19. Das Ritual von Metatron
Einen Moment lang saßen Tobias und Anne wie versteinert da und konnten den Professor nur anstarren.
Der Talisman war aus dem Blut von dieser Alessa erschaffen worden? Das konnte doch nicht wahr sein!
"Das ist es also...", brachte Tobias mühsam hervor, "das ist der Grund, warum dies alles möglich wurde."
Professor Hayden nickte müde. "Yes, Toby - that's it", meinte er bedächtig, "deswegen konnte die Otherworld entstehen in Greifswald."
Anne konnte nur den Kopf schütteln und ungläubig dreinschauen. "Aber wie soll das gehen?", fragte sie dann halb fassungslos, halb forschend, "der Anhänger ist doch aus Metall! Wie kann er da aus Blut sein?!"
Der Professor sah sie eindringlich an. "Natürlich ist er aus Metall", erklärte er, "doch sein Inneres hat jemand mit dem Blut von Alessa gefüllt. Ich bin mir da ganz sicher."
Schaudernd sah Anne den Talisman an, den der Professor noch immer in seiner Hand vor sich hielt. Ihr Blick bekam etwas Flehentliches, dann meinte sie leise: "Könnten Sie ihn vielleicht wieder wegpacken? Bitte."
Jonathan Hayden warf einen Blick auf den Talisman, nickte kurz und kam der Bitte nach.
"Wie sind Sie darauf gekommen?", wollte Tobias wissen.
"Ich war mir zunächst nicht sicher", antwortete der Professor, "aber dann hab ich gesehen, wie das Symbol - halo of the sun - rot leuchtete, als wir waren in the Otherworld. Vielleicht haben Sie es ja auch gesehen. Es trat richtig hervor und leuchtete blutrot. Da wusste ich, dass meine Vermutung stimmt..."
Tobias nickte und erinnerte sich. Etwas Ähnliches hatte er tatsächlich gesehen, als er in seinem Zimmer sitzend vom Talisman in die Otherworld gezogen worden war.
"Das kam also von Alessa's Blut", schlussfolgerte Anne laut vor sich hin. "Aber vielleicht können wir das auch für uns nutzen. Sie sagten, Alessa hat auch eine gute Seite. Vielleicht können wir die irgendwie erreichen und kommen so in die Realität zurück!"
Der Professor wischte Anne's Überlegungen sofort mit einem festen Kopfschütteln beiseite. "Das wird nicht funktionieren", meinte er selbstsicher. "Vergessen Sie nicht, welches Symbol der Talisman trägt. Das Blut ist mit halo of the sun versiegelt worden. Dadurch wird automatisch die dunkle Seite von Alessa geweckt. Die dem Wesen näher steht." Er sah sie beide an, prüfte, ob sie seinen Überlegungen folgen konnten. "Verstehen Sie?", fragte er dann nach, "durch die Versiegelung des Blutes mit diesem Symbol kann das Wesen Macht über den Ort erlangen, wo der Talisman gerade ist. Genau das geschieht hier nun."
Wohl oder übel mussten Anne und Tobias einsehen, dass der Professor Recht hatte.
"Außerdem", ergänzte Jonathan Hayden, "wirkt die dunkle Seite in Alessa's Blut sowieso stärker, solange sich der Talisman in der Otherworld aufhält. Auf der tieferen Ebene ist das sogar noch mehr der Fall. Deshalb haben wir nur eine Chance: wir müssen den Talisman zerstören!"
Tobias nickte und auch Anne sah ein, dass es nur so ging.
Der Professor wurde nun wieder etwas enthusiastischer. "Was wir brauchen, ist the seal of Metatron", meinte er selbstsicher, "und dadurch, dass Sie mir haben my diary mit hierher gebracht, können wir das Siegel entstehen lassen." Kaum ausgesprochen, blätterte er in dem Tagebuch nach den Seiten ganz hinten und schien eine bestimmte Stelle zu suchen.
Tobias nickte derweil verständig und meinte: "Ja, das erwähnten Sie schon. Im Tagebuch stand etwas davon, dass das Siegel "lebendig" werden muss. Was meinten Sie eigentlich damit?"
Jonathan Hayden schien Tobias' Worte zunächst nicht gehört zu haben. Er blätterte bis fast ans Ende des Tagebuches. "Genau das möchte ich Ihnen jetzt erklären", antwortete er plötzlich doch noch. Dann blätterte er eine weitere Seite um und sagte sogleich: "Ah - there it is! The Seal of Metatron and the ritual of his awakening!" Er hatte das Buch bis weit hinter die Tagebucheinträge aufgeblättert, die Tobias kannte. Fast schon stolz zeigte er Anne und Tobias die aufgeschlagene Seite. Die beiden Studis sahen von weitem kurz das in Schwarz gemalte Siegel von Metatron mit seinem typischen Dreieck in der Mitte. Drumherum fielen von weiter weg außerdem die unzähligen Notizen auf, die der Professor zusätzlich dort notiert hatte.
