20. Verwirrende Überraschungen
Tobias rannte in den Hof der Germanistik. Das Laufen tat gut nach all dem Sitzen im Büro des Professors. Allerdings merkte er immer noch ein Stechen im linken Bein, da wo der gruselige Hund ihn gebissen hatte. Anne hatte also ganz recht damit gehabt, dass lieber sie den längeren Weg zur Ratsbuchhandlung nehmen sollte.
Kaum an der Eingangsschranke vorbei, steuerte Tobias nach links. Er wollte den vorderen Eingang der Germanistik nehmen, der zur Rubenowstraße zeigte. Hinter dieser Tür war gleich die Treppe zum zweiten Stock und in den musste er. Dort lag das Büro von Professorin Erfen.
Doch kaum war er an der Tür angelangt, erlebte er eine erste Überraschung. Seltsamerweise besaß die Tür weder einen Griff noch ein Schloss. Tobias rüttelte mehrmals am Türknauf. Doch die Tür ließ sich nicht einen Zentimeter bewegen.
"Das gibt's doch nicht!", schimpfte Tobias und trat ein paar Schritte zurück. Enttäuscht betrachtete er die Tür an und schaute sich dann die vordere Wand weitläufig an. Aber hier gab es auf Augenhöhe kein Fenster, in das man hineinklettern konnte.
Plötzlich hielt er inne und leuchtete mit seiner Halogen-Leuchte mehrmals umher. Wenn es am Gebäude bereits Veränderungen gab, konnte es natürlich auch sein, dass irgendwelche Wesen hier schon wieder herumwanderten. Für einen Moment war ihm entfallen, dass er das Radio ja gar nicht dabei hatte. Er musste wieder mehr auf der Hut sein.
Doch zum Glück schien er der einzige Besucher der Germanistik zu sein. 'Noch', vermutete Tobias. Er beschloss, etwas ruhiger ans Werk zu gehen. Er betrachtete noch einmal die Eisenstreben an der Tür. Seltsamerweise waren sie nun länger und deckten die schmalen Glasscheiben, die es an der Tür als Verzierung gab, nun komplett ab. Die Scheibe einschlagen brachte also auch nichts. Doch diese längeren Streben konnten ihm durchaus weiterhelfen. Ohne lange zu überlegen, trat er wieder an sie heran und rüttelte an ihnen. Was er als Erstes hier brauchte, war eine Waffe. Wenn er den Professor richtig verstanden hatte, würden sie alle bald in die untere Ebene der Otherworld zurückgezogen werden. Spätestens dann dürften mit Sicherheit wieder einige fragwürdige Kreaturen auftauchen. Also sollte er vorbereitet sein.
Tobias bemerkte bei der vierten Strebe, dass sie locker saß. Er rüttelte daran herum, aber allein damit konnte er sie nicht lösen. Daraufhin sah er sich um und schnappte sich den erstbesten größeren Stein, den er finden konnte. Zum Glück lagen in diesem Teil des Hofes immer einige herum.
Tobias umschloss den Stein fest mit der Hand und hämmerte auf die Strebe ein. Mehrfach und an mehreren Stellen. Schließlich wurde sie tatsächlich lockerer und er konnte sie hinausdrehen.
'Na also!', dachte Tobias und betrachtete seine neueste Waffe. Zugegeben, sie machte nicht so viel her wie der Speer, aber auch mit dieser Eisenstrebe konnte man unliebsame Figuren auf Abstand halten. Im Prinzip war sie sogar zum Zustechen geeignet.
Einigermaßen zufrieden ging er wieder zurück auf den Hauptweg, von dem er gekommen war. Dieser verlief auf dieser Seite hinter der Eingangsschranke neben dem Gebäude an der Seitenfront weiter, rechterhand am Gebäude vorbei. Tobias ging den Weg hoch und sah schon den großen Haupteingang, der auf dieser langen Seite des Hauses mittig angeordnet war.
Als er die Seitenfront entlang ging, fiel ihm eine einzelne leuchtende Lampe auf, die bei einem der Hörsaalfenster angebracht war. Vielleicht war sie der Grund dafür, dass sich die finsteren Gestalten von dem Ort fernhielten. Aber seit wann gab es in der Anderwelt Strom?
Verwundert ging Tobias an die Lampe heran. Plötzlich staunte er nicht schlecht. Die Lampe lief gar nicht mit Strom! Er glaubte an eine Sinnestäuschung und rieb sich die Augen. Aber das Bild blieb unverändert: unter der Glaskugel der Lampe brannte keine Glühbirne, sondern eine einzelne dicke Kerze.
'Was soll das?!', fragte sich Tobias. Erst die Sache mit dem fehlenden Türgriff und jetzt das. Ihm wurde allmählich mulmig. Offensichtlich stimmte mit dem Gebäude der Germanistik irgendetwas nicht. Aber was halfs? Er musste in dieses Gebäude hinein, so oder so.
Mit klopfendem Herzen betrat Tobias die Stufen zum Haupteingang. Bisher war er eigentlich immer ganz gern in dieses altehrwürdig aussehende Gebäude hineingegangen. Nun stand er vor der vernebelten großen Doppeltür und zögerte einzutreten. Aber sie brauchten nun mal diese Gegenstände. Er schnaufte einmal durch und trat ein.
