22. Kreatur der Finsternis

Der Professor starrte die gruselig verunstaltete Alessa mit bebendem Herzen an. Instinktiv ging er noch ein paar Schritte rückwärts und seitwärts.
Die vermoderte und verbrannte Alessa fixierte ihn mit ihren schwarzen Dämonenaugen und knurrte böse. Im nächsten Moment bäumte sie sich auf und veränderte sich. Sie bekam einen Wachstumsschub, wurde größer und breiter. Der Brustkorb blähte sich auf, wuchs in die Breite. Ihr Kopf dehnte sich unnatürlich in die Länge, während gleichzeitig die Haare zurückgingen und verschwanden.

Der wachsende Brustkorb zerriss schließlich das verbrannte Kleid und kam zum Vorschein. Er war nun ein einziger Fleischtorso mit seltsamen blutroten Linien. Vorne in seiner Mitte ragten eindeutig zwei Frauenbrüste hervor, die ebenfalls aus verbranntem Fleisch bestanden und seltsam bizarr ins Bild passten. Kopf und Gesicht hatten sich zu einer länglichen dämonischen Fratze verzerrt. Gleich darauf hörte man Knorpel platzen und der Professor sah, wie zwei riesige Hörner aus der Stirn dieses Wesens hervorbrachen.
Nein, das war gar nicht Alessa, erkannte der Professor. Das war etwas... etwas ganz Anderes.

Jonathan Hayden schritt langsam weiter in die Mitte des Parkplatzes, seitlich von dem Wesen weg. Instinktiv entfernte er sich dadurch von dem Historischen Institut, wo der Eimer mit der Farbe stand.
Das dämonenhafte Wesen schnaubte grauenhaft und fuchtelte mit den Armen, die seltsamerweise immer noch das zierliche Aussehen einer Frau hatten und gar nicht so recht zum größeren Körper passten. Der Professor stoppte abrupt und versuchte seinen Herzschlag unter Kontrolle zu bekommen. Während das Wesen mit den Armen schnaubend fuchtelte, konnte er zwei knochenartige Ansätze oben an den hinteren Schulterblättern des Dinges ausmachen. Es schienen die Ansätze von Flügeln zu sein... 

Gleich darauf schnaubte die etwa zweieinhalb Meter große Kreatur erneut bösartig und kam langsam auf den Professor zu.
Jonathan Haydens Blick bekam nun etwas Entschlossenes. Ohne weiter darüber nachzudenken, griff er sich ins Hemd und holte zügig den Dolch des Bethor hervor. Vermutlich hatte er keine Chance gegen das Ding. Vermutlich würde er hier und jetzt sterben. Aber er würde sich nicht so einfach in dieses Schicksal ergeben. 

Hayden leuchtete das Wesen weiter an und hob den Dolch einmal sichtbar zur Seite hoch, als wollte er sich kampfbereit zeigen. Das Silber des Dolches blitzte im Licht der Taschenlampe.
Daraufhin bewegte das Monster seinen Kopf zur Seite und hielt inne. Dem Professor schien es, als blinzelte es einmal kurz. 'Der Dolch', erkannte er erregt, 'anscheinend hat es damit nicht gerechnet!'
Im nächsten Moment hob das Wesen seinen rechten Arm, mit der ausgestreckten Hand zum Professor hin. Dabei fixierte es sein Gegenüber mit seitlich geneigtem Kopf.

Bevor Jonathan Hayden begriff, was das werden sollte, blitzte es einmal rot in der Handfläche auf. Gleich darauf sah er einen Feuerball auf sich zu kommen.
"God heavens!", rief er und sprang zur Seite auf den Boden. Er hörte das Geräusch einer vorbeischwenkenden Fackel hinter sich und spürte einen warmen Luftzug. Der Feuerball traf rechts hinter ihm auf den vergitterten Fußboden und verschwand durchs Eisengitter.

Er schaute blitzschnell zu dem Wesen. Dies hatte nun den linken Arm erhoben und feuerte sogleich eine weitere Feuerkugel ab. Hayden rappelte sich eilig hoch und stürzte schnell in die andere Richtung. Wieder sauste der Feuerball knapp an ihm vorbei. Die Dinger flogen ziemlich schnell, fiel ihm unangenehm auf.
Die Kreatur stöhnte tief und schüttelte seinen dämonischen Kopf, so als sei es mit der Sache unzufrieden. Hayden sammelte sich, starrte es erschrocken an. Die tierhafte Stimme des Dings hatte nichts Menschliches an sich und erst recht nichts mehr mit einer jungen Frau gemeinsam.