Der Professor drehte das Buch wieder zu sich, strich fast schon zärtlich über die bekritzelten Seiten und meinte schließlich: "Mit diesem Siegel kann man die Macht des Wesens bekämpfen. Und man kann auch die Macht der Otherworld brechen."
"Wie?", fragte Anne laut. Wenn es eine Möglichkeit gab, dann nur her damit - schien ihr Blick zu sagen.
Jonathan Hayden sah von dem Buch auf und wechselte Blicke mit seinen Zuhörern. "Dieses Siegel ist eine Art Zauberbann", antwortete er ihnen. "Es hat gewisse Kräfte - so wie halo of the sun. Es ist vermutlich auch schon genauso alt und ebenso lange bekannt bei den Bewohnern von Silent Hill."
Der Professor prüfte, ob Anne und Tobias seinen Worten folgen konnten. Doch beide sahen ihn nur weiterhin wissbegierig an, forderten ihn mit ihren Augen regelrecht dazu auf, er möge weiterreden.
Jonathan Hayden musste sich nicht lange bitten lassen. "Es hat eine gewisse Bannwirkung auf das Wesen und seine Kräfte", fuhr er fort. "Auch unter den Ordensmitgliedern wurde es als Schutz verwendet. Allerdings begingen die Meisten bei seiner Anwendung einen fatalen Fehler."
Er blickte Anne und Tobias forschend an. Wie erwartet, zeigten ihre Mienen sogleich weiteres Interesse. "Es ist nämlich so", sprach der Professor weiter, "dass das Siegel als bloßes Symbol- egal ob gezeichnet oder als Talisman - nicht viel nützt. So hat for example ein gewisser Leonard Wolf, ein hochrangiges Mitglied des Ordens, the seal of Metatron in Form eines Talisman besessen und glaubte wohl, dass er sich damit vor dem angeblichen Gott schützen kann."
Der Professor sah kurz an die Decke und dachte an die Aufzeichnungen, die er diesbezüglich gefunden hatte. "Wenn ich mich recht erinnere, wollte er damit sogar die Geburt des Gottes verhindern", fügte er schließlich hinzu. Er sah wieder zu den beiden Studis und ergänzte mit warnendem Blick: "Doch letztendlich hat ihm dies nicht viel genützt und ihm ereilte ein grausiges Schicksal."
Anne und Tobias fröstelte. Der Blick des Professors war so stechend, dass sie gar nicht erst fragten, was diesem Leonard widerfahren war.
"Nein - was man braucht, ist the ritual of Metatron", sagte Jonathan Hayden als Nächstes, "dann kann das Siegel seine volle Macht entfalten und das Wesen aufhalten."
Tobias und Anne schauten den Professor prüfend an. "Ist das so eine Art Zauberritual?", wollte Tobias wissen.
"So könnte man sagen - yes", meinte Hayden. "Es war wohl auch schon den Indianern bekannt."
Er blätterte in seinem Tagebuch eine Seite weiter, dann trat er zu dem Tisch, hinter dem Anne und Tobias saßen, und legte das Buch mit der aufgeschlagenen Seite so vor ihnen hin, dass sie alles sehen konnten.
"Was wir brauchen, sind diese drei Gegenstände", sagte Hayden. Anne und Tobias sahen drei vom Professor gezeichnete Gegenstände auf der linken Seite des Buches, mit einigen Notizen auf Englisch daneben. Die Zeichnungen und Eintragungen nahmen die ganze linke Seite des Buches ein. Man kam nicht umhin, sofort mit seinem Blick dort haften zu bleiben. Anne und Tobias erkannten in dem ersten etwas, das wohl ein Buch sein sollte. Das zweite sah aus wie eine längliches Fläschchen oder eine Phiole. Das dritte war eindeutig eine Art Messer.
Jonathan Hayden ließ ihnen kurz Zeit, die Seite zu betrachten. Dann legte er seinen rechten Zeigefinger auf das Buch, wanderte damit von einem Symbol zum anderen und zählte dabei die Gegenstände auf: "Das Buch des Phaleg", sagte er tonlos und zeigte auf das gezeichnete Buch, "das Wasser der Claudia", fuhr er fort, während sein Finger auf das Fläschchen zeigte, "und der Dolch des Bethor", fügte er hinzu und zeigte dabei auf die dritte Zeichnung. Anne und Tobias folgten seinem Finger und sahen ihn anschließend erstaunt an.
