18. Eine gruselige Geschichtsstunde II - Alessa und die Otherworld

Der Professor bewegte sich etwas unruhig hin und her, sammelte sich für den nächsten Teil des Puzzles, den er Anne und Tobias servieren musste.
Er wollte schon beginnen zu sprechen, brach aber sofort ab, stand dann lieber auf und entschloss sich, vor dem Schreibtisch auf und ab zu gehen.

"Alessa ist der Schlüssel, um all das hier zu verstehen", begann er seine Erklärung. "Ihre Kräfte und ihre Verbindung zur Otherworld haben für all das hier gesorgt." Er zeigte ausladend um sich und machte bewusst eine Pause, damit Anne und Tobias dies sacken lassen konnten.

"Was?!", meinte Tobias erschrocken. Mehr konnte er nicht sagen. Anne starrte den Professor nur mit aufgerissenen Augen an.
"Lassen Sie mich das eins nach dem Anderen erklären", beschwichtigte Jonathan Hayden. Er hatte mit seinen ersten Worten nur nach einem Anfang gesucht, mit denen er seinen Zuhörern die Alessa-Geschichte verständlich machen konnte.

"Es ist so", setzte er an und ging weiter bedächtig vor dem Schreibtisch hin und her, "Alessa Gillespie zeigte von Anfang an besondere Kräfte, mit denen sie sowohl Gutes aber auch Böses tun konnte. Allein schon ihre Herkunft ist ein Rätsel. Man weiß bis heute nichts von ihrem Vater. Es ist nicht bekannt, dass Dahlia Gillespie mit jemandem längere Zeit zusammen war. Sie selbst hat auch stets dazu geschwiegen. Sie genoss es, aus ihrer Tochter dadurch ein noch größeres Geheimnis zu machen."

Anne und Tobias schnauften einmal durch. Der Professor sagte indes: "Es gab schließlich nicht wenige Anhänger, die sogar glaubten, dass ihr Gott selbst Alessas Vater war. Doch auch dazu sagte ihre Mutter nichts. Die Kräfte waren aber schon als Kleinkind nicht übersehbar."

"Was waren das denn für Kräfte?", wollte Anne wissen.
Der Professor blieb stehen und sah sie an. "Nun, zum Beispiel konnte sie mit bloßer Gedankenkraft Dinge bewegen. Nicht nur kleine Sachen, wie Bleistifte oder ihre Spielsachen. Nein, ich rede auch von Stühlen, Tischen oder sogar Schränken."
Tobias und Anne staunten nicht schlecht.

"Dann konnte sie auch Dinge verschwinden und wieder auftauchen lassen", erzählte der Professor weiter. "Well - das kannte man schon von Dahlia, aber für eine Grundschülerin in der ersten Klasse war das doch recht ungewöhnlich."
Anne und Tobias konnten nur gebannt nicken.
Jonathan Hayden schaute indes an die Decke, überlegte und meinte dann: "Einmal hat sie wohl den Papagei eines Lehrers vor den Augen der Klasse in einen Käfig eingesperrt - und das, obwohl sie den Vogel nicht berührte und sie gar keinen Schlüssel für den Käfig besaß. Der Vogel saß plötzlich einfach so im Gehäuse."

Tobias und Anne guckten irritiert. 'Was ging nur mit dieser Alessa ab?', dachte Anne.
"Doch das Schlimmste...", setzte Jonathan Hayden dann an, "war ihre Vorstellungskraft..."
Dem Professor fröstelte es sichtbar. Er holte den Talisman hervor, vergewisserte sich vorsichtig, ob das Sonnenkranz-Symbol noch in Rot zu sehen war. Doch das Symbol war jetzt wieder schmucklos grau. Er suchte den Blick zu den beiden Studierenden, die aber nichts dazu sagten, ihn nur gebannt anstarrten, in der Gewissheit, dass er das gleich erklären würde.

"Well - es ist so, dass Alessas Gedankenkraft überaus groß war. Deshalb konnte es geschehen, dass sie sogar Dinge herbeirufen konnte, verstehen Sie?" Der Professor wechselte einen Blick mit Anne und Tobias. "Schreckliche Dinge", ergänzte er dann.
"Die Otherworld!", rief Tobias schlagartig aus. "Stimmts?! Sie sagten vorhin, sie konnte die Otherworld allein durch ihre Gedanken herbeirufen."
Jonathan Hayden nickte. "Yes, that's right", meinte er müde, "und doch ist das nur die halbe Wahrheit." Er sammelte sich für die nächste Erklärung, die nun unvermeidlich war.