Beim Eintreten verspürte Tobias einen leichten, ziehenden Kopfschmerz. Ihm war, als hätte die Umgebung etwas kurz gewackelt, aber dann war das schon vorbei und er war drin.
Sofort blickte er sich mit dem Halogen-Scheinwerfer um. Vom Eingangsbereich aus konnte man nicht viel sehen. Hinter der Doppeltür gab es erstmal nur einen kürzeren Gang, mit einer Treppe von acht oder neun Stufen. Sie führte hoch zum Gang der ersten Etage. Dieser lange Gang war der eigentliche Flur, von dem aus man in alle Türen der Etage kam. Ging man von der Doppeltür aus die Treppe hoch, kam man genau in die Mitte des langen Flurganges heraus und von dort aus überall hin.
Tobias ging vorsichtig die Stufen hoch. Auf Höhe des Flures schaute er vorsichtig nach links und rechts in den Gang hinein. Aber so sehr er auch umherleuchtete: es war kein merkwürdiges Wesen auszumachen.
Erleichtert betrat er den Gang. Wie auf dem Präsentierteller stand er nun genau in der Mitte dieses langen Flures. Tobias leuchtete nach rechts. Dort am Ende des Ganges stand wie immer der Kaffeeautomat, der ihm so manche trockene Seminarstunde versüßt hatte.
Er leuchtete nach links ans andere Ende. Dort waren zwei hölzerne Türen, mit milchigen, alt aussehenden Glasfenstern versehen. Hinter dieser Doppeltür kam man zum Vordereingang, den er eigentlich nehmen wollte. Noch wichtiger war aber, dass dahinter auch das Treppenhaus der Germanistik war.
Ohne lange zu überlegen ging Tobias nach links auf die große Doppeltür zu. Direkt dahinter brauchte er bloß rechts die Treppe hochgehen. Über die kam man in den zweiten Stock, ebenfalls in einen langen Gang, der sich im Prinzip genau über diesem hier befand. Schon in wenigen Minuten würde er beim Büro von Frau Erfen sein.
Derartiges denkend schwenkte Tobias eine der schweren Holztüren auf und ging hindurch. Doch was war das! Als er hindurchgegangen war, sah er eine ganz andere Raumanordnung als erwartet. Er blickte auf ein großes Fenster und schien irgendwie quer auf einen Gang gekommen zu sein.
Ungläubig schaute er sich um. Rechts neben ihm stand ein Kaffeeautomat. 'Moment mal!', dachte Tobias und blickte sogleich nach links. Tatsächlich - er stand plötzlich am anderen Ende des Ganges, beim Kaffeeautomaten. Er leuchtete zu den großen Holztüren, die jetzt viel weiter weg waren. Im Lichtstrahl seiner Halogen-Lampe konnte er sogar sehen, wie die linke Tür immer noch ein wenig pendelte, weil er gerade hindurchgegangen war. 'Aber wieso bin ich jetzt hier?', dachte Tobias erschrocken.
Verwirrt drehte er sich um. Er stand vor der Tür des hinteren Hörsaales, den es hier am Ende des Ganges gab. Von da musste er also gerade gekommen sein. Aber wie konnte das denn gehen?
"Hhm", schnaubte Tobias. Einem Instinkt folgend versuchte er, durch genau diese Tür wieder zurückzugehen.
Es quietschte leicht und Tobias war hindurch. Doch jetzt sah er schon wieder einen unerwarteten Anblick. Er schaute plötzlich auf den gläsernen Ausgang zum Hinterhof der Germanistik. Er drehte sich um. Tatsächlich - er war jetzt im hinteren Nebengang der ersten Etage. Dort gab es eine von zwei Türen, in die man in den großen Hörsaal kam, und genau vor dieser Tür stand er jetzt. Anscheinend war er dort herausgekommen.
"Na großartig...", murmelte Tobias vor sich hin. Offensichtlich konnten in der Anderwelt auch räumliche Verzerrungen auftreten. Dieses Detail hatte der Prof nicht erwähnt.
Tobias ging den Nebengang ein Stück hoch und betrat wieder den langen Flurgang. Er leuchtete nach links. Schräg gegenüber sah er die Tür, durch die er gerade gegangen war. Noch weiter links stand wieder der Kaffeeautomat am Ende des Ganges.
'Das ist doch alles die totale Scheiße!', dachte er verärgert.
Er leuchtete den Gang rechts hinunter. Schräg gegenüber auf der Seite war wieder der kurze Gang zum Haupteingang zu sehen, von wo er das Gebäude betreten hatte, noch weiter rechts - am Ende des Ganges - sah er wieder unverrückbar die hölzerne Doppeltür, die ihn mittlerweile höhnisch auszulachen schien.
'Das wär doch gelacht!', dachte Tobias, ging den Nebengang zurück und eilte prompt durch die Tür zum großen Hörsaal, durch die er eben gekommen war.
Wieder war ihm kurz die Sicht verwischt und im nächsten Augenblick schaute er auf einen langen Gang. Jetzt stand er mit dem Rücken wieder genau vor der Doppeltür, durch die er die ganze Zeit hatte gehen wollen. "Das darf doch nicht war sein...", zischte er leise mit zusammengebissenen Zähnen. Wie sollte er in die zweite Etage kommen?