"Wenn wir diese drei Gegenstände vereinen, können wir das Siegel in seiner wahren Natur entstehen lassen", gab der Professor von sich.
Anne und Tobias schauten ihn weiterhin sprachlos an. Diese drei Gegenstände wirkten so seltsam, dass sie fast etwas Märchenhaftes an sich hatten, wäre die ganze Lage nicht so verdammt ernst.
"Okay", meinte Anne schließlich, "alles schön und gut. Aber wo kriegen wir diese Gegenstände her?"
Der Blick des Professors blieb selbstsicher. "Sie sind schon hier", sagte er langsam und bedächtig.
"Was?", wunderte sich Tobias, "im Tagebuch hatten Sie doch geschrieben, dass ihnen die Gegenstände fehlen? Wie konnten Sie die dann noch bis zu ihrem Verschwinden auftreiben?"
"Das konnte ich auch nicht", erwiderte Hayden. "Ich habe sie erst kürzlich zusammengesucht."
Als Anne und Tobias ihn verwundert anschauten, fügte er hinzu: "Von hier aus - der Otherworld."
Jetzt mussten sich die beiden Studis fast einmal schüttelten, weil sie glaubten, sich verhört zu haben. "Was?", fragte Anne erregt, "aber die Gegenstände konnten doch nicht schon hier sein - oder?!"
"Ja - das versteh ich jetzt auch nicht", meinte Tobias verwundert.
Der Professor nickte nur einmal. Er verstand es sehr wohl. Ebenso, wie er ihre Reaktion verstand. Er legte seine Hand auf die Seite mit den Gegenständen und sah auf das Buch herab. "Diese Gegenstände stammen natürlich nicht von hier", erklärte er dabei. "Nein, sie waren in Silent Hill verborgen. Von dorther hab ich sie."
Anne und Tobias fielen halb die Augen raus vor Überraschung.
Jonathan Hayden suchte wieder den Augenkontakt mit ihnen und sprach sogleich weiter: "Es gibt nämlich noch eine weitere interessante Regel in der Otherworld. Wenn sie an einem anderen Ort als Silent Hill erscheint, können sogenannte Durchlässe oder Portale entstehen, mit denen man nach Silent Hill kommt. Auf so etwas bin ich hier gestoßen."
Anne und Tobias konnten sprachlos nur langsam den Kopf schütteln. Sollte das etwa heißen, man konnte in der Otherworld sogar von Greifswald aus bis nach Silent Hill gelangen?
Der Professor schaute mitfühlend. "Ich weiß, das ist ziemlich erschreckend", sagte er behutsam, "daher wollte ich Ihnen das vorhin noch etwas vorenthalten. Schließlich ist das alles neu für sie und leider haben wir auch nicht soviel Zeit für allzu lange Erklärungen."
"Oh Mann", stöhnte Anne, "das ist ja wirklich krass."
"Puuhh", schnaufte Tobias, "noch mehr Neues ertrag ich bald nicht mehr, ehrlich gesagt." Er wischte sich übers Gesicht, wobei er ein gequältes Lächeln zustande brachte.
"Ich kann das sehr gut nachempfinden, Toby", gab Jonathan Hayden von sich, "für mich war das am Anfang auch alles ungeheuerlich. Aber: diese Durchlässe gibt es. Schon früher fand ich in Aufzeichnungen Berichte von Personen, die über eine Art "Tunnel" von ihrem Heimatort nach Silent Hill versetzt wurden. Die Eingänge dazu sehen meist auch wie ein Tunnel aus oder wie ein Loch in der Wand. Auch eine Tür kann als Zugang dienen."
Anne und Tobias schluckten mühsam.
"Das Ganze funktioniert wie ein wormhole - ein Wurmloch", erzählte der Professor weiter, "aber man weiß nie, wo genau man herauskommt in Silent Hill. Das Ganze ist also auch gefährlich."
Anne und Tobias nickten verständig. "Aber Sie haben es dorthin geschafft", schlussfolgerte Anne.
"Yes", antwortete Jonathan Hayden sogleich. "Es war nicht ungefährlich, aber ich hab zum Glück schon allerhand Wissen über Silent Hill. Ich spürte die Gegenstände auf und kehrte in die Otherworld von Greifswald zurück."
Die beiden Studis sahen ihn noch einen weiteren Moment an. "Und dann wurden Sie gefangen genommen", hakte Anne schließlich nach.
Der Blick des Professors bekam etwas Unsicheres. "Ja", antwortete er knapp und nickte schwermütig. Es wirkte, als verschwieg er noch etwas. Tobias maß ihn mit einem prüfenden Blick und suchte dann den Augenkontakt zu Anne. Auch sie schien das zu spüren. Immer, wenn es um seine Gefangennahme ging, wollte Professor Hayden nicht weiter ins Detail gehen.