Dann sprach er weiter: "Wie ich schon sagte, hatte Alessa eine Verbindung zur Otherworld. Aber anders als bei Dahlia konnte sie nicht nur dorthin verschwinden und zurückkehren - oh no. Ihre Fähigkeiten gingen viel weiter. Sie konnte z.B. ein beliebiges Monster in der Schule erscheinen lassen. Oder sogar einen ihrer Mitschüler in die Otherworld verschwinden lassen."

"Was?!", rief Anne und fasste sich erschrocken an die Brust, "das ist ja schrecklich!"
Der Professor nickte einmal langsam. "Aber leider ist genau so etwas in Alessas Nähe geschehen."
Tobias schnaubte und schüttelte den Kopf. Er wusste einfach nicht mehr, was er dazu sagen sollte.
"Aber wie ich auch schon sagte, lag das an Alessas starker Vorstellungskraft. Denn so schrecklich die Otherworld auch sein mag: sie ist noch nicht die andere Welt des Wesens. Sie wird nur geboren durch unsere Gedanken."

"Wie? Was?", riefen Anne und Tobias fast gleichzeitig. Beide hatten das Gefühl, gerade irgendetwas verpasst zu haben.
"Wie sollen wir denn das verstehen?", meinte Anne. "Sind wir nur in Gedanken hier?"
"Es ist klar, dass Sie das erschreckt", meinte Jonathan Hayden, "doch es ist nun an der Zeit ihnen das zu erklären. Denn um zu verstehen, was Alessa hat bewirkt, muss erst verstanden werden, was es hat auf sich mit the Otherworld."

Anne und Tobias starrten den Professor geradezu an. Gut, sie waren bisher nicht unbedingt fest davon ausgegangen, dass die Anderwelt - wie Tobias sie getauft hatte - auch die Welt des Wesens war. Aber dass diese Welt nur in ihren Gedanken existieren sollte, kam jetzt ziemlich unerwartet.
Jonathan Hayden erkannte, wie verstörend seine Mitteilung auf die beiden Studis wirkte. "Verstehen Sie das richtig", sagte er sogleich zaghaft und hob beruhigend die Hände, "wir alle sind wirklich hier und wir erleben dies alles auch. Aber alles, was wir sehen, erschafft das Wesen aus unseren Gedanken."
Anne und Tobias starrten ihn nur weiter verstört an.

Der Professor suchte nach den richtigen Worten auf Deutsch. "Es ist eine Art... eine Art... andere Dimension", meinte er dann. "Wir sind verschwunden aus unsere Welt und sind geraten in diese andere Dimension, die wir kennen als the Otherworld."
Tobias und Anne konnten nur fassungslos gucken.
Jonathan Hayden verstand ihren Unmut. Es war für jemand Neues immer schwer, die Wahrheit über die Otherworld zu begreifen und dann auch noch zu akzeptieren.

"Sie werden das gleich selbst verstehen, wie ich das meine", sagte Professor Hayden mit einem möglichst beruhigendem Tonfall. "Bevor ich Ihnen das näher erkläre, möchte ich Sie zwei um etwas bitten: erzählen Sie mir doch bitte jeder von sich aus, wie Sie erlebt haben the Otherworld."
Anne und Tobias wirkten irritiert. Sie hätten eigentlich erwartet, dass der Prof Ihnen jetzt gleich mehr erklärt und nicht, dass sie etwas erzählen sollen.
"Kommen Sie", ermunterte sie der Professor, "die Zeit sollten wir uns nehmen. Außerdem hatten wir noch gar nicht gehabt die Gelegenheit, darüber zu sprechen, was Sie zwei durchzumachen hatten until now."

Tobias und Anne sahen sich an. Das stimmte. Seit sie den Professor getroffen hatten, waren sie nur auf der Flucht vor dem Bösen gewesen. Wenn es helfen konnte, zu verstehen, was hier wirklich abging, sollten sie vielleicht über diese schrecklichen Dinge sprechen. Außerdem waren sie es Jonathan Hayden schuldig, zu erklären, was seine Retter hinter sich hatten.
Also erzählten Anne und Tobias der Reihe nach, was sie beide vor dem Treffen mit dem Professor erlebt haben. Dabei wechselten sie sich mehrmals ab. Jonathan Hayden setzte sich - fast schon wie ein typischer Schullehrer - halb auf seinen Schreibtisch und hörte aufmerksam zu, wobei er sich bedächtig ans Kinn fasste. Nur zwei, drei Mal unterbrach er Anne oder Tobias und hakte wegen etwas nach - meist wegen eines Monsters oder Rätsel.

