seite und zusammen mit der abgetrennten Axtschwinge in die Tiefe. Das Ganze ging quälend langsam vonstatten und wurde begleitet von diesem heftigen Ruckeln und lauten kreischenden Metallgeräuschen.
Siegessicher blickte der Anderwelt-Anubis zu Tobias. Allmählich entfernten sich die herabstürzenden Teile und so trennte Tobias von dem Unterwelt-Monster nur noch dessen soeben herbeigeführter Abgrund.
Tobias stockte der Atem. Der Anubis sah ihn direkt an und schien mit fletschenden Zähnen zu lächeln. Anscheinend wartete er nur noch darauf, bis das Ruckeln aufhörte. Dann würde er mit einem kleinen Sprung ganz schnell bei seinem auserkorenen Opfer sein.
Plötzlich hörte Tobias eine Art Flüstern. Er saß noch immer auf dem Boden und sah sich wundernd um. Täuschte er sich nur?
Doch auch der Anubis schien etwas zu bemerken, denn er legte den Kopf schief.
Tobias hörte weiterhin das Flüstern, das von hunderten Stimmen gleichzeitig zu kommen schien. Aber woher? Mehr aus einer Ahnung heraus griff er in seine Jacke und holte das Buch des Phaleg hervor. Sofort war das Flüstern lauter zu vernehmen. Das Buch war nun auch mit einer seltsamen dunklen Wolke umhüllt, die etwas Schattenartiges an sich hatte.
Im nächsten Moment sprang der Anderwelt-Anubis über den Abgrund und stand direkt bei Tobias. Es schepperte laut, als das Ungeheuer auf den Boden aufkam. Tobias ruckte zusammen und hielt das Buch mit beiden Händen verkrampft fest.
'Jetzt hat er mich', dachte er angstvoll. Es war vorbei.
Das dämonische Monster holte mit seiner Hellebarde aus und schlug auf Tobias ein. Eher aus Instinkt riss dieser im letzten Moment die Hände hoch und hielt das Buch wie ein Schutzschild über sich.
Daraufhin geschah etwas Seltsames: als die Hellebarde auf das Buch traf, prallte sie mit starker Wucht davon ab und zersplitterte sogar. Der Rückprall war so stark, dass der Anderwelt-Anubis aus dem Gleichgewicht geriet und rückwärts taumelte. Tobias konnte nicht fassen, als er es sah.
Der dämonische Anubis brüllte verzweifelt auf. Er konnte sich nicht auf den Füßen halten, ließ seine Waffe los und taumelte ohne eine Chance rückwärts in den Abgrund, den er selbst geschaffen hatte.
Tobias atmete stoßweise und saß mit rasendem Puls und mit aufgerissenen Augen da. Wie in Zeitlupe sah er den brüllenden Anubis langsam in den Abgrund verschwinden. Im nächsten Augenblick hörte er weit unter sich ein Platschen. Gleichzeitig verstummte das Gebrüll des Anubis.
Tobias schnaufte durch und schloss die Augen. Hinter ihm pendelte die riesige Axtschwinge unbeeindruckt weiter. Aber das störte ihn nicht mehr. Diese Dinger waren ja fast schon harmlos verglichen mit dem Ungetüm, das ihn beinahe ins Reich der Toten befördert hätte.
Nach einem weiteren Moment öffnete Tobias seine Augen und betrachtete das Buch. Es hatte noch nicht mal einen Kratzer. Die schattenartige Wolke war weg, ebenso wie das Flüstern.
Tobias rappelte sich allmählich hoch. Jetzt, wo sein Verfolger beseitigt war, konnte er endlich den Weg fortsetzen. Er steckte sich das Buch wieder in die Jacke, ging ein paar Schritte vorwärts und besah sich den Abgrund. Er war schon nicht ohne, doch mit einem gut gezielten Sprung sollte er rüberkommen.
Im nächsten Augenblick setzte ein Ruckeln ein. Tobias fiel fast hin, konnte sich aber auf den Beinen halten. Das Ruckeln blieb gleichmäßig bei, außerdem konnte Tobias ein leichtes Dröhnen hören.
Hektisch leuchtete er umher. Mit der Brücke schien alles in Ordnung zu sein. Er leuchtete weitläufig in die Halle und nach oben. Dann sah er es: die Decke kam langsam herunter! Und nun, wo sie schon ein Stück dichter dran war, waren auch die wunderschön scharfen und großen Stacheln zu sehen, die überall von der Decke rankten.
Tobias konnte nicht glauben, was er sah. "Ihr habt sie doch nicht mehr alle!", schnauzte er verärgert über die nicht enden wollenden Bedrohungen.