Aber auch, wenn er ihnen nicht sagen wollte, wie genau und durch wen er in Gefangenschaft gekommen war, konnten sie sich ungefähr zusammenreimen, wie es dazu gekommen war. Diese Durchlässe, wie der Professor sie nannte, funktionierten sicherlich auch umgekehrt. Also war jemand aus Silent Hill dem Professor durch eines dieser Wurmlöcher hierher gefolgt. Jemand vom Orden sicherlich. Vielleicht hatte ihn jemand dabei beobachtet, wie er die Gegenstände an sich nahm.
Professor Hayden versuchte seinen standhaften Blick zu wahren. Er konnte sich gut vorstellen, dass Anne und Tobias gern genauer wissen würden, wer ihn überwunden hatte. Aber er wollte jetzt nicht über diese Person sprechen. Sein Schock über das Zusammentreffen mit ihr, das eigentlich unmöglich sein konnte, saß immer noch tief...
"Die Person, die Sie gefangen nahm...", hakte Anne nochmals vorsichtig nach, "ist hinter diesen Gegenständen her, stimmts?"
Jonathan Hayden nickte gequält. "Aber das ist nicht alles", meinte er dann zaghaft, "sie will auch die Macht des Wesens auf diesen Ort ausweiten. Die Macht ihres Gottes."
Anne und Tobias verstanden und nickten langsam.
"Deshalb haben wir keine Zeit mehr für weitere Erklärungen", sagte der Professor nun mit festerer Stimme. "Diese Person ist gefährlich und will die Kräfte des Talisman entfesseln. Wenn das gelingt, wird sich das Schicksal von Silent Hill in Greifswald wiederholen. Der ganze Ort wird stürzen in the Otherworld! Alle Bewohner werden verschwinden und in die Otherworld versetzt. Und jeder, der nach Greifswald kommt, wird nur eine Geisterstadt vorfinden und schon bald selbst in the Otherworld geraten. Das müssen wir verhindern!"
Anne und Tobias strafften sich. Der Professor hatte recht: sie sollten sich jetzt nicht in Details verlieren. Sie hatten eine Möglichkeit, dem Ganzen ein Ende zu bereiten. Darauf mussten sie sich jetzt konzentrieren.
"Und jetzt, wo wir haben die Gegenstände und die Erklärung zum Ritual aus my diary", sprach Jonathan Hayden weiter, "können wir das auch verhindern. Wenn wir das Siegel erst erwecken, können wir den Talisman zerstören. Dann ist seine Macht über Greifswald gebrochen! Wir werden zurückkehren in the reality und die Otherworld wird verschwinden."
Der Professor konnte regelrecht sehen, wie in den Augen von Anne und Tobias Mut und Entschlossenheit die Oberhand gewannen.
"Worauf warten wir dann noch?", meinte Anne plötzlich anspornend, "her mit den Gegenständen und dann ran an das Ritual!"
Jonathan Hayden musste fast schmunzeln. Dann meinte er aber: "Ganz so schnell geht das leider doch nicht. Denn es ist nämlich so, dass eine Besonderheit verbunden ist mit diese drei Gegenstände: Irgendwie reagieren sie unvorhergesehen aufeinander und dürfen deshalb nicht im selben Raum aufbewahrt werden. Daher habe ich die Gegenstände leider hier nicht alle in meinem Büro beisammen, sondern habe sie auf verschiedene Gebäude in der Umgebung verteilt."
Anne und Tobias seufzten, sichtbar enttäuscht. Warum sollten sie auch ein einziges Mal in der Anderwelt auf dem geraden Weg zum Ziel kommen?
Der Professor hob eine Braue und meinte verschwörerisch: "Auch deshalb sollten wir uns nicht länger mit Erklärungen aufhalten. Die tiefere Ebene der Otherworld wird schon bald zurückkehren. Dann wird auch die Macht des Talisman wieder stärker werden. Und ich weiß nicht, ob wir ihn noch einmal bändigen können. Ob Greifswald dann nicht endgültig wird stürzen in the Otherworld." Er sah förmlich, wie es seinen beiden Zuhörern angesichts dieser Worte schauderte.
"Okay", sagte Tobias schließlich, "dann sollten wir uns vielleicht aufteilen und die Gegenstände zusammenbringen." Er sah unsicher zu Anne. "Ist das okay für dich?"
Anne war alles andere als wohl bei dem Gedanken, wieder allein durch die Anderwelt zu spazieren, aber was halfs? Wenn sie den Professor richtig verstand, hatten sie nicht mehr viel Zeit, bis alles endgültig zu spät war. Sie zuckte mit der Schulter und meinte: "Warum nicht? So geht es am schnellsten."