Schnell rappelte der Professor sich hoch. Gerade rechtzeitig, denn das Wesen hob im gleichen Moment beide Arme gleichzeitig zur Seite. In den Handflächen blitzte es rot auf und schon sausten gleich zwei Feuerbälle auf Jonathan Hayden zu.
Der Professor schrie erschrocken auf. Die Feuerkugeln waren gefährlich nah beieinander. Da er es nicht schaffen würde, an einer der beiden außen dran vorbeizuspringen, drehte er sich zur Seite und sprang mit eingezogenem Bauch und langgestreckten Armen zwischen beiden Kugeln seitlich hindurch. Er spürte einen heißen Luftzug und sah schon seine Weste brennen. Doch der Schreckensmoment ging vorüber. Beide Feuerbälle verfehlten ihn und verschwanden erfolglos im eisernen Gitterboden.

Sogleich leuchtete der Professor wieder zu der Kreatur, in der anderen Hand immer noch den Dolch haltend. Doch die stierte ihn nur dämonisch an. Im nächsten Moment hörte Hayden ein Surren. Gleich darauf verwischte das Wesen in einer Art Luftspiegelung und war dann verschwunden. "What the...", wunderte sich der Professor.
Plötzlich hörte er erneut dieses Surren - hinter sich! Er wandte sich blitzschnell um und bekam fast einen Herzinfarkt. Das Monster war wie aus dem Nichts direkt hinter ihm aufgetaucht! Eher vor Schreck, statt geplant, sauste der Professor mit seiner Hand und dem ausgestreckten Dolch herum.
Daraufhin geschah etwas Seltsames: das Wesen sprang ruckartig zurück. Im nächsten Moment surrte wieder die Luft und es verschwand vor den Augen des Professors.

Jonathan Hayden atmete angestrengt. War das Ding etwa gerade aus Furcht zurückgesprungen? Er hatte keine Zeit zum Nachdenken. Ein Stück rechts von ihm surrte es und das Wesen erschien dort - gleich einer Fata Morgana, die real wird. Sofort darauf hob es erneut seine seltsam zierlichen Alessa-Arme und feuerte Feuerbälle ab.
Wieder musste der Professor zur Seite springen. Doch jetzt keimte eine gewisse Hoffnung auf. Während er weiteren Feuerkünsten der Kreatur rennend und springend auswich, formte sich ein Gedanke: das Ding hatte Furcht vor dem Dolch. Deshalb griff es ihn vermutlich lieber von weitem an.

Aber das Monster schien seinen Kampfstil gerne zu variieren. Nachdem es erneut zwei Feuerbälle auf den Prof abgefeuert hatte, verschwand es wieder surrend in einer Luftspiegelung. Jonathan Hayden glaubte sich darauf eingestellt und fuhr schnell herum. Allerdings passierte nichts. Er drehte sich schnell nach links und dann nach rechts. Nichts.
Plötzlich surrte es unerwartet laut hinter ihm. Bevor er sich erneut umdrehen konnte, spürte er von hinten einen Stoß. "Aahh!", schrie der Professor und fiel vorn auf die Knie. Das Wesen hatte ihn von hinten zu Boden gestoßen!

Sofort rollte er sich herum. Er starrte direkt in die monströsen Augen des Dings, das nun siegessicher seine Arme hob, um den Professor aus nächster Nähe zu befeuern. Schon sah Hayden die Handflächen hellrot leuchten. Daraufhin tat er in einem Akt der Verzweiflung so, als würde er den Dolch direkt auf das Wesen werfen.
Der Bluff funktionierte. Tatsächlich sprang das Monster nach links zur Seite. Sowie Hayden das sah, rappelte er sich auf und rannte in eine sichere Entfernung. Hinter sich hörte er das Ding verärgert schnauben. Er wandte sich fix um und sah mehr aus dem Augenwinkel, wie das Biest vor Zorn hastig seine beiden Arme nacheinander vorstieß und zeitversetzt zwei weitere Kugeln abfeuerte.

Der Professor sah sich einmal kurz nach den Kugeln um, rannte eine Rechtskurve, entging so dem ersten Feuerball und schwenkte dann 90 Grad nach links, wodurch auch der andere Ball an ihm vorbeiflog.
Das Wesen schüttelte erneut seinen Kopf und schnaubte wütend. Die Sache verlief anscheinend nicht nach seinem Geschmack. Doch der Prof ließ sich davon nicht mehr einschüchtern. Er war sich nun einer Sache ganz sicher: dieses Ding fürchtete den Dolch des Bethor. Vermutlich, weil es ein Gegenstand des Metatron war. Vermutlich konnte er es damit ernsthaft verletzen.