Nach etwa einer Viertelstunde hatten die beiden Studis die unheimlichen Dinge erzählt. Erst beim Sprechen darüber hatten sie gemerkt, wie diese grauenhaften Geschehnisse immer noch auf sie einwirkten. Aber es wirkte auch befreiend, dies einem anderen Menschen zu berichten. Und dies trotz der Tatsache, dass Tobias und Anne Einiges voneinander zum zweiten Mal hörten.

Jonathan Hayden nickte sie wissend mit gesenktem Kopf an. Er ließ bewusst eine Pause entstehen, um Beiden noch kurz die Gelegenheit zu geben, das Erzählte sacken zu lassen.
Dann meinte er: "Very interesting - das muss ich schon sagen. Aber ich kann Ihnen nun auch etwas über sich selbst verraten, das ich habe herausgehört aus Ihrem Erlebten."
"Was???", fragte Tobias ungläubig. "Wie???", wunderte sich Anne.

Der Professor stand auf, trat vor Tobias und sagte: "Kommen wir zunächst zu Ihnen, Toby. Sie interessieren sich für die Alte Geschichte - in erster Linie das antike Griechenland, right?"
"Ja, ja - das stimmt", antwortete Tobias nachdenklich. Langsam dämmerte ihm, worauf der Professor hinaus wollte.
"Und Sie, Änn", sagte Hayden und trat nun vor Anne, "mögen Krankenhaus-Serien und stehen vermutlich auf die Filme von Walt Disney. Na - kann das vielleicht sein?"
Anne riss die Augen auf. "Ziemlich genau sogar", staunte sie verblüfft.

Professor Hayden wandte sich um, ging zum Tisch, drehte sich zu den Beiden um und sah sie abwechselnd an. "Verstehen Sie", begann er dann, "Sie haben beide jeweils Dinge gesehen und erlebt, mit denen Sie sich in Ihren Gedanken oft schon beschäftigt haben. Weil Toby sich für das antike Griechenland interessiert, tauchten bei ihm diese Zerberus-Hunde auf und diese Gargoyl."
Tobias erstarrte halb und begann zugleich erkennend zu nicken. "Und schließlich sogar ein Zentaur...", fügte er nachdenklich hinzu. "Precisly", stimmte Hayden sofort zu.

"Ach du Schreck, jetzt versteh ich", platzte es aus Anne nun heraus, "und bei mir waren es Krankenschwestern, Ärzte und mutierte Disney-Figuren, weil ich mich dafür interessiere. Ist das so?" Der Professor suchte sogleich ihren Blick und stimmte ohne zu zögern zu.
Anne schüttelte langsam den Kopf, schluckte und meinte dann: "Oh Mann - was für eine kranke Scheiße ist das denn?!" Ihr Blick wurde sogleich etwas weicher, um sich für die Wortwahl zu entschuldigen, doch Professor Hayden konnte sie gut verstehen.

"Begreifen Sie nun?", setzte er nach, "es ist, wie ich es schon versucht hab zu erklären: alles, was man erlebt in the Otherworld, erschafft das Wesen aus unseren Gedanken."
Jetzt musste auch Tobias schlucken. Ihm wurde gerade ziemlich mulmig.
Der Professor sammelte seine Gedanken, dann fuhr er weiter aus: "Dieses Wesen", meint er  bedächtig, "kann irgendwie in unsere Gedanken schauen und unsere schlimmsten Alpträume ausfindig machen und zum Leben erwecken. Vermutlich ernährt es sich sogar von unserer Angst über diese Dinge. Auf jeden Fall absorbiert es diese Ängste und kann sie irgendwie real werden lassen. Und all dies wird möglich in diese andere Dimension, die wir kennen as the Otherworld."
"Oh nein", entfuhr es Tobias erschrocken, "das darf doch nicht wahr sein!" Anne starrte den Professor nur entsetzt an.