Sogleich stieg sein Adrenalinpegel wieder an. Er fixierte den Abgrund, nahm Anlauf und sprang im letzten Moment ab. Ihm rutschte das Herz in die Hose, als er geradeso noch das Ende des Eisenfußbodens zu krallen bekam. Ächzend zog er sich nach oben. Die Decke war inzwischen wieder ein Stück näher.
Tobias zog sich ganz auf den Absatz und sprang sofort auf. Gleich darauf rannte er wie verrückt den hinteren Teil der Brücke entlang. Einmal gönnte er sich kurz einen Blick an die Decke. Sofort rannte er noch schneller. Die Spitzen der Stacheln waren jetzt schon gut zu erkennen und höchstens noch zwei Meter entfernt.
Tobias konzentrierte sich auf den Weg vor ihm. 'Verdammt, wie lang ist denn bloß diese verfluchte Brücke?!', dachte er panisch.
Doch im Scheinwerferlicht vor ihm tauchte plötzlich das andere Ende der riesigen Halle auf. Tobias atmete erleichtert auf. Nervös registrierte er, dass die Stacheln nur noch einen Meter über ihm entfernt waren. Er schaute wieder nach vorn und erblickte zu seiner Freude eine Tür am Ende der Brücke. Er biss auf die Zähne, beschleunigte nochmals und stürzte darauf zu.
Als die Stacheln nur noch eine Kopflänge über ihm waren, erreichte er die verrostete Metalltür, auf der sich - mal wieder - das Symbol "halo of the sun" befand.
Ohne lange zu fackeln, drängte sich Tobias durch die Tür. Kaum war er in dem Raum dahinter, fühlte er sich erschlagen von der plötzlichen Stille. Er war in einer Art Gang aus metallenen Wänden und mehreren Türen. Alles schien hier völlig ruhig zu sein.
Tobias blieb erstmal stehen und leuchtete umher. Links neben sich sah er eine Art Hörsaal hinter einem Eisengitter. Ein Stück weiter rechts zweigte ein Weg ab. 'Moment mal', dachte er und leuchtete den Gang komplett nach oben und zur Seite ab. Die Art der Anordnung und wie der Gang oben gewölbt war - das kam ihm doch bekannt vor.
Im nächsten Augenblick traf ihn die Erkenntnis wie ein Schlag: er war wieder in der Germanistik! Und zwar im ersten Flurgang, an der Stelle, wo in der normalen Welt der Kaffeeautomat stand. Er war also am Ende des Flurganges herausgekommen. Durch das bizarre Eisenwelt-Aussehen hatte er das nur nicht gleich mitbekommen.
Tobias drehte sich um. Die Tür war noch da. Allerdings gab es dort sonst keine Tür, denn dies war ja eigentlich die Außenwand. Aber egal. Er befand sich zumindest wieder in einer etwas normaleren Umgebung als eben noch.
Er schüttelte sich einmal und setzte sich in Bewegung. Wenn er wieder im ersten Stock der Germanistik war, gab es eine Chance, hier bald rauskommen. Er eilte den eisernen Flur entlang und steuerte die Treppe nach links zum Haupteingang an.
Als er dorthin eingebogen war und die ersten Stufen herabstieg, traf ihn fast der Schlag. Der Haupteingang vor ihm sah total bizarr aus: statt der hölzernen Doppeltür und dem schönen großen Fenster darüber, schaute Tobias auf zwei eiserne Metalltüren, die über und über mit Stacheln bedeckt waren. Inmitten über ihnen hing ein Kadaver, der mit Metallstreben durch Kopf und Torso dort befestigt war.
Tobias fröstelte es ordentlich: diesen bizarren Haupteingang hatte schon einmal gesehen, nämlich auf dem übergroßen Bild in der Nebelwelt, das an genau dieser Stelle gehangen hatte. Nun stand er also leibhaftig vor diesem Horroranblick.
Er verharrte noch einen Moment, dann trat er an die mit Stacheln bespickten Türen heran. Allerdings war recht schnell zu erkennen, dass man diese Türen nicht bewegen konnte. 'Verdammt...', dachte Tobias. Er versuchte, sich vorsichtig unter dem Schutz der Jacke gegen die bestachelten Türen zu lehnen, aber sie bewegten sich keinen Millimeter.
Tobias seufzte. Hier kam er also nicht heraus. Mit einem Mal schreckte er zurück. Hatte sich der Kadaver eben etwa bewegt? Er ging ein paar Schritte rückwärts die ersten Stufen der Treppe hinter sich hoch. Da - schon wieder! Unverkennbar sah man, wie der Kadaver über ihm im Schein seines Halogenstrahlers zuckelte. Die Bewegungen wurden plötzlich noch heftiger. Der Kadaver wand sich an seiner fixierten Stelle hin und her, so dass er schon fast lebendig wirkte.