Jonathan Hayden tippelte noch ein paar Schritte, schwenkte abrupt rechts herum und blieb dann in einer einigermaßen selbstbewussten Pose stehen, dem Wesen zugewandt.
Dieses ging ein paar Schritte auf ihn zu, blieb stehen und fixierte ihn mit seitlich geneigtem Kopf. Als hätte es eine neue Idee, hob es daraufhin beide Arme über Kreuz vor sich, mit den Handflächen auf seinen Gegner gerichtet.
Der Professor stand breitbeinig da, den Dolch kampfbereit zur Seite gestreckt.

Im nächsten Moment leuchteten die Handflächen rot auf. Gleich darauf bewegte das Wesen seine überkreuzten Arme blitzschnell auseinander. Sobald das geschah, lösten sich Feuerkugeln aus den Händen. Doch statt nur zwei, sah Jonathan Hayden gleich vier Kugeln auf sich zufliegen.
"Ahh", stöhnte der Professor. Die vier Feuerbälle kamen in recht nahem Abstand zueinander auf ihn zu. Er würde aber auch nicht mehr zur Seite ausweichen können. 

Ohne lange zu überlegen stürzte er sich seitlich auf den Boden und rollte auf dem Eisengitter in Richtung der vier Kugeln. Es war gewagt, aber es funktionierte. Die Feuerbreitseite flog über seinen rollenden Körper hinweg und verschwand ein gutes Stück hinter ihm in den Eisenboden. Er spürte lediglich einen warmen Windzug.
Hayden stoppte das Rollen und blickte hektisch zum Wesen. Allmählich erfüllte sich sein Herz mit Mut und Wut. Er stieß sich vom Boden ab, kam dadurch ruckartig in eine aufrechte Haltung und lief dann mit erhobenem Dolch auf das Monster zu. Er war sich allmählich sicher, dass dieses Ding nicht andauernd feuern konnte.

Wie um seinen Verdacht zu bestätigen, floh das Wesen wiederum vor ihm, indem es erneut in einer surrenden Luftspiegelung verschwand. Der Professor ging dennoch zügig bis zu der Stelle hin, wo es eben noch gestanden hatte. Er schnaufte und schwitzte, sein Herz raste unaufhörlich. Dennoch spürte er keine Angst, sondern eher Erregung. Das Adrenalin hatte seine Körperfunktionen teilweise übernommen.
Hektisch wand er sich hin und her. Das Wesen blieb verschwunden, doch er wusste genau, was gleich kommen würde. 

Im nächsten Moment surrte es laut hinter ihm. Wie vom Professor vermutet, versuchte das Monster wieder direkt hinter ihm aufzutauchen. Doch diesmal hatte Hayden nur darauf gewartet. Sowie er das Surren hörte, sprang er ein Stück nach vorn und sauste dann mit der ausgestreckten Dolchhand herum.
Tatsächlich erblickte er dabei das Wesen hinter sich. Der Dolch sauste vor dem Körper des Dings herum. Hayden hörte ein Zischen. Zeitgleich sah er dabei Qualm am Körper des Monsters und an einer der bizarren Frauenbrüste aufsteigen. Das Wesen quiekte laut, sprang zurück und verschwand sofort in einer Luftspiegelung.

Der Professor war verwirrt. Hatte er das Ding getroffen? Aber er hatte doch gar keinen Widerstand mit dem Dolch gespürt? Doch irgendetwas musste passiert sein.
Allerdings hatte er keine Ruhe, um den Gedanken weiter zu verfolgen. Die dämonische Kreatur erschien erneut in sicherer Entfernung und feuerte sofort weitere Feuerbälle auf ihn ab. Erschrocken erkannte Jonathan Hayden, dass die Feuerkugeln dieses Mal sogar ein Stück weit die Richtung auf ihn anpassten, sobald er sich zur Seite bewegte. Er machte einen großen Ausfallschritt und sprang weit zur Seite und auf den Boden.