Jonathan Hayden seufzte schwer, nickte die Beiden mitleidig an und antwortete schließlich: "Leider doch. Und das ist noch nicht einmal die ganze schreckliche Wahrheit. Denn weil jeder hat andere Ängste und Gedanken, erlebt jeder eine andere Otherworld."
"Wie? Was?", riefen Anne und Tobias fast gleichzeitig erschrocken.
Jonathan Hayden nickte bedeutsam. Dann erwiderte er: "Selbstverständlich. Sie beide haben es doch selbst erlebt und mir erzählt: in Änn's Welt gab es nur das Klinikum, aber keine Bibliothek. Und bei Ihnen, Toby, war es genau umgekehrt. Jeder war in seiner eigenen Otherworld."

Tobias und Anne sahen sich ungläubig an. Was der Professor erzählte, schien völlig verrückt zu klingen. Andererseits hatten sie sich nach ihrem Zusammenfinden ja schon selbst die Frage gestellt, wie es sein konnte, dass sie beide die Umgebung so gegensätzlich wahrgenommen hatten.
Tobias überlegte. "Das heißt, ich hätte Anne zu dem Zeitpunkt gar nicht finden können?", fragte er unsicher.
"Nein", erwiderte Jonathan Hayden mit Gewissheit, "das war nicht möglich. Sie waren in ihrer eigenen Otherworld gefangen, so wie Anne in ihrer."
Tobias konnte nur den Kopf schütteln über diese neuen Erkenntnisse. "Das wird ja alles immer verrückter", gab er laut von sich.

"Aber warum sind wir jetzt wieder vereint?", meldete sich nun Anne zu Wort, "und warum sind wir hier bei Ihnen?"
"Well - ganz einfach", antwortete Mr. Hayden sogleich, "Sie wurden, wie soll ich sagen, hierher versetzt. In meine Otherworld."
Anne und Tobias rissen die Augen auf. "Ihre Otherworld?", fragte Anne.

"Natürlich", antwortete der Professor selbstsicher und schien fast ein Lächeln auf den Lippen zu haben. "Ich bin - zum Beispiel - ein Fan von dem Film Ghostbusters", erklärte er weiter, "und deshalb sind Sie getroffen auf den Marschmellow-Mann."
Die beiden Studis hörten staunend zu und konnten schließlich nur langsam erkennend nicken.
"Und ich interessiere mich natürlich für Geschichte und habe vor meiner Ankunft hier mich beschäftigt mit der Geschichte der Region." Er machte eine Pause und sah seine Zuhörer fester an. "Deshalb ist wohl erschienen der Greif", meinte er bedächtig. "Er ist das Wappentier der Region und natürlich auch von diese Stadt." Dem Professor fröstelte bei der Erinnerung an dieses besondere Monster. Er sah, dass es Anne und Tobias in diesem Moment nicht anders erging. "Aber diese Version, die wir haben gesehen" fügte Hayden mit ernstem Tonfall hinzu, "würde wohl keiner freiwillig haben wollen als Wappen."

Tobias nickte. "Jetzt wird mir Einiges klar", sagte er leise. Und doch blieben noch viele Fragen. Auch Anne schien das zu denken, denn kurz darauf sprudelte es aus ihr heraus: "Aber was sollten all die Rätsel? Und warum wurden wir plötzlich zu Ihnen versetzt? Und was hat diese Alessa mit all dem zu tun?"
Jonathan Hayden nickte nur, hob beruhigend beide Hände und sagte nach einer kurzen Pause: "Ich kann Ihren Unmut gut verstehen. Es ist immer schwer zu akzeptieren, was die Otherworld eigentlich ist. Aber Sie sollen nun auch den Rest zu dem Ganzen erfahren."
'Na, da bin aber mal gespannt', dachte Tobias, verschränkte die Arme vor sich und sah den Professor interessiert an. Auch Anne's Körperhaltung drückte Ähnliches aus. Viel Schlimmeres als bisher würde Ihnen der Professor ja wohl nicht mehr auftischen können.

Jonathan Hayden schnaufte einmal durch, erhob sich vom Tisch und begann wiederum, ein wenig auf und ab zu gehen.
"Zunächst muss ich Folgendes erklären", begann er einleitend, "es gibt gewisse Regeln in dieser Otherworld, an die scheinbar auch das Wesen gebunden ist." Er suchte kurz den Blick mit den Beiden, dann sprach er weiter: "Fangen wir dazu mit etwas an, das Sie schon bemerkt haben: Es gibt zwei Ebenen der Otherworld. Auf der ersten Ebene sieht alles noch etwas normaler aus. Auffällig ist nur der Nebel. Auch die Zahl der Monster ist noch geringer. Like this." Er zeigte um sich herum in den Raum und aus dem Fenster.