Dann fiel ihm was ein. Er bewegte sich von den hölzernen Türen weg und bog kurz darauf nach links ab. Hier gab es einen weiteren Nebengang - quasi der vordere Nebengang, als Gegenstück zum anderen Gang hinten bei der gläsernen Tür zum Hinterhof. Und auch hier gab es eine weitere Tür, nämlich die, mit der man auf der anderen Seite den großen Hörsaal betreten konnte. Eine Tür, die bisher nicht an diesem Karussell der verschobenen Räume beteiligt war. Vielleicht kam man ja von hier in den zweiten Stock.
Hoffnungsvoll schritt Tobias auf die Tür zu. Doch was er nun erblickte, ließ ihn sofort erstarren. Die Tür war gar nicht da! Stattdessen ging die Wand hier einfach durchgehend weiter. Doch das war nicht das Unheimlichste. Mitten auf der Wand, genau dort, wo die Tür hätte sein müssen, befand sich ein kreisrundes, tiefes großes Loch, das in seiner Ausdehnung groß genug war, dass ein Mensch bequem hineingehen konnte. Dieses Loch war rund herum mit den zwei äußeren Kreisen des Sonnenkranz-Symbols umrandet.
Erschrocken blieb Tobias stehen. Er brauchte nicht lange zu überlegen, was das sein könnte. Offensichtlich hatte er einen der Tunnel entdeckt, die der Professor erwähnt hatte. Ganz vorsichtig näherte er sich dem Loch und leuchtete hinein. Das Licht der Taschenlampe verlor sich recht schnell in diesem tiefsten Dunkel aus Nachtschwarz. Es schien nach wenigen Metern schon zu enden.
'Hier geh ich bestimmt nicht lang...', dachte Tobias schaudernd. Langsam trat er von dem Loch weg.
Er ging wieder zurück zum Flurgang, überlegte, was er machen könnte. In seiner Verzweiflung versuchte er nochmals, direkt durch die hölzerne Doppeltür zu kommen. Aber erneut landete er beim hinteren Hörsaal am Ende des Ganges. Er startete weitere Versuche, ging die Türen in anderer Reihenfolge ab. Er versuchte es auch beim vorderen Hörsaal, direkt links neben der hölzernen Doppeltür. Doch wo auch immer er hineinging - stets landete er wieder an einer anderen Stelle der ersten Etage.
Schließlich war es Tobias zu bunt. Er ging Richtung Haupteingang. Er wollte nach draußen, um von dort irgendwie einen Weg zu finden, aufs Dach der Germanistik oder in die zweite Etage zu kommen.
Doch vor der Doppeltür erwartete ihn die nächste Überraschung. Denn wo die Tür eben noch gewesen war, befand sich nun eine Wand, die den ganzen Haupteingang einmal komplett nach außen abschloss. Selbst das schöne breite Fenster über der Doppeltür gab es nicht mehr. Als hätte es den gesamten Eingangsbereich nie gegeben.
"Das gibt's doch nicht!", entfuhr es Tobias verärgert. Er trat an die Wand heran. Ihm fiel ein großes Bild auf, das genau mittig platziert einen Großteil der Wand einnahm.
Als er mit der Halogenlampe vor dem Bild stand, erstarrte er. Auf dem überdimensionierten Bild war der Eingangsbereich der Germanistik zu sehen - aber wie! Statt den großen prächtigen Flügeln der hölzernen Doppeltür erblickte Tobias zwei riesige vergitterte Eisentüren, die zu beiden Seiten über und über mit länglichen Stacheln bespickt waren. Tobias schauderte. Neben den Türen sah man noch ein Stück der Wände. Sie waren stark verrostet und mit Blut überzogen. Aber das Schlimmste war der Kadaver auf dem Bild. Genau dort, wo eigentlich das schöne Fenster sein müsste, hing dieser mit ausgestreckten Armen aufgeknüpft und zog den Blick auf sich. Es war absolut abscheulich.
Tobias wich langsam zurück, konnte seinen Anblick aber nicht von dem Bild lösen. Da dieses Gemälde so überaus groß war und genau an der Stelle platziert, wo sonst die Doppeltür war, sah es von weiter weg betrachtet tatsächlich so aus, als würde es diesen Eingang dort geben. Als würde man das Gebäude durch diese groteske Tür verlassen können.
Fröstelnd sah Tobias sich um. Die Nebelwelt schien sich weiter zu verändern. Das Gemälde war sicher nur ein Vorgeschmack.
Er ging in den langen Gang zurück. Glücklicherweise waren noch immer keine Kreaturen zu erkennen. Vielleicht deshalb nicht, weil er sowieso in der Falle saß, vermutete Tobias. Wie sollte er nur in die zweite Etage kommen? Und wie wieder hier raus? Verzweifelt sank er auf die Stufen zum Haupteingang und überlegte...
___
Während Tobias die Germanistik betrat, erreichte Anne gerade das Ende der Rubenowstraße. Sie hatte den Audimax schnell hinter sich gelassen und war schnurstracks auch am Rubenowplatz vorbeigeeilt. Einmal kurz hatte sie dort zum Denkmal hin geleuchtet. Hier hatten sie mit dem doppelköpfigen Greifen gekämpft und später das Wappen dazu gefunden. Der Ort war Anne immer noch unheimlich.
Unterwegs hatte sie ständig nach etwas Ausschau gehalten, dass sie als Waffe verwenden könnte. Doch jetzt war sie schon am Ende der Straße und hatte noch immer nichts gefunden.