Allerdings war er allmählich zu erschöpft, um sofort aufzuspringen und das Ding anzugreifen. Sein Hemd war schon durchgeschwitzt. Ärgerlich blickte er nur zu dem Wesen, das glücklicherweise nicht sogleich erneut feuern konnte. Während er so auf Händen und Knien gestützt da saß und laut atmete, tropfte ihm irgendetwas auf die Finger. Verwundert erhob er sich. Währenddessen surrte es und das Ding verschwand mal wieder von der Bildfläche.
Der Professor wartete ab, wo das Wesen auftauchte. Diesmal erschien es seitlich versetzt von ihm und feuerte von dort erneut. Und zwar gleich vier Kugeln! Der Gelehrte ließ sich blitzschnell fallen und rollte erneut unter die Feuerbälle hindurch.

Sobald er das geschafft hatte, schnaubte das Monster wiederum verärgert und fuchtelte einschüchternd mit seinen Armen herum. Der Professor ließ sich diesmal davon nicht stören. Er stand eilig auf und besah sich mit der Taschenlampe seine Hände. Was war ihm eben auf die Finger getropft? Während das Wesen noch wütend schnaubte, erblickte er im Licht der Lampe rot glänzende Flecken auf den Fingern. Er wunderte sich zunächst. Dann leuchtete er an sich herunter und sah, dass seine Weste vorne mit roter Farbe beschmiert war.
Währenddessen verschwand das Wesen.
'Na klar - die Farbe!', dachte der Professor erregt. Sie war ihm an Hemd und Weste geschwappt, als er vorhin bei dem Beben auf dem Eimer gelegen hatte, um ihn zu fixieren.

Im nächsten Moment surrte es laut hinter ihm. Vor Schreck rannte der Prof einfach los. Er erahnte sowieso, was das Ding machen würde. Er zählte bis fünf, dann bog er urplötzlich nach links ab. Im nächsten Augenblick sah er auch schon den Lichtschein und spürte einen warmen Luftzug. Er stoppte kurz darauf, wandte sich um und sah, wie drei Feuerkugeln mit dichtem Abstand in den Boden verschwanden. 'Wieder daneben!', freute er sich.
Er blickte zu dem Wesen, das ihn nun mit seitlich geneigtem Kopf ansah. Aber was war mit der Farbe?! Der Professor versuchte sich wieder auf den Gedanken zu konzentrieren, den er vorhin nicht zu Ende denken konnte: die Farbe auf seiner Weste musste eben auf das Ding gespritzt sein, als er mit dem Dolch in der Hand so zügig herumgewirbelt war. Und in der Farbe war... Aglaophotis!
'Das ist es', begriff Jonathan Hayden.

Das Wesen feuerte plötzlich weitere vier Feuerkugeln ab. Hayden kam in Bewegung, rannte dieses Mal nach rechts und ließ sich im letzten Moment auf den Boden fallen. Ganz knapp sauste die äußerste rechte Kugel über ihn hinweg und in das Eisengitter.
Doch der Professor war nun in einer gesteigerten Erregung. Er konnte diese Kreatur der Finsternis mit dem Aglaophotis ernsthaft schaden - natürlich konnte er das! Warum hatte er daran nicht gleich gedacht! Er rollte sich entschlossen auf die Seite und beobachtete gebannt das Wesen. Verstohlen tastete er mit der am Boden verdeckten Hand an seine linke Westentasche, während das Monster ein paar Schritte auf ihn zu kam.
Jonathan Hayden hätte am liebsten freudig aufgeschrien, als er mit der Hand die Plastikflasche mit dem Aglaophotis erfühlte. Sie füllte die Westentasche gut aus und steckte dadurch ziemlich stark fixiert in ihr drin. Vermutlich war sie nur deshalb bisher nicht bei dem ganzen Gerenne und Gespringe herausgefallen. 

Das dämonische Monster stoppte plötzlich und hob seine Arme wieder in die Höhe. Ruckartig rappelte der Professor sich auf. Das Ding stand jetzt dichter und könnte ihn mit einer Feuerbreitseite gut treffen. Tatsächlich flogen im nächsten Moment wieder zwei brennende Kugeln auf ihn zu - diesmal jeweils in einem Bogen von links und rechts.
Doch Jonathan Hayden hatte sich inzwischen gut auf die gefährlichen Feuerbälle eingestellt. Er sprang behände nach links und rollte sich zur Seite ab, die linke Hand dabei an der Westentasche anliegend. Da beide Kugeln einen Bogen flogen, hatte er sich außer Reichweite gerollt. Während die Feuerkugeln erfolglos im vergitterten Eisenboden verschwanden, stoppte er ab und richtete sich sofort auf. Dabei warf er dem Wesen einen kämpferischen Blick zu.