Der Professor sah beide dankbar an. "Ich hatte gehofft, dass Sie das vorschlagen", meinte er.
"Also - wo sind die Gegenstände?", fragte Anne.
"Das Buch des Phaleg ist in der Germanistik", antwortete Jonathan Hayden sogleich, "und zwar im Büro von Frau Erfen." Er wies in die ungefähre Richtung, wo er das Gebäude wähnte.
Tobias nickte zufrieden. Die Germanistik befand sich in direkter Nachbarschaft zum Audimax, also gar nicht so weit entfernt.
"Das Fläschchen mit dem Wasser der Claudia habe ich in der Universitätsbuchhandlung versteckt", erklärte der Professor inzwischen weiter. 'Guck an', dachte Anne und nickte. Die Buchhandlung war schon etwas weiter weg, aber sie wussten beide ganz genau, wo. Schließlich waren sie erst vor kurzem daran vorbeigegangen. Anne bekam eine wehmütige Miene, als ihr die neuesten Harry-Potter-Bände einfielen, die sie dort gesehen hatte. Dann fiel ihr mit Schrecken auf, dass das erst heute Vormittag gewesen war. Aber was war seitdem alles passiert? Kaum zu glauben, dass das immer noch derselbe Tag sein sollte.
"Kennen Sie die Buchhandlung?", fragte Hayden sie gerade beide. Anne nickte und meinte: "Ja, die ist in der Langen Straße. Ich war dort schon oft."
"Okay", meinte der Professor zufrieden.
"Fehlt nur noch der Dolch", sagte Tobias. "Wo finden wir den?"
Der Professor sah einen Moment lang von einem zum anderen. "Den habe ich hier", antwortete er dann selbstbewusst, knöpfte sein Hemd oben etwas auf und griff mit der rechten Hand beim Kragen in die Innenseite des Hemdes hinein. Dort hatte er ein kaum sichtbares Futteral eingenäht, aus dem er nun vorsichtig etwas zog.
Anne und Tobias folgten dem Vorgang verwundert. Im nächsten Moment zog der Professor seine Hand ganz heraus, mit einem länglichen silbernen Gegenstand in der Hand. Er legte ihn in beide Hände und hielt diese den beiden Studis hin. "Das ist der Dolch des Bethor", sagte er würdevoll.
Anne und Tobias beugten sich von ihren Plätzen vor und bewunderten den Gegenstand. Der Dolch war komplett aus reinem Silber gehalten, das selbst im nebligen Schummerlicht leicht glänzte. Die Klinge war etwa 30 Zentimeter lang und wurde vom Heft zur Spitze gleichmäßig schmaler. Am Klingenansatz war sie genauso breit wie das Heft bzw. der Griff. Klinge und Heft gingen ineinander über, allerdings hatte der Griff ein geriffeltes Muster von ineinander gedrehten Linien, damit man den Dolch sicherer halten konnte. Anne und Tobias fielen allerlei Schriftzeichen auf, die auf der Klinge zu sehen waren. Der Griff hatte zudem an seinem Ende einen flachen runden Knauf, auf dem das Siegel von Metratron eingearbeitet war.
Anne und Tobias sahen den Professor staunend an. "Nun", räusperte sich Jonathan Hayden erklärend, "ich musste schließlich nur zwei Gegenstände verbergen, um sie alle zu trennen. Und der Dolch schien mir ein guter Ersatz als Waffe zu sein." Er wartete die Reaktion der Beiden nicht ab und verbarg den Dolch wieder vorsichtig an der Innenseite seines Hemdes. Zum Glück hatte er ihn bisher kaum als Waffe einsetzen müssen.
Anne und Tobias sahen sich an. Beide waren beeindruckt, aber auch erleichtert. "Dann haben wir den Dolch also schon", meinte Anne.
"Yes", antwortete der Professor knapp. "Wir brauchen das Wasser und das Buch." Er sah die beiden Studis an. "Ich möchte Sie zwei darum bitten, dass Sie diese Gegenstände holen. Ich werde mich derweil mit dem Ritual wieder vertraut machen." Er nahm sein Tagebuch wieder zur Hand und zeigte ihnen die rechte aufgeschlagene Seite, direkt neben der Seite mit den Gegenständen.
Tobias und Anne sahen kurz darauf. In der Mitte war das Zeichen von Metatron abgebildet. Drumherum hatte der Professor alles mit Notizen voll geschrieben. Die Beiden konnten auf den ersten Blick so gut wie nichts davon entziffern. Auffällig war nur ein Pfeil, der von einer Notiz, die wohl "book of Phaleg" heißen sollte, direkt auf die Mitte des Siegels zeigte.