An der Ecke zur Langen Straße blieb sie stehen. Hier musste sie rechts abbiegen und die Geschäfte entlanggehen bis zur Uni-Buchhandlung. Sie bemerkte, wie das Radio, das bisher gänzlich still geblieben war, plötzlich knisternde Geräusche von sich gab. 'Na toll', dachte Anne, 'hier auf der Langen Straße warten bestimmt allerhand Monster auf mich und ich hab natürlich keine Waffe!'
Sie leuchtete mit der Taschenlampe einmal nach links und nach rechts die Straße hinunter. Sie überlegte, die Lampe vielleicht auszumachen, so wie sie und Tobias es vorhin zwischenzeitlich getan hatten, als sie auf dem Weg zum Professor waren. 'Ach ja - Tobi', seufzte Anne. Ohne ihn an der Seite fühlte es sich plötzlich leerer an.
Sie ging nochmal zur Hausecke und rüttelte an den Haltestangen für Fahrräder, die man die gesamte Straße lang und auch in den Nebenstraßen an die Häuser angebracht hatte, damit die Studierenden überall problemlos ihre Fahrräder anschließen konnte. Aber so sehr sie auch an diesen Stangen rüttelte - sie waren genauso fest wie bei den anderen Häusern zuvor.
Enttäuscht schnaufte Anne einmal durch. Sie hatte auch gehofft, unterwegs auf ein Fahrrad zu stoßen, das jemand hier irgendwo angeschlossen und vergessen hatte und aus dem sie sich eine Speiche herausbrechen könnte. Aber nichts - Fehlanzeige. Die Nebelwelt schien mal wieder allerhand Details aus der normalen Welt verschwinden zu lassen.
'Na, das kann ja was werden...', dachte Anne angespannt. Sie überlegte kurz die Taschenlampe auszumachen, entschied sich dann aber dagegen. Ein kleines Stück zu Fuß war es noch zur Buchhandlung. Im nebligen Dunkel würde sie ewig brauchen und sie musste ja - leider - auch auf Abgründe gefasst sein. So viel Zeit konnten sie sich nicht leisten. Sie hatte ja das Radio, dessen Signale sie rechtzeitig vor allem warnte. Außerdem könnte sie das Licht unterwegs immer noch ausknipsen, falls es die Situation erfordert.
Aber natürlich wäre eine Waffe nicht schlecht, allein schon, weil man sich besser fühlte. Dachte Anne, seufzte einmal gedehnt und betrat die Lange Straße.
Das Radio knisterte leise. Sie leuchtete noch einmal alles hinter sich und neben sich ab. Da fiel der Strahl der Taschenlampe auf etwas, das mitten auf der Kreuzung stand, auf der sie gerade war. Anne ging zögernd darauf zu. Im Nebellicht der Lampe erkannte sie so etwas wie ein Rad. Schien eine Art Vehikel zu sein.
Sie achtete auf die Radiogeräusche und trat näher an die Sache heran. Das Radioknistern blieb unverändert leise. Offenbar drohte von dem Ding keine Gefahr.
Als Anne direkt vor dem Gerät stand, staunte sie nicht schlecht. Es war ein Rollstuhl. 'Wie kommt der hierher?', wunderte sich Anne. Er stand einfach so verlassen da. Mitten auf der Kreuzung von der Langen Straße und der Rubenowstraße.
Verwundert runzelte Anne die Stirn. Dann sah sie, dass etwas auf dem Sitz des Stuhles lag. Ein länglicher Gegenstand. Sie leuchtete genauer hin und staunte nicht schlecht. Mitten auf der Sitzfläche des Rollstuhles lag ein Schwert mit schmaler Klinge und verziertem Griff. Ein Katana-Schwert!
Diese Waffe war super, war genau das, was sie brauchte. Dennoch war das Ganze höchst eigenartig. 'Wie kann das sein?', dachte sie verwundert. Es war, als... 'Als hätte jemand meine Gedanken gelesen', dachte Anne schaudernd. Ihr Herz schlug mit einem Mal deutlich schneller. Hektisch leuchtete sie plötzlich nach allen Seiten um sich herum. Das Ganze konnte ja auch eine Falle sein.
Da - was war das! Sie leuchtete noch einmal zurück an die Hauswand hinter sich, von wo sie gekommen war. Ihr war, als hätte sie eben einen Schatten dort stehen sehen. Aber als der Schein der Taschenlampe noch einmal dort entlangstrich, war nichts und niemand zu sehen. Anne atmete einmal durch. 'Jetzt nur nicht durchdrehen', ermahnte sie sich.
Sie wandte sich wieder dem Rollstuhl zu. Sie zögerte einen Moment, dann nahm sie das Katana vorsichtig in die Hand. Es fühlte sich verdammt gut an! Probeweise schwang sie das Schwert ein paar Mal hin und her. Es ließ sich prima steuern und war überraschenderweise viel leichter, als sie gedacht hatte. Anne fiel auf, dass es von den Maßen her scheinbar auch für genau eine Person ihrer Größe gemacht war. Offenbar wollte ihr irgendjemand weiterhelfen.