Wie erwartet verschwand das dämonische Ding im nächsten Moment in einer Luftspiegelung. Doch diesmal hatte der Professor nur darauf gewartet. Eilig drehte er sich weg, griff dabei in die Westentasche, zog blitzschnell das Plastikfläschchen hervor und drehte zügig den Deckel ab. Dabei hielt er die Flasche leicht verdeckt an seiner Brust. Er war sich ziemlich sicher, dass das Wesen ihn auch sehen konnte, wenn es verschwunden schien.
Dann wandte er sich eilig um, erst nach links, dann nach rechts - die geöffnete Flasche weiterhin verdeckt an der Brust haltend. Dabei mahnte er sich zur Ruhe. Für seinen Plan hing alles vom richtigen Timing ab. Er wartete auf das surrende Geräusch.

Plötzlich vernahm er es wie erhofft hinter sich. Der Professor reagierte umgehend. Blitzschnell sauste er herum, und schleuderte den Inhalt der Flasche auf das gerade erst entstehende Wesen. Es hatte keine Chance, um noch auszuweichen. Das ganze restliche Aglaophotis platschte breitflächig auf das Monster. Gleich darauf hörte man ein enorm lautes Zischen und der Körper des Dings qualmte auf. Das Wesen quiekte fürchterlich auf, windete sich hin und her und ging rückwärts.
Jonathan Hayden sah, wie die Oberfläche des Monsters flüssig wurde und verdampfte. Als wäre es mit Säure begossen worden. Das Wesen quiekte und brüllte fürchterlich und hielt sich die Arme vor Kopf und Gesicht.

Ungläubig erstarrt konnte der Professor nur zuschauen, was als Nächstes geschah. Das verletzte Ding verlor zügig an Größe und nahm wieder menschliche Gestalt an. Jetzt stand vor ihm wieder Alessa Gillespie, die mit verschränkten Armen vors Gesicht mit einer hohen Mädchenstimme schluchzte. Sie sah jetzt aber fast normal aus, trug nun ihr blaues, fast violettes Kleid, das gar nicht mehr verbrannt aussah, sondern nur verschmutzt. An ihren erhobenen Armen fehlten hier und da ein paar Haut- und Fleischfetzen, einige weitere fielen ständig ab und zerplatschten am Eisenboden zu Matsch. Das Gleiche passierte an den Beinen, erkannte der Professor.

Die vor ihm stehende Alessa wirkte verletzlich und schwächlich. Sie hatte noch nicht einmal mehr richtige Füße, wie Jonathan Hayden bemerkte. Diese hatten sich bereits zu einer matschigen Pfütze aufgelöst, in der die angeschlagene Alessa langsam aber sicher hineinsank. Sie löste sich auf, schien zu schmelzen.
Der Professor straffte seine Schultern. Er durfte sich von diesem Bild nicht täuschen lassen. Er verengte seine Augen, rückte seine verrutschte Hornbrille gerade und ging langsam mit vorgestrecktem Dolch auf die scheinbar verängstigte Alessa zu. Diese schluchzte weiter - nun fast flehend.
Mit bebendem Herzen ging Jonathan Hayden sehr dicht an sie heran. Er war kein Mann der Gewalt, aber hier und jetzt musste er das für diesen einen Moment bei Seite legen.

Die sich auflösende Alessa blinzelte flehentlich durch ihre schützend erhobenen Arme hindurch. Dabei schluchzte sie herzzerreißend.
Der Professor atmete jetzt hörbar und stoßweise. Er nahm seinen ganzen Mut zusammen und hob den Dolch mit beiden Händen in die Höhe. Dann brüllte er laut und jedes Wort betonend: "YOU - ARE - NOT - ALESSAAAA!" Bei der letzten Silbe rammte er den Dolch hart und schnell mitten in den Kopf der angeblich geschwächten Kreatur. 
Sofort darauf kreischte Alessa auf und zerfiel direkt vor dem Professor in tausende einzelne Kugeln aus Matsch. Während dies geschah, veränderte sich die kreischende Stimme von einem mädchenhaften Ton in etwas Dunkles und Tierhaftes.
Im nächsten Moment verhallte diese Stimme und verschwand. Auf dem Eisenboden befand sich nur noch eine große Pfütze aus schleimigen Matsch, der durch das engmaschige Eisengitter ins Nichts floss.