Der Professor sah die fragenden Gesichter und meinte: "Wie das genau funktioniert, erkläre ich Ihnen später. Lassen Sie uns jetzt nur erst alle Gegenstände beisammen haben. Außerdem...", fügte er etwas kleinlaut hinzu, "muss ich dies, wie gesagt, selbst erst noch einmal in Ruhe lesen."
Die beiden Freunde verstanden das gut und nickten. "Okay", meinte Tobias, "dann gehen wir in die Germanistik und zur Ratsbuchhandlung." Er schaute zu Anne. "Ich kenn mich in der Germanistik besser aus, aber die Buchhandlung ist weiter weg. Möchtest du lieber...?", hob er fragend an.
Anne winkte ab. "Nein, geh du lieber in die Germanistik", meinte sie dann fast gönnerhaft, "du kennst dich da besser aus. Außerdem ist dein Bein noch nicht ganz geheilt." Sie schielte auf Tobi's linkes Hosenbein, wo noch immer ihr provisorisch angelegter Verband zu sehen war. "Daher werde ich den längeren Weg zur Buchhandlung nehmen." Die Worte klangen selbstbewusst, aber man sah es Anne an, dass ihr schon etwas mulmig bei diesem Gedanken war.
"Okay", meinte der Professor mit erfreutem Tonfall, "dann weiß jetzt jeder, was zu tun ist."
Ohne eine Antwort abzuwarten, fummelte er in seiner Hosentasche und holte einen Schlüssel hervor. Er hielt ihn Tobias hin und sagte: "Dies ist der Schlüssel zum Büro von Frau Erfen. Wo das ist, wissen Sie ja bestimmt, right?"
"Klar", erwiderte Tobias selbstsicher und nahm den Schlüssel an sich. Er wunderte sich zwar, wie der Prof an Frau Erfens Schlüssel gekommen war, aber weder war es jetzt passend, darüber nachzudenken, noch war das eigentlich wichtig. Frau Erfen war schließlich eine Professorin, die sich für alte Sprachen und auch für Geschichte interessierte. Es würde Tobias überhaupt nicht wundern, wenn sie sich gleich in den ersten Tagen mit dem Gastprofessor aus Amerika angefreundet hätte.
"Ich habe das Buch im Bücherregal bei Frau Erfens Schreibtisch versteckt", erklärte Professor Hayden inzwischen weiter. "Zwischen den Büchern direkt dort auf Augenhöhe, wo sie sitzt."
Tobias nickte.
Der Professor hob eine Braue und ergänzte: "Das Buch hat einen schwarzen Deckel mit dem Siegel von Metatron vorne drauf. Und wenn Sie es aufschlagen, müssten seine Seiten leer sein."
Jetzt hob Tobias fragend eine Braue und auch Anne wunderte sich.
Jonathan Hayden winkte ab. "Sie werden das nachher schon verstehen", meinte er selbstsicher.
Dann wandte er sich Anne zu. "Leider hab ich für die Universitätsbuchhandlung keinen Schlüssel", gab er kleinlaut zu. "Ich hatte ein wenig - wie soll ich sagen - nachgeholfen, um hinein zu kommen. Die Tür müsste immer noch leicht zu öffnen sein."
Anne zuckte mit den Schultern. "Ich hatte eh vor, etwas Handfestes als Waffe mitzunehmen."
Der Prof schmunzelte leicht. Dann wurde seine Miene wieder ernster und er sagte: "Das Fläschchen mit dem Wasser steht, wenn man reinkommt, gerade zu an der Rückwand im ersten Raum. Zwischen all den Gegenständen, die man zum Hinstellen oder als Accessoire erwerben kann."
Anne verstand und nickte.
"Das Glas des Fläschchen hat eine prismenhafte Oberfläche", erklärte der Professor weiter, "man kann nicht richtig hineinsehen. Das Siegel von Metatron ist aber auch hier deutlich auf der einen Seite erkennbar. Die Flüssigkeit darin - das Wasser der Claudia oder auch genannt 'Wasser der Wahrheit' - ist dünnflüssig und sieht hellgelb aus."
"Alles klar", meinte Anne und nickte erneut.
"Sehr gut", meinte Professor Hayden, "dann kann ich mich auf die Vorbereitung des Rituals konzentrieren. Außerdem muss ja auch noch das Siegel mit all seinen Details an einem passenden Ort aufgemalt werden. Das ist meine Aufgabe, während Sie die Gegenstände holen." Er nickte ihnen mit festem Blick zu. Dann bekam seine Miene einen weichen Ausdruck. "Ah", sagte er gleichzeitig mit hellerer Stimme, so als sei ihm etwas Wichtiges eingefallen. Sogleich drehte er sich um, ging zum Regal nahe beim Fenster und fummelte dort hinter einigen Büchern herum. "Für das Zeichnen des Symbols brauche ich ja noch etwas Bestimmtes", murmelte er, von Tobias und Anne abgewandt. "There it is", sagte Hayden erleichtert und zog dabei ein dickes Plastikfläschchen hervor, dass hinter der Bücherreihe versteckt war.