Anne betrachtete den Rollstuhl genauer, suchte nach einem Hinweis. Vielleicht gab es zusätzlich ja irgendeine Notiz. Dabei fiel ihr auf, dass der Rollstuhl eigentlich ziemlich alt aussah. Sein roter Lederbezug an Lehne und Sitz wirkte altertümlich, ebenso wie die Griffe und die Aufmachung der Räder. Er musste mindestens aus den achtziger Jahren stammen, wenn nicht noch älter. Seltsam...
Da sie nichts fand, machte sie sich endlich vom Rollstuhl los. Es war Zeit, der Universitätsbuchhandlung einen Besuch abzustatten. Vielleicht hatte sie das Schwert ja auch aus ihrem Unterbewusstsein herbeigerufen, so wie es der Professor ihnen erklärt hatte. Dennoch war unklar, was es dann mit dem Rollstuhl auf sich hatte.
Anne verscheuchte die Gedanken und eilte die Lange Straße hoch. Mit dem Schwert in der Hand fühlte sie sich schon wieder viel sicherer. Außerdem konnte sie es damit wagen, schneller durch die Nebelwelt zu eilen, weil sie sich vor Gegnern jetzt nicht mehr unbedingt verstecken musste.
Kaum hatte sie die Kreuzung ein Stückchen hinter sich gelassen, da begannen die Töne des Radios lauter zu werden. Im nächsten Moment war auch schon das bekannte Schrillen zu hören.
'Es geht los', dachte Anne und leuchtete mit der Taschenlampe in der linken Hand die Umgebung vor sich ab. Im nächsten Augenblick hörte sie etwas über sich. 'Flapp, flapp, flapp', ertönte ein bekanntes Geräusch.
Einem Instinkt folgend duckte sich Anne und rannte plötzlich nach rechts auf die Häuserzeile zu. Im nächsten Moment rauschte eines dieser Flugmonster an sie vorbei, mit den Krallen ins Leere greifend.
'Na warte', dachte Anne und blieb an der Hauswand stehen. Wie erwartet drehte das Monster eine Runde und kam auf Anne zu. Aber die junge Frau wartete nicht tatenlos ab. Zügig rannte sie ein paar Schritte nach links bis an die nächste Straßenlampe heran. Die Lampen waren in der Anderwelt wie sonst auch erloschen - es gab ja keinen Strom hier - aber der Lampenpfeiler ließ sich hervorragend für eine Deckung nutzen.
Das Flugmonster kam auf Anne zu. Sie positionierte sich genau so hinter die Straßenlampe, dass der runde Metallpfeiler zwischen ihr und dem Monster war.
Das fliegende Ungeheuer 'flappte' an die Lampe heran. Gleich kam der Moment, wo das Vieh um eine Seite des Pfeilers herumfliegen musste. Doch Anne fackelte nicht lange. Aus ihrer Deckung heraus, schnellte sie plötzlich vor und hieb mit dem Katana blitzschnell von rechts um den Pfeiler herum.
Anne hörte ein Zischen, als das Katana die Luft durchschnitt, dann spürte sie einen Widerstand. Anscheinend hatte sie das Ding getroffen. Im gleichen Moment quiekte das Untier auf und flog rückwärts von der Straßenlampe weg. Aber es kam nicht weit, sondern taumelte schnurstracks auf den Boden. Dann sah Anne einen größeren Hautlappen liegen und begriff: sie hatte dem Untier einen Teil seines linken Flügels abgetrennt und das, während das Monster damit geschlagen hatte.
Das Ungeheuer lag unweit der Straßenlampe quiekend auf dem Boden, wand sich hin und her. Immer wieder versuchte es, mit dem linken Flügel allein sich in die Luft zu erheben, doch dies gelang nicht. Anne überlegte, das Untier endgültig mit einem letzten Hieb zu töten.
Doch dann bemerkte sie drei Höllenhunde, die aus verschiedenen Richtungen auf sie zu kamen. Hurtig ging sie rückwärts an die nächste Hauswand heran und schwang das Katana warnend vor sich hin und her. Einer der Hunde kam unentwegt immer dichter. Anne fuchtelte mit dem Schwert weitläufig vor sich herum.
Der Hund schien sie erst ohne Furcht weiterhin angreifen zu wollen. Als er aber ganz nah an sie herangekommen war, drehte er plötzlich ab und rannte die Straße davon. Vermutlich hatte er einen Luftzug von dem Schwert gespürt und war lieber doch nicht auf Anne losgegangen.
Hektisch blickte Anne zu den anderen Höllenhunden. Doch die stürzten sich gerade auf das am Boden liegende Flugmonster. Die deformierten Körper der Hunde klafften vorn zu einem großen Maul seitlich auf und rissen Stücke aus dem noch lebenden Flugmonster, das sogleich unmenschlich ohrenbetäubend quiekte.
Anne konnte den Anblick nicht mehr länger ertragen, wand sich ab und ging weiter. Wenigstens waren die Höllenhunde von ihr abgelenkt. Sie bemerkte, wie das Radio weiterhin bimmelte. Nach ein paar weiteren Schritten sah sie auch, warum. Vor ihr, auf dem nächsten Abschnitt der Straße, hüpften drei dieser deformierten Affenmenschen herum, die sie und Tobias schon auf ihrem Weg zum Campus kennengelernt hatten.
Anne versuchte, einigermaßen ruhig zu bleiben. Sie erinnerte sich, dass diese Dinger nur auf Geräusche reagierten, sie aber sonst nicht sehen konnten.