Professor Hayden stand aber immer noch total angespannt und keuchend da, den Dolch unverändert mit beiden Händen erhoben an der Stelle, wo eben noch der Kopf des gruseligen Alessa-Dings gewesen war.
Auch nachdem sämtliche Matschtropfen verschwunden waren, stand er weiterhin wie erstarrt in dieser Haltung, keuchte und schnaufte mit geweiteten Augen vor sich hin. Dann stöhnte er erledigt auf, begriff, dass er gerade etwas ziemlich Finsteres überstanden hatte. Er atmete unruhig, schloss die Augen, lehnte seinen Kopf zurück und ließ die Arme sinken.
Kurz darauf sank er selbst langsam auf die Knie. Er konnte nichts denken, nichts fühlen. Er schüttelte nur den Kopf angesichts des Grauens, das ihm die Otherworld gerade bereitet hatte.

Nach einem weiteren Moment öffnete er die Augen und leuchtete langsam umher. Doch zum Glück war nichts Weiteres zu hören oder zu sehen. Der Schein der Taschenlampe streifte schließlich den Talisman, der immer noch an der gleichen Stelle mitten auf dem Parkplatz lag. Der Professor schluckte und funkelte das verfluchte Artefakt entschlossen an. "Wird Zeit, dass wir dich zur Hölle schicken...", murmelte er auf Englisch. 
Er hob seinen Kopf wieder nach oben und dachte an Tobias und Anne. 'Gott im Himmel, lass sie Erfolg haben', wünschte er sich. Kurz darauf erhob er sich mühsam und ging - immer noch erschöpft - zum Farbeimer hinüber. Es war an der Zeit, das Siegel von Metatron zu zeichnen...

___


Inzwischen war Anne ein gutes Stück auf dem neu entdeckten Gang vorangekommen. Dieser war nicht sehr breit und hatte eine niedrige Decke. Er wirkte wie ein schmaler Flurgang in einem Hotel - nur mit dem Unterschied, dass Wände, Boden und Decke aus engmaschigen Eisengittern bestanden und dass es hier keine Türen zur Seite gab. Und natürlich war alles umgeben von einer tiefen Schwärze. Bis auf das Gebiet unterhalb des vergitterten Eisenbodens. Seltsamerweise lauerte dort nämlich nicht das endlose Nichts, sondern viele tausende kleine Flammen, die in einiger Entfernung unterhalb des Gitters loderten und den Gang damit in ein bizarres Licht tauchten.

Diese Besonderheit war Anne natürlich sofort aufgefallen, denn bisher hatten sie so etwas in der Anderwelt nicht gesehen. Was es hier leider aber auch gab, waren neue Monster. Dies hatte Anne recht schnell mitbekommen. Fleischige, dunkelbraune Wesen, mit grünen Pflanzenschlingen durchzogen, die an der Decke entlangkrochen. Zwar hatte sie nicht mehr das Radio, doch da sie meist vorsichtig voranging, konnte man die fleischigen Viecher oben an der Decke kriechen hören.
Gerade vernahm Anne wieder so ein verdächtiges Geräusch. Da der Boden von unten einigermaßen beleuchtet war, ließ sie die Strahlen ihrer Taschenlampe sowieso meist über die Decke kreisen. Da sah sie auch schon wieder so ein Ding auf sich zukommen.

Im nächsten Moment ließ das Monster seinen Oberkörper blitzschnell von der Decke baumeln und fuchtelte wütend mit seinen Armen und Krallen umher.
Wie schon bei anderen dieser Viecher, sprang Anne schnell zurück und schlug heftig mit dem Katana auf das Ding ein, versuchte den Kopf zu treffen. Meistens verletzte es die Wesen aber nur an ihren Armen - so auch diesmal. Das Monster quiekte, als Anne ihm die halbe linke Klaue abschlug. Mit einem ekligen Platsch-Ton landete das abgetrennte Fleisch auf dem vergitterten Fußboden, während das Ding sofort seinen Oberkörper wieder an die Decke schnellte und quiekend davon kroch.

Anne ging ohne Umschweife sofort weiter. Sie wunderte sich, wie weit der Gang schon verlief, aber irgendwann musste sie ja bald mal hier rauskommen. Wobei sie sich ängstlich fragte, wo das sein sollte. Sie seufzte und leuchtete vor sich alles ab.
Im nächsten Moment stieß sie auf ein Hindernis. Wie schon ein paar Mal zuvor, gab es hier plötzlich ein Loch im Eisenboden. Meist befand sich an einer Seite aber noch genug von dem Eisengitter, um daran vorbeizugehen. So auch diesmal. An der rechten Seite war noch ein schmales Stück Gitterfußboden.
Anne ging langsam auf die schmale Stelle zu. Dabei achtete sie sehr genau auf jedes Geräusch und leuchtete die Decke ab. Sie wusste, dass diese Abgründe immer einen besonderen Gefahrenmoment darstellten. Wenn ausgerechnet jetzt eines dieser Wesen auftauchte, hätte sie auf dem schmalen Grat keine Chance. So ein Ding könnte sie dann problemlos mit seinen Krallen in den Abgrund schleudern. 