Er drehte sich wieder zu den beiden Studis um und zeigte ihnen die kleine Flasche. Anne und Tobias erkannten eine rötliche Flüssigkeit darin, die eine gewisse Ähnlichkeit mit Blut besaß. "Was ist das?", fragte Anne verwundert.
"Eine besondere Substanz mit Schutzkräften", antwortete der Professor. "Ich muss sie der Farbe beigeben, mit der ich das Siegel aufmale."
"Aha", meinte Tobias leicht ironisch. Langsam wunderte ihn gar nichts mehr.
Plötzlich wurde es ohne Vorwarnung deutlich dunkler. Anne sog erschrocken die Luft ein, Tobias erstarrte. Beide kannten das nur zu gut. Als hätte die Sonne einen Dimmschalter, wurde das Licht von einem Moment zum anderen einfach heruntergedreht. Der Professor trat ans Fenster und starrte hinaus. Die extrem schnelle Dämmerung war im Nu vorüber. Sie saßen plötzlich in dem Büro in völliger Dunkelheit.
"Oh nein...", gab Anne mit leichter Panik von sich. Tobias holte den Halogen-Scheinwerfer hervor und knipste ihn an.
Der Professor stand immer noch am Fenster und starrte in die Finsternis, so als könnte er dort sehen, warum dies passiert ist. "Es hat begonnen", sagte er plötzlich mit ernster Stimme, ohne den Blick nach draußen abzuwenden, "unsere letzte Prüfung steht bevor."
Anne und Tobias lief ein kalter Schauer über den Rücken.
Jonathan Hayden drehte sich zu ihnen um. "Wir dürfen nicht länger warten", sprach er ehrfürchtig weiter, "und wir dürfen nicht scheitern. Wenn die Otherworld in voller Stärke zurückkehrt, haben wir nur diese eine Chance. Lasst uns Erfolg haben."
Anne und Tobias nickten, standen von ihren Plätzen auf und stellten sich demonstrativ vor den Professor. "Dann los", meinte Anne trocken. Der Professor nickte, dann kam wieder Bewegung in ihn. Er steckte sich schnell das Fläschchen in seine Westentasche, dann öffnete er eilig die Schubladen seines Schreibtisches, kramte darin kurz herum und förderte zwei weitere Taschenlampen zu Tage - eine für ihn und eine für Anne, die ihr Licht verloren hatte.
Tobias wunderte sich, woher er so viele Taschenlampen hatte. Der Professor schmunzelte leicht: "Wenn man eines in Silent Hill lernen kann, dann dies, dass man immer genug Taschenlampen dabeihaben sollte."
Mehr Zeit zum Reden war nicht. Die Drei verließen eilig das Büro und machten sich im Licht der Taschenlampen auf den Weg nach unten. Nebenbei fragte Anne den Professor noch, wie er das Siegel denn malen wolle. Jonathan Hayden verwies auf den Raum des Hausmeisters im Erdgeschoss, dessen Tür nicht verschlossen war. Dort konnte man immer leicht einen Farbeimer finden.
Draußen angekommen guckte sich der Professor erst um und zeigte dann auf den jetzt leeren Parkplatz neben dem Institut. "Dies ist die perfekte Stelle", meinte er, "hier werde ich das Siegel in großer Form auf den Boden zeichnen. Sie zwei besorgen die Gegenstände und kommen sofort zurück. Wir treffen hier dann wieder zusammen."
"Okay", meinte Tobias, "viel Glück bei den Vorbereitungen."
Der Professor nickte ihm zu. "Ihnen zwei auch viel Glück", sagte er liebevoll.
Sie sahen sich noch einen Moment an, dann eilten Anne und Tobias in Richtung Audimax davon. Der Professor sah ihnen kurz nach, vergewisserte sich noch einmal, dass die kleine Flasche noch in der Westentasche war, und ging dann wieder ins Institut hinein, um sich einen Farbeimer mit roter Farbe zu ordern.
Anne und Tobias waren inzwischen an der Sternwarte vorbeigelaufen und eilten an der Alten Augenklinik vorbei. Genau diesen Weg waren sie schon einmal gegangen - in der bizarren Anderwelt, als sie die sechs unheimlichen Fackeln gesehen hatten und den Schatten des Professors. Jetzt sah der Hof des Alten Campus relativ genauso aus wie immer, abgesehen von der Tatsache, dass ohne Taschenlampe mal wieder nichts zu sehen war in dieser Dunkelheit.