Anne und Tobias nickten verständig. Die harmlosere Anderwelt. Die sie beide unabhängig Nebel-Welt getauft hatten.
"Dann ist da die zweite Ebene", sprach Hayden mit düsterem Tonfall weiter. "Viel mehr Monster und auch mehr Abgründe. Es ist ständig dunkel. Die Welt scheint aus den Fugen. Und alles ist irgendwie verbrannt. Selbst der Fußboden ist nicht mehr aus Stein, sondern nur noch aus Metall. Oder", setzte er nach, blieb stehen, sah sie ernst an und ergänzte "er fehlt gleich völlig."

Tobias und Anne fühlten sich bestätigt und nickten.
Der Professor setzte sich wieder in Bewegung und nahm seine Gedanken erneut auf. "Auf dieser zweiten Ebene", sprach er dozierend, "hat das Wesen einen sehr starken Zugriff auf unsere Ängste. Daher tauchen auch mehr Monster auf. Es scheint, als ist man in dieser Version der Otherworld auch näher an dem Wesen, als auf der ersten Ebene." Der Professor schaute bei diesen Worten nur nach vorn, immer in die Richtung, in die er gerade ging. Anne schien es so, als waren diese Worte seine eigene Erklärung für das Ganze, die er sich irgendwann mal gebildet haben muss.

"Und wenn man erst länger ist auf dieser zweiten Ebene", fuhr Hayden indes fort, "bündelt das Wesen unsere Ängste und erschafft ein besonders starkes Monster, das für uns auch ist ein besonders schlimmer Alptraum."
Der Professor hielt inne, blickte wiederum Anne und Tobias abwechselnd an, bemerkte ihren interessierten Gesichtsausdruck und meinte: "Daher trafen Sie, Toby, auf den Zentauren und Sie, Änn, auf diesen Arzt."
"Verstehe...", murmelte Tobias. Auch Anne begriff sofort. Allmählich war nicht mehr zu verkennen, dass alles, was sie hier erlebten, gar nicht so verwirrend und wahllos ablief, wie sie es beide vermutet hatten. Alles schien einer bestimmten Struktur zu folgen.

Der Professor nickte den Beiden zu. "Und hier in meiner Version der Otherworld", fuhr er dann fort, "trafen wir zusammen auf den zweiköpfigen Greifen." Er  machte eine Pause, aber Anne und Tobias sagten nichts dazu. Jonathan Hayden konnte erkennen, dass sie bereits gerade selber zu diesem Schluss kamen.
"Mit dieser Konfrontation will das Wesen einen endgültig - wie heißt es auf Deutsch... in die Kniee zwingen. Aber wenn man es schafft, den Alptraum zu überwinden, gibt es eine Art Belohnung. Man entrinnt dem Wesen ein Stück weit und wird wieder versetzt auf die erste Ebene der Otherworld."

"Aha", meinte Tobias erhellend. "Guck an", gab Anne von sich, "deshalb sind wir jetzt auch wieder in dieser harmloseren Nebel-Welt. Weil wir den Greifen besiegt haben." Anne erinnerte sich, wie der Professor etwas Ähnliches nach der Rückkehr in die Nebelwelt gesagt hatte.
"That's right, Änn", antwortete Jonathan Hayden prompt, "durch den Sieg über diese Kreatur konnten wir die tiefere Otherworld verlassen und haben nun etwas Zeit für uns gewonnen. Like I said - es ist eine Art Belohnung für den Sieg über diese konzentrierte Form von Alptraum. Das ist eine der Regeln in der Otherworld, gegen die das Wesen nichts machen kann. Verstehen Sie?"

Natürlich verstanden Anne und Tobias es. Allerdings warf dies eine interessante Frage auf. "Was...", fing Tobias an, hüstelte und fuhr fort, "was passiert eigentlich, wenn man gegen diese schlimme Kreatur verliert? Oder überhaupt gegen eine der Kreaturen?"
Der Professor hatte geahnt, dass diese Frage irgendwann kommen würde. Er schaute Tobias konzentriert an, sammelte sich kurz und antwortete ernst: "Nun - mit dieser Frage sollten Sie sich lieber gar nicht erst beschäftigen." Er warf Beiden einen verschwörerischen Blick zu. "Wie ich schon erwähnte - wir sind wirklich hier und nicht nur in Gedanken. Jede Verletzung, die wir hier bekommen, ist echt. Muss ich weitersprechen, Toby?" Er zog eine Augenbraue hoch.
Tobias schüttelte langsam aber sicher den Kopf. Ihm reichte die Antwort völlig. Anne schluckte trocken, wagte ebenfalls, kein weiteres Wort dazu zu sagen.