Tobias ging sicherheitshalber die Trepper noch weiter hoch.
Im nächsten Augenblick platzte der Kadaver auseinander - begleitet von einem ekligen Geräusch.
Tobias klappte vor Staunen den Unterkiefer herunter. Er sah eine riesige Traube von Käfern aus dem aufgeplatzten Körper herunterrieseln. 'Das sind Skarabäen!', erkannte er. Und jeder war so groß wie eine Hand.
Mit einem Schrei des Erschreckens wandte Tobias sich um, übersprang die beiden obersten Stufen der Treppe und stürzte zurück in den Flurgang. 'Bloß weg hier', war das einzige, was er denken konnte.
Hinter ihm hörte er ein unter die Haut gehendes Wuseln und Klickern von tausend kleinen Beinchen.
Tobias preschte den Gang herunter. Doch weit kam er nicht: ein Eisengitter sperrte den Weg zum Treppenhaus und dem Vordereingang der Germanistik ab. 'Verdammt, was nun!', dachte er panisch. Gleich würden die Skarabäen ihn erreicht haben.
Hektisch sah er sich um. Dann erkannte er links von sich den Weg zu der allseits bekannten Wendeltreppe des Gebäudes. Rasch schlug er den Weg dahin ein, wobei er über die erste herannahende Käferreihe springen musste.
An der Wand bei der Treppe befand sich seltsamerweise eine brennende Fackel. Ohne lange zu überlegen nahm Tobias diese dankbar an sich. Schon hatten die Skarabäen ihn eingeholt.
Doch Tobias wandte sich behände um und schwenkte mit der Fackel über den Fußboden. Sofort stoppten die angriffslustigen Tierchen ihren Vormarsch. Einige von ihnen erwischte er mit der Fackel. Quiekend flogen die Tierchen beiseite und brannten teilweise.
"Bleibt schön, wo ihr seid", rief Tobias den eklig aussehenden Monsterkäfern zu. Eine Antwort bekam er nicht, doch wuselten die Tiere nun auf der Stelle und hielten sich zurück.
Die Fackel weiter vor sich schwenkend betrat Tobias die Wendeltreppe. Er sah, dass man sie nur nach unten nehmen konnte. Er wusste zwar nicht, wie ihm das hier raus helfen sollte, aber was konnte er sonst tun?!
Von einer Sekunde auf die andere sprintete er die Treppe herunter. Gleich darauf glaubte er zu hören, wie die Monsterkäfer ihm folgten. Doch wegen der Fackel trauten sich das nur einige Tierchen. Sie ließen sich fallen, landeten aber entweder in der Fackel oder fielen an Tobias vorbei auf die Treppe, so dass er sie beim Weiterlaufen tottrampeln konnte.
Von all dem unbeirrt konzentrierte er sich aufs Weiterkommen und eilte die Wendeltreppe herab.
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Etwa zur gleichen Zeit eilte Anne weiter den sich nach rechts windenden Gang entlang. Der Verfolger mit der übergroßen Klinge schien immer noch da zu sein. Zu ihrem Schrecken konnte sie ihn nicht abschütteln. Wie aus dem Nichts tauchten die Schrittgeräusche und das Schaben manchmal wieder vor ihr auf. So auch diesmal gerade. Als konnte das Ding sie überholen.
Anne stoppte, als sie erneut die Geräusche hörte und den Schemen über sich sah, der im Licht ihrer Taschenlampe deutlich oben über die Decke zu sehen war.
Im nächsten Moment stoppte das Ungetüm wiederum und holte mit der riesigen Klinge aus. Es krachte ohrenbetäubend, dann sah Anne erneut einen Riss und ein Teil dieser enormen Klinge über sich im Metall stecken. 'Es versucht ständig, zu mir durchzudringen', dachte sie mit klopfendem Herzen und rannte schnell weiter. Oder wollte das Ding ihr nur Angst machen?
Anne wollte ihrem Gegner jedenfalls keine Chance geben, sie fertig zu machen. Also musste sie weiterrennen. Irgendwie ahnte sie auch, dass dieser Verfolger kein normales Monster war, sondern eines der besonderen Art. Sie würde nicht warten, bis das Ding vor ihren Füßen landete.
Derart denkend sah sie plötzlich das Ende des Ganges in Sicht kommen. Sogleich hellte sich ihre Miene auf. Die Biegung nach rechts endete endlich. Der Gang verlief noch ein Stück geradeaus, dann wartete eine weitere Tür mit dem Symbol "halo of the sun" darauf, geöffnet zu werden.