Sie drängte sich wieder an die rechten Häuserwände und schlich an ihnen so dicht wie möglich entlang. Das leichte Schrillen des Radios war ein Risiko - wie sie noch gut wusste - aber wenn sie so weit wie möglich auf dieser Seite der Straße an den hüpfenden Gestalten vorbeischlich, hatte sie eine Chance, ohne Probleme an ihnen vorbeizukommen.
Es ging ganz gut. Als sie mit den Affenmonstern ungefähr auf gleicher Höhe war, hüpften diese gerade auf der anderen Seite der Langen Straße herum. Dadurch war das Schrillen des Radios etwas leiser, so dass es die Affen nicht hören konnten. 'Es klappt', dachte Anne hoffnungsvoll.
Doch im nächsten Moment tauchte ein Höllenhund schräg vor ihr aus dem Nebel auf. Etwa in der Mitte der Straße, lief er erst Richtung Affenmonster und kam dann plötzlich auf sie zu. Leider konnte der Hund sie ja durchaus sehen, ebenso wie das Licht. Anne blieb stehen und hob ihr Schwert. Sie bemerkte, wie jetzt auch das Radio lauter wurde. 'Die Affen', dachte sie, 'gleich werden die Affen auch wissen, wo ich bin!'
Mehr Zeit zum Überlegen war nicht. Der Hund sprang heran und schnellte hoch. Anne machte einen Satz nach rechts und schlug mit dem Katana links neben sich. Das Radio bimmelte wie wild.
Der Hund, jetzt seitlich neben Anne, jaulte auf. Gleichzeitig bimmelte das Radio wie verrückt. Als der Hund neben ihr sein Maul aufklaffte, um ihr ins Bein zu beißen, stach Anne hektisch zu. Sie traf genau die Körpermitte, was das Untier verstummen ließ. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie zugleich, wie die drei Affen alle gleichzeitig die Richtung wechselten und in ihre Richtung hüpften.
Das Radio war nun wieder etwas leiser, aber es war zu spät. 'Verdammt!', dachte Anne. Die Affen kamen auf sie zu.
Aus einem Instinkt heraus lief sie plötzlich einfach zügig die Straße weiter hoch. Die Affenmonster konnten nur langsam hüpfen. Wenn sie sich ganz schnell wieder von ihnen entfernte, könnte sie diese Viecher abschütteln. Es war gefährlich, weil sie nicht wusste, was vor ihr lauerte, aber allein konnte sie es unmöglich mit drei Monstern zugleich aufnehmen.
Anne spurtete die Geschäfte rechterhand entlang. Das Radio wurde allmählich deutlich leiser. Von einer Sekunde auf die andere blieb sie stehen, presste sich an die Hauswand und leuchtete hinter sich. Die Affen waren weit entfernt, hüpften weiter in ihre Richtung. Annes Herz bebte, auch von dem kurzen Sprint.
Im nächsten Augenblick veränderten die Affen aber ihre Richtung. Sie sprangen plötzlich von der rechten Straßenseite zur Mitte hin. Gleich darauf hüpften sie sogar wieder wahllos in alle Richtungen umher und auch im Kreis. Offensichtlich hatten sie Annes Spur durch ihren abrupten Stopp verloren, denn die stand jetzt wieder mucksmäuschenstill an der Hauswand.
Anne atmete durch. 'Puh, das war knapp', war ihr Gedanke. Sie blieb einen weiteren Moment lang einfach nur dort stehen und sortierte sich. Das Radio knisterte weiter vor sich hin, allerdings schien es in direkter Nähe erstmal keine Ungeheuer zu geben. Von ihrer Position aus leuchtete Anne die Umgebung vor sich ab. Zum Glück war auch nichts Gefährliches zu sehen.
Erleichtert löste sie sich langsam von der Hauswand. Eigentlich müsste sie jetzt gleich da sein, so wie sie eben gesprintet ist. Anne leuchtete zur Ladentür des Geschäftes hinter sich und überprüfte, wo sie war.
Sie hatte sich nicht getäuscht. Das Gebäude hinter ihr war bereits das Nachbargeschäft zur Universitätsbuchhandlung. Anne atmete auf und ging ein paar weitere Schritte. Im nächsten Moment sah sie die vertraute Ansicht der Universitäts- und Ratsbuchhandlung. Das Haus war nicht besonders breit, so dass sie die ganze vordere Fassade im Licht der Taschenlampe erkennen konnte. Im rechten Panoramafenster sah sie erneut die neusten Harry-Potter-Bände stehen.
Anne seufzte. Wie schön wäre es jetzt, irgendwo im Grünen in der normalen Welt zu sitzen und diese Bände zu verschlingen? Aber was halfs?! Sie musste sich auf ihre Aufgabe konzentrieren.
Sie trat an die Tür heran. Wie Professor Hayden vermutet hatte, war die nicht wirklich verschlossen. Allerdings klemmte sie. Anne nahm das Katana-Schwert, steckte es zwischen Türrahmen und Tür und hebelte auf verschiedener Höhe an der Tür herum. Plötzlich sprang die Tür auf.
Anne leuchtete zunächst in den Laden hinein. Dabei achtete sie weiter auf das Radio, aber es knisterte bloß. Vorsichtig trat sie ins Innere des dunklen Raumes hinein. Das Knistern des Radios wurde noch leiser. 'Okay', dachte Anne, 'anscheinend sind hier keine Monster.'