Die Beiden gingen eilig den Weg ans Ende bis zur Rubenowstraße. Zum Glück gab es hier diesmal auch keinen Abgrund. Tobias brauchte nur quer über die Straße zu gehen, dann kam schon der Zaun, hinter dem die Germanistik lag. Anne musste hingegen am Audimax vorbei die Rubenowstraße nach Norden gehen. Doch auch zur Langen Straße war es dann nicht mehr so weit.
Auf dem Bürgersteig zur Hofeinfahrt, nahe an der Ecke vom Audimax, blieben sie stehen und schauten sich noch einmal kurz an. "Tja...", meinte Anne gedehnt, "dann werd ich mal." Sie wies mit dem Kopf die Straße hoch, Richtung Theologische Fakultät.
Tobias nickte und blickte mitfühlend. "Viel Glück", meinte er und lächelte wehmütig.
"Du auch", erwiderte Anne prompt mit fast erstickter Stimme. Es war nach langem wieder das erste Mal, dass sie in der Anderwelt getrennte Wege gehen würden. Es fühlte sich einfach nur beschissen an.
"Brauchst du das Radio", meinte Anne schließlich. Tobias schüttelte sanft den Kopf. "Behalte es ruhig", meinte er warmherzig, "du hast den weiteren Weg vor dir."
Anne nickte und legte den Mund schief. Sie hatte zu tun damit, dass ihr nicht die Tränen kamen. Kurzerhand schlang sie die Arme um Tobias und drückte ihn an sich. Der erwiderte die Umarmung gern. "Pass auf dich auf", murmelte er Anne ins Haar.
Sie lösten sich voneinander. Anne nickte übertrieben zuversichtlich. "Du auch", meinte sie dann.
"Klar doch", erwiderte Tobias. "Wir werden es schon schaffen." Er versuchte, etwas mehr Mut auszustrahlen.
"Bestimmt", sagte Anne, "dett wär doch jelacht." Tobias schmunzelte. So ein Ruhrpott-Dialekt half also sogar gegen die Angst vor der Anderwelt.
"Wir treffen uns dann wieder hier", sagte Tobias bestimmt und sah sie tief an. "Mit den Gegenständen", ergänzte er selbstsicher.
"Auf jeden", meinte Anne und grinste schief. Dann fassten sie sich noch einmal einander an die Hände und lösten sich von der Stelle. Anne wandte sich um und spurtete die Straße davon, Tobias drehte sich vom Audimax weg und ging quer über die Straße, auf den Hof der Germanistik zu.
Einen kurzen Moment später, als keiner der Beiden mehr zu sehen war, löste sich ein Schatten von der Hauswand des Audimax. Eine Gestalt trat mit langsamen Schritten auf die Rubenowstraße. Sie trug ein seltsames Gewand mit einer Kapuze. Sie sah erst Richtung Germanistik und dann in die Richtung, in die Anne verschwunden war.
"Well, well, well Jonathan", murmelte die Gestalt mit einer älteren, merkwürdig sonoren Frauenstimme, "it looks like, you've got help." Dann fasste sie mit der Hand in die Tasche ihres Gewandes und berührte den seltsam geformten Gegenstand dort. Sie straffte sich und ihre Stimme bekam nun einen regelrecht sakralen und beschwörenden Tonfall: "But that will not change your sacriful fate!"
Sie blickte noch einmal Richtung Germanistik und in die andere Richtung, schien einen Moment lang etwas abzuwägen. Dann setzte sie sich in Bewegung und verschwand auf der Rubenowstraße Richtung Norden, Anne hinterher.
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Hallo liebe Leserinnen und Leser, wie es aussieht, bahnt sich ein endgültiger Showdown an.
Anne und Tobias sind zu ihrer "letzten Prüfung" aufgebrochen, wie es der Professor formuliert hat. Das Ende der Geschichte kommt damit in Sichtweite.
Man kann wohl erahnen, dass es nicht so einfach sein wird, die Gegenstände zu erhalten. Werden Anne und Tobias es trotzdem schaffen?
Die Gestalt am Ende des Kapitels wird dabei wohl sicher nicht tatenlos zusehen. Zum ersten Mal zeigt sich hier der Gegenspieler der Drei. Doch wer ist das eigentlich? Da wartet mal schön ab 😁
Ich bin jedenfalls froh, dass ich die Geschichte endlich weiter vorantreiben konnte.
Die letzten Kapitel, die jetzt noch folgen, hab ich auch schon bereits als Plot. Der Endspurt ist also eingeleitet. Ich hoffe, ich kann euch weiter mit der Story begeistern. Das Finale ist nah! 😊😉
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