2. Eine interessante Insider-Information

Anne und Tobias schlenderten gemächlich durch die Lange Straße. Jeder mit einem Kaffeebecher in der Hand, gingen sie scheinbar ziellos Richtung Markt, schauten lustlos in die vorbeiziehenden Geschäfte der Fußgänger-Passage.

"Und jetzt?", fragte Anne müßig. Sie ging links neben Tobias und schlürfte an ihrem Becher Cappucino.

"Keine Ahnung", meinte Tobias missmutig und nahm noch einen Schluck Moccachino. Die Kaffees hatten sie sich zuvor aus der Back-Factory geholt.

"Hast du heut noch was?", fragte Tobias und sah nach links zu Anne.
"Philo", kam prompt die Antwort, "aber erst um 14:00 Uhr."

Tobias nickte. Er stand vor dem selben Problem. Theoretisch hätten sie bis 11:45 Uhr Unterricht gehabt. Wenn dann die nächste Veranstaltung um 14:00 Uhr ist, hat man eine prima Mittagspause. Nur was macht man, wenn man schon ab 10:30 Uhr unerwartet frei hatte? Im Laufe des Semesters war das kein Problem - da gab es ja meist irgendwas vorzubereiten: für ein Referat oder eine Hausarbeit oder sonstwas. Aber in der allerersten Woche stand noch nichts an, daher konnte man bei mehreren Freistunden eigentlich nichts Besseres tun, als irgendwie die Zeit totzuschlagen.

"Und hast du noch was?", fragte Anne gerade. Tobias nickte: "Ich treff mich nachher noch mit diesem Latein-Tutor zwecks Nachhilfe."

"Ahh - jetzt wird's langsam ernst mit dem Latinum, was?", stichelte Anne und blinzelte Tobias von der Seite an. 

"Irgendwann muss ich ja mal damit anfangen", grummelte ihr Gesprächspartner daraufhin. Anne grinste. "Das wird schon!", verkündete sie zuversichtlich und knuffte Tobias in die Seite. Der rollte nur mit den Augen. Anne hatte ja auch gut lachen. Sie machte ihren Bachelor in Geschichte und Philosophie, er hingegen war ein Lehramts-Student mit den Fächern Geschichte und Deutsch, daher musste er - anders als Anne - im Laufe des Studiums das Latinum erwerben. Und das war an einer Universität deutlich schwieriger, als an einer Schule!

Schweigend gingen sie weiter. Um sie herum waren allerhand Menschen unterwegs. Kein Wunder, bei dem Wetter! Tobias atmete tief durch und genoss die warme Herbstluft. Der Himmel war nur etwas wolkig, die Sonne konnte ungehindert ihre Wärme ausschicken. Das Wetter versprach heute wieder einmal einen jener Tage, durch die der Begriff "Goldener Oktober" seinen Namen erhielt.

Tobias hatte plötzlich einen Einfall: "Wir könnten doch schon zur Mensa am Beitz-Platz gehen und was essen!"

Anne drehte langsam den Kopf und fragte: "Nicht dein Ernst, oder?" Tobias sah nach rechts und erblickte ihre großen grünen Augen, die fast rollten. "Dat ist doch vill zu früh!", ergänzte sie in  bestem Ruhrpott-Dialekt. 

Tobias grinste sie an und ergötzte sich an ihrem bissigen Blick. Trotz ihrer 1,62 Meter war Anne eine imposante Erscheinung mit ihren großen grünen Augen und ihren langen Haaren, die leicht gewellt waren und immer etwas wirr aussahen und in denen man neben einem dunklen Braun auch helle, blonde Strähnchen ausmachen konnte. Sie war nur immer etwas viel geschminkt, was sie eigentlich nicht nötig hatte - fand jedenfalls Tobias.

Anne sah wieder nach vorn und meinte: "Außerdem bin ich schon um 13 Uhr mit Jacob da verabredet."

Tobias sah wieder nach vorn und zuckte mit den Schultern. "Na dann", war sein einziger Kommentar. Jacob war Annes Freund.

Anne grinste und sah Tobias von der Seite an. Sie wusste, dass er ein bisschen auf sie stand, doch dafür konnte sie ja nichts. Er sah eigentlich nicht schlecht aus: 1,80 Meter groß, kurze dunkle Haare mit einem stacheligen Pony und dann diese süßen kleinen braunen Augen, die dicht zusammen standen und von der Seite immer schwer zu sehen waren, weil Tobias so ein riesiges spitzes Dreieck von Nase mit sich rumtrug.