Fast schon erleichtert erreichte Anne diese Tür und eilte sofort hindurch. Doch was war das? Sie stand plötzlich in einem großen quadratischen Raum ohne weitere Tür. Durch den Gitterboden unten sah man wiederum tausende kleine Flammen brennen.
Anne eilte durch den Raum. Aber wohin sie auch sah: die Wände hatten keine weitere Tür. Stattdessen gab es hier seltsamerweise zwölf riesige Säulen, jeweils vier an einer Wand. Sie fragte sich gerade, was sie hier sollte, als sie das metallische Schaben wieder vernahm.
Erschrocken leuchtete sie an die Decke. Rechts oben über der Tür, durch die sie gerade hier reingekommen war, näherte sich die ihr bekannte absonderliche Gestalt. Da die Wände des Raumes sich in dem Stockwerk darüber nicht fortsetzen, hatte das Ding sie einfach von oben her einholen können. 'Verdammt, was nun?!', fragte sich Anne.
Im nächsten Moment erschreckte sie völlig. Es knatschte langgezogen, dann klappte oben neben ihr ein Teil der Decke langsam herab. Anne zuckte zusammen. Gegenüber der Stelle, wo das Wesen stand, hatte sich die Decke von der Wand gelöst. Das lose Ende neigte sich nun langsam nach unten. Im nächsten Moment knallte das Ende der Decke auf dem Boden laut auf. Eine riesige Rampe, die vom oberen Stockwerk in diesen Raum hinabging, war nun entstanden.
Annes Puls raste. Mit bebendem Herzen musste sie mit ansehen, wie im nächsten Moment das seltsame Ding einen Fuß auf diese Rampe setzte und von oben in den Raum hineinkam.
Langsam ging sie rückwärts. Das metallische Schaben der übergroßen Klinge war nun sehr laut zu hören. Das Monster ging Schritt für Schritt die metallene Schräge hinunter, seine übergroße Schneide unbeirrt hinter sich herziehend. Immer mehr Details wurden von ihm sichtbar: erst die klumpigen Füße, dann der in einem Lumpengewand gehüllte Unterkörper, schließlich auch die extrem lange und dicke Schneide, die wie ein übergroßes Schlachtermesser aussah.
Aber als schließlich der Oberkörper in Sicht kam, bekam Anne endgültig das Grausen. "Aaahhh!", entfuhr es ihr panisch. Was ist das denn nur für ein Ding???
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Tobias kam inzwischen am Ende der Wendeltreppe an. Von dort gelangte man normalerweise in die Räume des Fachschaftsrates der Germanistik. In der bizarren Anderwelt gab es hier aber nur einen einzigen Gang, den man nehmen konnte. Ohne sich lange zu wundern, eilte er diesen entlang. Bei jedem Schritt hörte er das bekannte 'Klänk-Geräusch', das auf dem metallenen Fußboden erzeugt wurde. Der Gang war ziemlich niedrig und ließ Unbehagen in ihm aufsteigen. Doch er kam gut voran. Ab und zu lauerte ihm ein Skarabäus auf - mal am Boden, mal an der Wand oder auch mal an der Decke - doch Tobias konnte die Viecher mithilfe der Fackel gut von sich fernhalten.
Nach ein paar weiteren Schritten endete der Gang endlich. Eine Leiter führte dort nach oben. Tobias leuchtete hoch. Oben schien ein neuer größerer Raum zu sein. Da es der einzige Weg war, musste er ihn wohl gehen.
Er betrat die Leiter und stemmte sie sich hoch. Fackel und Halogenleuchte musste er dabei mühsam mit den Händen an der Leiter fixieren und mit hochziehen. Aber es ging ganz gut. Er erreichte die Öffnung und lugte auf der Leiter stehend in den Raum herein.
Das schien ein Hörsaal zu sein, erkannte er auf den ersten Blick. Zwar waren die Bänke und Sitze verbrannt, aber so wie sie angeordnet waren, konnte man es nicht verkennen. Er war direkt vorne bei der riesigen Tafel herausgekommen, die auch aus Metall war und total verzogen.
'Das ist der große Hörsaal der Germanistik', begriff Tobias erfreut. Er war also wieder im ersten Stock des Gebäudes.
Er wollte gerade aus dem Loch im Boden steigen, als ihn plötzlich ein Lichtstrahl traf. Tobias erstarrte, blieb auf der Leiter stehen und hielt sich eine Hand vors Gesicht.
"So you made it this far, young man", hörte er im nächsten Moment eine ältere Frauenstimme langsam und gefährlich säuseln. "But your journey will ends now."
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