Anne leuchtete an die Decke. Nichts zu sehen. Dann presste sie sich seitlich an die rechte Wand und ging vorsichtig über die schmale Stelle. Schaudernd blickte sie in den Abgrund. Dort unten lauerte ein Meer von tausend Flammen, die von ihr nicht viel übrig lassen würden, sollte sie hinabfallen.
Doch gleich darauf berührte sie den Boden auf der anderen Seite. Gerade rechtzeitig, denn in diesem Moment hörte sie etwas herankommen. Ohne lange erst zu schauen oder zu überlegen, duckte sie sich und rollte sich nach vorn ab. Im nächsten Moment sah man einen herabhängenden Oberkörper, an der Stelle, wo sie eben noch gestanden hatte - direkt am Ende des schmalen Übergangs. Die Krallen des Monsters schlugen ins Leere.

Anne rappelte sich sofort hoch und wollte das Ding von hinten erschlagen. Doch das ließ seinen Oberkörper blitzschnell an die Decke zurückschnellen und krabbelte nach vorne und rechts herum, um sich Anne wieder von vorne zu stellen. Diese wappnete sich auf den zweiten Angriffsversuch. Doch plötzlich hörte sie etwas hinter sich. Rasch leuchtete sie einmal an die Decke in diese Richtung. Tatsächlich - noch so ein Vieh!
Zwei von der Sorte - das war dann doch etwas zu viel für die sonst kampfbereite Philosophie-Studentin. "Scheiße - ihr könnt mich mal", gab sie gepresst von sich, wirbelte mit einem Satz herum und rannte den Gang einfach hoch. Das zweite Monster, das von vorn kam, ließ seinen Oberkörper herabhängen und versuchte sie zu erwischen.

Doch Anne schlug rechtzeitig einen Haken, duckte sich dabei und lief einfach links an dem fuchtelnden Ding vorbei. Sie spürte einen Luftzug von den Krallen, wurde aber nicht getroffen. Glücklicherweise konnten die Viecher ihre Position nicht verändern, während sie von der Decke herabhingen. Vielleicht sollte sie sich das besser zu Nutze machen. Sie musste doch gar nicht gegen jedes Drecksding hier kämpfen. Sie musste nur weiterkommen und hier raus.
Derart denkend lief sie den Gang nun doch etwas schneller entlang. Hinter sich hörte sie die Verfolger, hörte wie das matschige Fleisch an der Decke lang schabte und die Krallen auf dem Eisengitter klickten... 

___


Einige Minuten zuvor lag Tobias immer noch erstarrt vor Schreck auf dem vergitterten Eisenboden des Flurgangs der Germanistik und leuchtete ungläubig auf das eben erschienene Wesen am Ende des Ganges.
Ein riesiger Anubis aus dunklem, teilweise verbranntem Fleisch hatte sich aus der seltsamen schwarzen Wolke erhoben und richtete seinen glühend roten Augen auf ihn. Gleich darauf brüllte er unmenschlich laut und offenbarte eine Vielzahl spitzer Reißzähne in seinem Schakal-Maul.
Tobias schluckte mühsam. Langsam wie in Trance erhob er sich dann doch endlich, die Halogenlampe zitternd auf den schrecklichen Ankömmling gerichtet.

Der grauenhafte Anderwelt-Anubis nahm daraufhin seinen Stab in beide Hände, stellte ihn kampfbereit vor sich und knurrte bösartig. Mit Schrecken erkannte Tobias, dass dieser Stab aber gar nicht das altehrwürdige Zepter war, dass der Gott der ägyptischen Unterwelt sonst in den Darstellungen bei sich trug. Dieses Teil hatte an seinem oberen Ende keinen Tierkopf, sondern eine riesige halbkreisförmige Schneide. Der Anubis hatte keinen Stab bei sich, sondern eine übergroße Hellebarde!
Im nächsten Moment hob die dämonische Kreatur seine Waffe mit beiden Armen hoch, schnaubte grauenhaft laut und setzte sich mit erhobener Hellebarde in Bewegung. 