"Apropos, wie läuft's denn eigentlich zwischen dir und dieser Jenny?", fragte Anne scheinbar beiläufig. Tobias nickte und meinte zögerlich: "Mal sehen. Wir treffen uns bald mal."

Anne nickte. Mehr würde sie nicht erfahren, das war man klar. Tobias guckte zielstrebig nach vorn. Wäre ja noch schöner, wenn er hier alles im Detail erzählte! Jedenfalls nicht Anne, das war man klar.

"Oh, guck mal!", rief Anne plötzlich, kreuzte einfach seinen Weg und lief quer vor ihm auf die rechte Straßenseite. Tobias wollte sich gerade fragen, was denn los sei, da sah er schon den Grund: Anne rannte wie eine Bekloppte auf die Universitäts- und Ratsbuchhandlung zu, weil sie dort scheinbar etwas für sie ganz Tolles entdeckt hatte.

Sie war mit leuchtenden Augen vor eines der Schaufenster stehen geblieben und meinte ohne sich zu Tobias umzudrehen: "Sieh mal! Die haben schon die neuesten Potter-Bände hier!"

Tobias kam hinter ihr zum Stehen und rollte mit den Augen. Na klar! Als wenn die Welt noch weitere Potter-Bücher brauchte. Er verstand den Hype um diese Fantasy-Serie einfach nicht. Es gab doch so viele andere tolle Bücher, die man lesen konnte. Gerade im Bereich Fantasy.

Nachdem Anne sich endlich von dem Anblick losreißen konnte, gingen sie weiter. Der Markt war schon in Sichtweite.

"Oh, sieh mal, da vorn ist Professor Niendorf!", rief Anne plötzlich und deutete nach vorn. Tobias blickte angestrengt in diese Richtung und dann erblickte er ihn auch. In seiner typischen zielstrebigen Art kam er genau auf sie zu.

Anne winkte dem Professor zu, der sie sofort erkannte und anhielt. "Ah, die Frau Mollner, wie geht's denn?", fragte er in seiner fürsorglichen Art. "Haben Sie die Exkursion gut überstanden?"

Anne lächelte nur als Antwort. Tobias nickte dem Professor freundlich zu und musste ein Grinsen unterdrücken. Professor Niendorf war ganz nett, keine Frage, aber durch seine etwas hohe Stimme, der kleinen Gestalt und seiner Art, ständig mit seinem Kopf und Oberkörper hin und her zu wippen und zu nicken, wirkte er manchmal etwas nerdig.

Aber das lag nur daran, dass er seine Arbeit so liebte. Ein Historiker mit Herzblut! Und genau so hatten sie ihn auch auf der Exkursion nach St. Petersburg kennengelernt, die gerade mal erst vier Wochen zurücklag.

"Ja klar!", erwiderte Anne selbstbewusst. "Das war wirklich interessant!"

Professor Niendorf nickte sogleich erfreut, wobei sein ganzer Oberkörper gleich wieder etwas wippte vor Freude. Dann nahm er erst Tobias richtig wahr. "Ach, der Herr Simmrow ist auch dabei! Da hat man ja fast die halbe Exkursionsklasse beisammen!", meinte Herr Niendorf und grinste laut los, als hätte er einen ganz tollen Witz gemacht.

Anne und Tobias lächelten nur und sahen sich wissend an. "Und - sind Sie denn beide gut ins neue Semester gekommen?", fragte Herr Niendorf dann.

"Na, ja - wie man's nimmt", meinte Tobias und erzählte von Professor Hayden.

"Ach ja, das ist eine üble Geschichte", erwiderte der Professor, mit einem Mal deutlich ernster.

Anne witterte eine Chance und fragte: "Wissen Sie etwa Näheres darüber?"

Der Professor wiegte seinen Kopf (samt Oberkörper) hin und her, dann meinte er: "Na jaaa, eigentlich sollen wir das ja nicht an die große Glocke hängen, aber - ihnen beiden vertrau ich!"

Tobias und Anne sahen sich an und nickten dem Professor wohlwollend zu. Herr Niendorf rang noch kurz mit sich selbst, dann meinte er: "Über kurz oder lang wird das sowieso herauskommen. Tatsächlich ist es nämlich so", führte der Professor aus, "dass Herr Hayden schon seit einer Woche verschwunden ist."

"Was?", platzte es aus Tobias heraus. "Das glaub ich nicht."