Der Professor schaute weiter konzentriert, war innerlich aber ein wenig erleichtert. Das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnten, waren die Gedanken an ein vorzeitiges Ende oder ob sie hier überhaupt noch herauskamen. Sie mussten konzentriert bleiben und sich mit dem Ausweg aus dem Ganzen beschäftigen anstatt mit den tausend Möglichkeiten, hier für immer gefangen zu bleiben oder umzukommen.

Jonathan Hayden riss sich von den Gedanken los, begann wieder auf und ab zu gehen. "Etwas Anderes, dass möglich ist in the Otherworld", setzte er seinen Bericht fort, "ist die Tatsache, dass auch wir selbst können Dinge aus dem Unterbewusstsein real werden lassen."
"Was?", fragte Tobias ungläubig. "Okay?", meinte Anne skeptisch.
"Natürlich", antwortete Hayden selbstsicher und schien fast ein wenig zu schmunzeln. "Sie haben es doch auch erlebt."
Die beiden Studis schauten leicht irritiert. 

"Nun gut", wandte der Professor ein, "wir können das nicht so, wie das Wesen. Und doch können wir die Otherworld beeinflussen. Denn während wir dort sind, sucht unser Unterbewusstsein andauernd nach einem Ausweg aus diese gefährliche Situation. Wenn man sich dann zusammenreißt, gewinnen diese Gedanken von Zeit zu Zeit die Oberhand." Er schmunzelte leicht und sah sie zugleich fest an. "Sie hatten mich gefragt nach diese Rätsel. Wissen Sie, woher die kamen? Das waren positive Gedanken aus Ihrem Unterbewusstsein. Auf die gleiche Weise kamen Sie auch zu diesen Waffen."

Jetzt staunten Tobias und Anne. "Ist ja'n Ding!", rief Anne aus. Jonathan Hayden nickte sie bestimmt an. "Ja - genau so ist es gewesen", meinte er überzeugend. "Und wie bei den alptraumhaften Monstern spielen bei diesen Dingen unsere Interessen eine Rolle. Deswegen tauchte bei Toby dieses antike Rätsel mit Herkules auf und bei Ihnen, Änn, diese Bogen von einem Film, den Sie anscheinend gern mögen."
Anne und Tobias guckten verblüfft. Wieder wurde ihnen Einiges klarer. Tobias konnte sich ein erstauntes Lächeln nicht verkneifen. Dass bei ihm ein antiker Speer auftauchte und dann noch mit lateinischer Bezeichnung, sprach ja geradezu Bände für seine Gedankenwelt. Auch Anne dachte gern an den Moment zurück, wo sie plötzlich den echten Bogen von Katniss in den Händen hielt. Sie verstand allmählich, worauf der Professor hinaus wollte: offensichtlich gab es auch positive Überraschungen in der Otherworld.

Jonathan Hayden erkannte ihre innerliche Reaktion und ergänzte: "Verstehen Sie? Diese Rätsel und auch diese Waffen sind erschienen, weil Sie sich im Unterbewusstsein so etwas gewünscht hatten. Nicht nur das Wesen kann also Dinge aus unsere Unterbewusstsein real werden lassen. Auch wir können das. Solange wir uns nicht von der Angst verunsichern lassen, die das Wesen bei uns auslösen will." Das Letzte sagte er mit einem gewissen beschwörenden Tonfall.
"Nicht schlecht", meinte Anne in einem hoffnungsvollen Tonfall. "Immerhin etwas", meinte Tobias dazu.

"Und das ist noch nicht alles", meinte der Professor daraufhin. "Mit unsere Gedanken können wir auch unseren Aufenthaltsort in the Otherworld verändern. Und deshalb sind Sie zwei auch in meine Otherworld versetzt worden. Sie waren diese Reise angetreten, um mich zu finden. Und der Wunsch danach muss so stark in Ihren Gedanken gelegen haben, dass Sie wurden nach dem Sieg über Ihre Alpträume hierher versetzt in meine Version of the Otherworld."
Wieder staunten Tobias und Anne nicht schlecht. Für einen Außenstehenden würde sich dies Alles vermutlich total abstrus anhören, aber für Anne und Tobias erklärte es Vieles, was sie bisher erlebt hatten.