"Aahhh!", schrie Tobias, gab sich einen Ruck, wandte sich blitzschnell um und wollte rechts durch die Toilettentür wieder in die erste Etage verschwinden. Hinter ihm polterte und schepperte es abwechselnd laut, mit jedem Schritt, den der riesige Anubis über den Eisenboden zurücklegte.
Tobias bekam fast einen Herzinfarkt, als er sah, dass die Toilettentür gar nicht mehr passierbar war. Schon wieder ein Eisengitter an unpassendster Stelle! Zu weiterer Überlegung war keine Zeit mehr - Anubis hatte ihn erreicht!

Er wandte sich wieder zum Monster um. Dieses holte bereits im Laufen mit seiner riesigen Waffe aus. Instinktiv ließ sich Tobias fallen und rollte von der ehemaligen Tür auf die andere Seite der Wand. Gleich darauf kreischte und quietschte es ohrenbetäubend laut, als die Schneide der Hellebarde von oben schräg in das Eisengitter schlug und es stark zerteilte.
Tobias hockte mit klopfendem Herzen auf dem Boden an der Wand, sah wie der monströse Anubis an seiner Waffe zog, die jetzt im Eisengitter steckte. Weil er sie nicht gleich herausbekam, hob er plötzlich seinen linken Fuß, der Tobias am nächsten war, und versuchte sein Opfer damit zu zertreten.

Blitzschnell zog sich Tobias an der Wand hoch und sprang behände zur Seite. Der riesige Fuß stapfte ins Leere. Hektisch sah Tobias sich um. Sein Blick fiel auf die eiserne Doppeltür hinter ihm. Anders als vorhin schien sie nun nicht mehr verschlossen zu sein. Ohne lange zu überlegen, versuchte er hindurch zu kommen. Hier im zweiten Stock gab es sonst keine andere Ausweichmöglichkeit mehr.
Währenddessen trat der Anubis ein zweites Mal nach ihm. Doch genau in dem Moment kam Tobias durch die eiserne Doppeltür durch. Erfreut erblickte er die Treppe vor sich. Auch wenn sie nun viel bizarrer als sonst aussah - endlich war er in dem vorderen Treppenaufgang der Germanistik, den er die ganze Zeit zuvor versucht hatte zu erreichen. Er sprang geradezu die Treppe hinunter auf den Treppenabsatz vor ihm und spurtete dort gleich rechts rum auf die nächste Treppe. Jetzt würde er gleich im ersten Stock sein. Und von dort war es nur noch eine weitere kleine Treppe bis zum Vordereingang.

Doch was war das! Als er die Stufen der nächsten Treppe herunterlief, schienen diese gar nicht zu enden. Anstatt, dass die Doppeltür des ersten Stocks in Sicht kam, führte diese eiserne Treppe immer tiefer und tiefer. Tobias stoppte schließlich und leuchtete ungläubig umher. Was soll das???
Dann hörte er über sich ein lautes Schrammen. Anscheinend war es dem dämonischen Anubis gelungen, seine Waffe zu befreien. Tobias blickte unsicher nach vorn. Er wusste nicht, wo er hier rauskommen würde, aber wohl oder übel musste er diesen Weg weitergehen.
Im nächsten Moment hörte man ein unglaublich lautes Scheppern und metallisches Poltern. Der ganze Treppenaufgang bebte und man hörte irgendetwas Riesiges die obere Treppe herunterkrachen und laut auf dem Treppenabsatz aufschlagen. Tobias konnte sich gut vorstellen, was geschehen war: der Anderwelt-Anubis hatte die eiserne Doppeltür kaputt geschlagen. Kaum hatte er das zu Ende gedacht, vernahm er auch schon wieder das dumpfe 'Klang, Klang', das die Schritte der riesigen Kreatur ankündigte.

Das setzte ihn wieder in Bewegung. Er lief die Stufen weiter hinunter. Die Treppe ging scheinbar endlos weiter. Hinter ihm polterte es nun lauter und er hörte erneut ein grauenhaftes Brüllen, das nun erschreckend nah hinter ihm war. Kein Zweifel - der dämonische Unterweltgott war jetzt auf der gleichen Treppe wie er. Die Stufen vibrierten bei jedem Schritt, mit dem der Anderwelt-Anubis seinem auserkorenen Opfer nachsetzte.
Tobias sah sich nicht mehr um, sondern eilte immer weiter die Treppe hinunter, in der Hoffnung, dass bald ein rettender Ausgang in Sicht kam.

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