Sie entspannte sich ein wenig und sah sich im vorderen Raum um. Sie runzelte die Stirn. Irgendwie war der Raum anders angeordnet. Er war so lang nach hinten gestreckt wie immer, hatte auch zwischendrin zwei Stufen vorn und eine weiter hinten, aber irgendwie sahen die Regale komplett anders aus. Einerseits fehlten viele Bücher, andererseits erblickte Anne viele neue Gegenstände, die sie noch nie gesehen hatte.
Sie leuchtete halbrechts nach hinten. Dort war der Durchgang in den hinteren Raum und auch zur Treppe in den zweiten Stock. Doch soweit brauchte sie ja gar nicht zu gehen. Laut Professor Hayden war das Fläschchen mit dem Wasser der Claudia in diesem ersten Raum und zwar hinten im Regal mit den Anhängern und anderen Accessoires.
Anne zögerte nicht länger. Sie ging die zwei Stufen beim Eingang hoch, eilte durch die Mitte des Raumes und ging auf das hintere Regal zu. Doch kurzerhand blieb sie verwundert stehen, prallte fast zurück. Das Regal war untypischerweise über und über mit kleineren und größeren Gegenständen bestückt.
'Das gibt's doch nicht!', dachte Anne. Wo kamen all diese Gegenstände her und was machten sie plötzlich hier? Anne sah die skurrilsten Artefakte und Andenken auf dem Regal ausgebreitet liegen. Da gab es Anhänger, Postkarten, Amulette, kleine Dolche, Schneekugeln, Christus-Kreuze, Bronzefiguren, sogar Kühlschrankmagnete. Seltsamerweise gab es auch extrem viele kleine Flaschen und Fläschchen, die von der Aufmachung her genauso waren, wie die, die sie suchte.
Anne ging langsam ein paar Schritte zurück und hielt sich die Hand mit der Taschenlampe an die Stirn. Wie sollte sie das gesuchte Fläschchen aus diesem Kuddelmuddel herausfinden? Das Regal war so vollgestellt, dass viele Gegenstände auf der hinteren Seite der Regalböden noch gar nicht auszumachen waren. Überhaupt war gar nicht abzusehen, wie viele Dinge insgesamt darauf lagen. Es würde ewig dauern, das Regal abzuräumen und alles zu überprüfen. Zeit, die sie eigentlich nicht hatte.
Anne drehte sich in dem Raum um, leuchtete die anderen Regale nach einem Hinweis ab. Doch wo sie auch hinschaute - kein Hinweis, keine Notiz. Seufzend wandte sie sich wieder um und schaute resigniert auf das vollgestellte Regal. Doch was war das! Von der Seite trat plötzlich eine junge Frau in den Schein ihres Lichtstrahls.
"Aaahh!", entfuhr es Anne vor Schreck. Beinahe hätte sie Schwert und Taschenlampe fallen lassen. Seltsamerweise reagierte die Frau gar nicht auf den Schrei. Sie ging zielstrebig auf das Regal zu und blieb an dessen rechten Seite stehen.
"Hallo? Wer sind Sie?", rief Anne. Wieder keine Reaktion. 'Was geht hier vor?...', wunderte sich Anne. Sie bemerkte, dass das Radio zwar knisterte, aber nicht alarmierend schrillte.
Währenddessen drehte die Frau sich am Regal zu Anne um und schaute sie direkt an. Dabei fiel Anne die seltsame Kleidung der jungen Frau auf. Sie trug ein längliches blaues Kleid mit einem altmodischen weißen übergroßen Kragen. 'Wer ist das?', fragte sich Anne.
Im Gesicht sah die Frau noch sehr jung aus, fast so als wäre sie noch gar nicht volljährig. Sie hatte dunkles braunes Haar und braune große Augen. Sie lächelte Anne leicht an, aber in den Augen spiegelte sich zugleich eine große Traurigkeit.
Anne war immer noch verblüfft, konnte sie nur schweigend anstarren. Hatte sie jetzt auch noch Halluzinationen? Die Frau wandte derweil ihr Gesicht dem Regal zu, streckte ihre rechte Hand über dem Regal aus und positionierte sie an einer bestimmten Stelle. Dabei fiel Anne auf, wie der Strahl der Taschenlampe durch die Frau hindurchschimmerte, dort wo er auf ihr Kleid fiel. Anne durchzuckte plötzlich eine Ahnung. "Könnte sie es sein...?", murmelte sie und dachte an Alessa.
Im nächsten Moment drehte die junge Frau ihr Gesicht wieder Anne zu, wobei sie den Kopf leicht zur Seite neigte. Ihre Hand hielt sie dabei immer noch über einer Stelle des Regals ausgestreckt. Anne erkannte, dass sie damit hinter eine bestimmte Postkarte zeigte.
Anne verstand und nickte ihr dankbar zu. Die junge Frau blieb weiterhin in ihrer Haltung stehen, dabei verblasste sie plötzlich. Vor Annes Augen wurde sie immer durchsichtiger, weiterhin Anne anschauend und leicht lächelnd. Im nächsten Moment war sie ganz verschwunden.