Jonathan Hayden erkannte erfreut, dass er mit diesen positiven Erklärungen den beiden Studis gerade ein Stück weit die Angst vor der Otherworld nehmen konnte. Das war für das Vorhaben, was noch zu tun war, ganz gut so. Für jeden Neuling waren die Kenntnisse über die Otherworld immer erschreckend, aber auch immer zugleich interessant. Er selbst hatte damit schon etwas mehr Erfahrung. Er wusste, dass der Orden diese ganzen Abläufe in der Otherworld, die allein durch Gedanken möglich sind, Otherworld Rules nannte - die Otherworld-Gesetze. Mit dem normalen Menschenverstand waren diese nicht zu begreifen.

Der Professor setzte sich wieder auf den Schreibtisch und sammelte sich für den letzten Teil der Erklärungen. "Was in der Otherworld passiert, hängt also zusammen mit unsere eigenen Gedanken. Und damit komme ich nun zurück auf Alessa Gillespie und ihre ungeheure Vorstellungskraft. Damit konnte sie die Otherworld viel schneller und komplexer entstehen lassen als irgendein anderer Mensch. Und natürlich konnte sie dort auch mehr bewirken als irgendjemand Anderes. Und dies ist gemeint zum Guten und zum Bösen."
Anne und Tobias fröstelte. "Alessa hat auch schon früh eine starke Verbindung zu dem Wesen geschaffen", berichtete der Professor mit verschwörerischem Tonfall weiter. "Und das Wesen hat natürlich gespürt ihre besondere Kraft, mit der es selbst viel mehr bewirken konnte und stärker in unsere Welt vordringen konnte."

Jonathan Hayden fröstelte es nun selber. Er musste einmal husten, bevor er fortfuhr: "Alessa muss auf das Wesen wie ein Katalysator gewirkt haben. Es konnte die Geschehnisse der Otherworld leichter auf unsere Welt übertragen und sah eine Möglichkeit, durch sie in unsere Realität zu gelangen. Und auch Alessa scheint umgekehrt durch die Verbindung Kräfte von dem Wesen erhalten zu haben. Wie in eine Art Symbiose - verstehen Sie?"
Tobias schluckte. "Oh Mann...", konnte er nur halblaut hervorbringen. Anne schüttelte lediglich mit großen Augen den Kopf.
"Alessa selbst aber wurde von diesen Empfindungen überwältigt", erzählte der Professor weiter, "schließlich war sie doch erst fünf oder sechs Jahre alt.  Ein Teil ihrer Persönlichkeit wollte diese Macht. Der andere Teil wollte einfach nur weiter ein Kind sein, das spielte. Sie fühlte sich - wie heißt es in Ihre Sprache - hin- und hergerissen."

"Oh je...", meinte Anne leise. Tobias seufzte beklommen.
Jonathan Hayden nickte sie beide wissend an. "Der Versuchung, die Macht gegen jemanden zu verwenden, widerstand sie zunächst ganz gut", meinte er als Nächstes, "aber ihre Mitschüler hatten natürlich bald bemerkt ihre Kräfte und hänselten sie deswegen. Alessa wollte sich irgendwie dagegen wehren und nutzte ihre neue Macht. Und so rief sie diese Monster in die Schule herbei oder ließ jemanden verschwinden in the Otherworld."
Tobias und Anne schluckten. Dass Alessa dergleichen getan hatte, hatte der Professor vorhin schon erwähnt. Langsam begriffen sie, wie es überhaupt dazu kommen konnte.
"Durch diese Dinge wurde der dunkle Teil von Alessa's Persönlichkeit immer größer", fuhr Professor Hayden mit ernstem Tonfall fort. "Aber dann geschah das schreckliche Ereignis, durch das Alessa schließlich ganz Silent Hill in die Otherworld stürzte."

Anne und Tobias waren wie elektrisiert und starrten den Professor gebannt an. "Was...", begann Anne, doch versagte ihre Stimme sogleich. 'Was war denn geschehen?', wollte sie eigentlich fragen.
Jonathan Haydens Gesichtsausdruck nahm eine grimmige, fast wütende Form an. "Ihre verrückte Mutter und der Orden glaubten fest daran, dass das Wesen durch Alessa geboren werden kann, wenn man sie bei einem bestimmten Ritual verbrennt. Also hat diese verfluchte Dahlia ihre eigene Tochter bei lebendigem Leib in Brand gesetzt..." Der Professor musste schlucken. Dieser Teil der Geschichte kam ihm selbst heute noch immer schwer über die Lippen.
"Oh nein!", rief Anne laut aus, "wie kann man nur!" Auch Tobias war empört. "Ja, wo gibt's denn sowas?!", schnarrte er. Dieser Orden schien keinerlei Ethik zu besitzen und darüber hinaus total dumm und leichtgläubig zu sein.