Professor Niendorf nickte eifrig und ergänzte: "Doch, doch. Wir haben da auch ganz schön Scherereien am Institut deswegen. Die Staatsanwaltschaft war auch schon da und hat Ermittlungen aufgenommen."

"Nicht ihr Ernst!", meinte Anne und tauschte einen besorgten Blick mit Tobias.

"Ja, ja - das ist alles ziemlich heikel", meinte Herr Niendorf. "Der Kollege kommt ja auch nicht mal eben von der Nachbarstadt, von daher..." Er grinste vielsagend, nickte etwas wild dazu und schaute die Beiden an. Tobias verstand sofort. Er konnte sich gut vorstellen, was der Professor meinte. Sicherlich hing auch die amerikanische Botschaft in den Ermittlungen mit drin.

Etwas gelähmt durch das Gehörte, verabschiedeten sich die beiden Studierenden schnell von ihrem Exkursions-Professor. Der hatte es ja auch eilig. Schweigend gingen Anne und Tobias nebeneinander her und verdauten die neuen Informationen. Inzwischen waren sie auf dem Marktplatz.

"Also, irgendwas stimmt da nicht", meinte Anne schließlich nach einer Weile. "So ein Professor kann sich doch nicht urplötzlich in Luft auflösen."

Tobias fiel noch etwas Anderes ein. "Ich versteh nur nicht, warum sie dann nicht schon vor ein paar Tagen online gepostet haben, dass die Veranstaltung ausfällt. Warum wird das erst im letzten Moment bekannt gegeben?"

Anne sah ihn erstaunt von der Seite an. "Mehr fällt dir dazu nicht ein? Das ist doch ganz einfach: Der Hiwi vom Professor wird bis zum Schluss gehofft haben, dass sein Chef wieder zurückkehrt. Vielleicht hatte er sogar schon selbst überlegt, das Seminar zu halten, und hat dann kalte Füße bekommen."

Tobias konnte nur anerkennend zustimmen. "Viel interessanter ist doch, was mit Professor Hayden passiert sein könnte", meinte Anne dann. "Ich meine, der Mann hat sich in den letzten Jahren mit okkulten Sekten befasst. Was ist, wenn er seine Nase irgendwo zu tief reingesteckt hat und ihm das jetzt zum Verhängnis wurde?"

Tobias blieb stehen und rollte mit den Augen. "Ach bitte, Anne - komm mir jetzt nicht mit irgendwelchen Verschwörungstheorien!"

Anne blieb auch stehen und sah Tobias mit ihren großen grünen Augen unschuldig an.

"Lass mich raten", ergänzte Tobias, "du glaubst, dass irgendein gruseliger Orden hinter dem Professor her war und ihn jetzt erwischt hat."

"Vielleicht", grinste Anne achselzuckend - wohl wissend, dass sie Tobias mit solchen Gedanken auf die Palme brachte.

"Oh nee - das kann nicht dein Ernst sein!", platzte es aus Tobias heraus. "Weißt du was? Mit deinen Verschwörungstheorien passt du wunderbar mit Herrn Niendorf zusammen! Ihr wärt das perfekte Paar!"

Anne lachte nur darüber, dann wurde ihre Miene ernst. "Die Hilfskraft", murmelte sie leise vor sich hin. Tobias verstand nur Bahnhof.

"Was?", meinte er, aber Anne hörte und sah ihn nicht. "Die Hilfskraft wollte vielleicht seinen Vortrag halten", murmelte sie weiterhin leise und sah dabei zu Boden. Tobias hatte sie leider nicht richtig verstanden. Später sollte er sich wünschen, dass er es getan hätte...

"Weißt du", sagte Anne plötzlich gedehnt und sah ihn fest an, "ich glaube, ich muss noch mal zum Alten Campus zurück. Ich wollte ja noch in diese eine Sprechstunde..."

Tobias zuckte mit den Achseln. "Und?", fragte er nach. "Na jaa - die Sprechstunde wäre ab Elf. Wenn ich gleich hingehe, schaffe ich es noch." Anne sah ihn erwartungsvoll an.

Endlich verstand Tobias. "Okay, dann sehen wir uns morgen bei Herrn Werlich", meinte er dann.

"Genau!", erwiderte Anne schwungvoll. Sie umarmten sich, dann marschierte Anne quer über den Marktplatz Richtung Uni-Hauptgebäude zurück, während Tobias den Markt in die andere Richtung verließ. Täuschte er sich, oder hatte Anne irgendwas vor. Er zuckte mit den Achseln und ließ es dabei bewenden.

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