Anne durchfuhr ein eiskalter Schauer. Sie schüttelte sich einmal, dann trat sie an das Regal heran. Sie lehnte das Schwert dagegen, nahm die Postkarte hoch und leuchtete dahinter. Tatsächlich: zwischen mehreren Flaschen stand ein kleineres Fläschchen mit längerem Hals und gemustertem Glas. Anne stellte die Postkarte beiseite, streckte die Hand aus und holte das versteckte Fläschchen vom hinteren Teil des Regales hervor. Im Schein der Taschenlampe drehte sie den Gegenstand in der Hand. Es war so wie der Professor es beschrieben hatte. Beim Drehen kam plötzlich auch das Siegel von Metatron in Sicht, auf der anderen Seite des kleinen Flaschenbauches.
"Yes!", sagte Anne und bewunderte im Schein der Taschenlampe die helle, ockerfarbene Flüssigkeit, die in dem verzierten Glasgefäß schwappte.
"Not bad, young lady", säuselte plötzlich eine ältere tiefere Frauenstimme anerkennend. "You've found the magic water."
Erschrocken fuhr Anne herum und leuchtete zum Türeingang, von woher die Stimme zu kommen schien. Tatsächlich - draußen, direkt vor der offenen Tür stand eine Gestalt!
Annes Herz klopfte wie wild. "Who is it!", rief sie erregt und versuchte der Person ins Gesicht zu leuchten, aber die hob sofort ihren linken Arm schützend hoch. Von weiter weg konnte Anne aber sowieso nicht wirklich was erkennen.
"I'm the guardian of god", sagte die Frau langsam und von sich überzeugt. Ihr prophetischer und magischer Tonfall jagte Anne einen Schauer über den Rücken. Kein Zweifel, das war sie. Die Person, die den Professor gefangengenommen hatte. Die den Talisman erwecken wollte.
Anne steckte blitzschnell das Fläschchen in ihre Hosentasche, dann ergriff sie mit der freien Hand das Katana-Schwert neben sich. Dabei leuchtete sie weiterhin die Frau an. Doch die blieb unveränderlich am Eingang stehen.
Anne ging mit vorgestrecktem Schwert ein paar Schritte in die Mitte des Raumes. Im nächsten Moment wurde ihr Gesicht von einem Lichtstrahl getroffen. Sie blieb stehen. Die Frau hielt plötzlich ebenfalls eine Taschenlampe in ihrer linken Hand. "Where do you think, you going?", fragte sie schneidend. "That is not the place for a little girl, wandering across my plans!"
Annes Herz bebte weiterhin, doch sie versuchte, entschlossen zu wirken. Trotz Blendung ging sie weiter ein paar Schritte vor, stieg langsam die vorderen Stufen herunter und stand somit direkt vor der Eingangstür. Sie nahm Taschenlampe und Schwert in beide Hände, hielt es drohend vor sich und rief laut: "Aus dem Weg! - Get out of my way!"
Die Frau bewegte sich keinen Zentimeter. Stattdessen fasste sie in aller Seelenruhe in die rechte Tasche ihres Gewandes. "Foolish child", schnarrte sie tadelnd und holte etwas hervor. Anne blinzelte nervös und versuchte mit ihrer Taschenlampe zu erkennen, was genau sie tat. Doch die Frau zog keine Waffe heraus, sondern einen seltsamen gläsernen Gegenstand. Er schien pyramidenartig geformt zu sein.
Anne überlegte, ob sie jetzt wirklich das Schwert gegen diese Frau erheben sollte. Da sagte diese als Nächstes in einem sonoren und beschwörendem Tonfall: "It is time, that you feel the power of god!" Dabei drückte sie mit dem Daumen eine bestimmte Stelle des gläsernen Gegenstandes ein.
Im nächsten Moment ging von dem Gegenstand eine schnelle, bläuliche Schockwelle in alle Richtungen aus. Anne spürte einen sehr starken Lufthieb und wurde plötzlich mit äußerster Kraft nach hinten gestoßen. Sie flog ein gutes Stück rückwärts durch die Luft, stieß einen Schrei der Überraschung aus und landete hart auf dem Rücken in der Mitte des großen Raumes. Es klirrte, weil ihr das Schwert aus der Hand und zur Seite fiel.
Im nächsten Augenblick setzte ein Beben ein. Es ruckelte so stark, dass Anne zu tun hatte, ruhig am Boden liegen zu bleiben. Aufstehen konnte sie erst gar nicht. Alles ums sie herum wackelte furchtbar. Gleich darauf setzte das Gefühl des Fallens ein, dass sie schon einmal erlebt hatte. Diesmal fühlte es sich aber viel furchtbarer an. Im Hintergrund hörte sie die Frau laut gackernd auflachen.
Anne konnte kaum noch ihre Sinne zusammenhalten. Sie schloss die Augen, um die schrecklichen Vibrationen um sich herum besser ertragen zu können. Sie ließ nun auch die Taschenlampe los, versuchte sich mit den Händen auf ihrer liegenden Position zu halten, aber es war alles andere als leicht.
Plötzlich hörte sie zu dem Ganzen reißende und zersetzende Geräusche, so als riss und platzte der ganze Raum um sie herum auf. Anne erschauerte und wimmerte leise. Selbst mit geschlossenen Augen wusste sie genau, was hier gerade wieder passierte.
Die bizarre Otherworld brach hervor.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top