Der Professor nickte, strich sich müde über die Augen. Er seufzte und fuhr fort: "Leider ist dies passiert. Doch zum Glück konnte dieses Ritual nicht vollendet werden. Aber Alessa... sie war total verbrannt und entstellt." Jonathan Hayden schluckte. Anne wischte sich eine Träne fort. "Doch das Schlimme war: Alessa konnte nicht sterben. Durch die Kräfte des Wesens blieb sie am Leben und litt qualvolle Schmerzen. Man könnte sagen, es war ein Martyrium. Sie durchlebte alles immer und immer wieder, träumte die schrecklichsten Träume und verfluchte die Menschen, die ihr das antaten."
Anne und Tobias konnten den Professor nur erschrocken anstarren.

"Und dadurch passierte es dann", sagte Jonathan Hayden nun, "aus großer Wut heraus aktivierte Alessa ihre Kräfte in sehr großem Maß und stürzte ganz Silent Hill in die Otherworld. Alle Bewohner mussten plötzlich ihre eigenen Alpträume erleben und trafen zugleich auch auf die Monster von Alessa's Alpträumen. Es war sozusagen eine Strafe."
"Ach du Sch...", setzte Tobias an.
Der Professor nickte nur müde. "Durch den schrecklichen Brand war Alessa's Seele außerdem in zwei Teile geteilt worden", fuhr er fort. "Die dunkle Seite nutzt ihre Kräfte, um dem Wesen zu helfen. Sie schürt die Ängste in uns und lässt viel mehr Alpträume entstehen. Die gute Seite hilft hingegen dabei, dass die positiven Gedanken in uns an die Oberfläche kommen. Dass man also auf mehr Rätsel oder dergleichen trifft. Manchmal erscheint die gute Seite von Alessa einem sogar in der Otherworld - entweder als siebenjähriges Mädchen oder als Teenager."

Der Professor ließ bewusst eine Pause entstehen, damit Anne und Tobias das Gesagte verdauen konnten.
"Das ist ja... das ist ja wirklich ungeheuerlich", meinte Anne fröstelnd. Tobias wusste nicht, was er noch sagen sollte.
Jonathan Hayden nickte ihnen langsam zu. Er wusste, wie unglaublich dies alles klingen musste. Doch hatten beide Studis ja mit eigenen Augen inzwischen gesehen, was alles in der Otherworld möglich war.
Er beugte sich nun vor und meinte verschwörerisch: "Doch die echte Alessa gibt es bis heute nach wie vor noch. Niemand weiß genau, ob sie noch in Silent Hill ist oder anderswo. Aber sie ist immer noch am Leben."

Anne und Tobias fröstelte es spürbar. Worauf wollte der Professor hinaus?
"Und diese Kräfte des Wesens sind in jeder Faser ihres Körpers. Wo immer ein Teil von Alessa ist, kann sich das Unglück von Silent Hill wiederholen. Kann die Otherworld hervortreten."
Er blickte sie nacheinander fest an, schien drauf zu warten, dass sie mit seinen Worten etwas anfangen konnten. Schließlich zog Tobias die Augen zusammen und fragte schlussfolgernd: "Ein Teil von Alessa? Meinen Sie etwa den Talisman?"
Hayden nickte bedächtig. "Ganz recht, Toby. Der Talisman. Sie hatten mich öfter gefragt, warum er die Otherworld in Greifswald konnte hervorrufen. Es gab für mich von Anfang an nur eine Erklärung: der Talisman muss etwas mit Alessa zu tun haben. Und da ich hier zunächst einige Zeit darüber nachforschen konnte, was es hat auf sich mit diese Talisman, kenne ich nun die Verbindung."

Langsam, fast schon feierlich, zog der Professor den Anhänger hervor und hebte ihn für alle sichtbar vor sich in die Höhe. "Dieser Talisman", sagte er dann mit fester Stimme, "ist geschaffen worden aus dem Blut von Alessa."
Anne und Tobias waren wie vom Donner gerührt.

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