15. Das Böse bebt

Völlig entsetzt trat der Professor langsam von dem unförmigen Metallgitter-Fenster zurück. Noch immer den Blick unfassbar auf das Fenster gerichtet, rief er stockend aus: "Dort draußen... halo of the sun...!"

Anne und Tobias mussten schlucken und sahen sich schuldbewusst an. Doch wann hätten sie dem Prof die Sache mit dem Siegel auf dem Hof sagen können?

Der Professors schien von dem Geschehen überaus entsetzt zu sein. Er blickte mit zerfurchter Stirn zu ihnen und rief: "Wir müssen sofort raus hier! Dieses Siegel... in Flammenform! Etwas Schlimmeres gibt es nicht!"

"Was meinen Sie?", fragte Tobias erschrocken. Doch statt des Professors rief Anne dazwischen: "Tobi, sieh mal!" Sie berührte ihn mit der linken Hand an der Schulter und zeigte mit der rechten auf die Wand.

Daraufhin bemerkte Tobias es auch. Das unförmige Loch aus Metall breitete sich unerklärlicherweise plötzlich aus. Auch an anderen Stellen platzte die Wand förmlich auf und offenbarte metallische Wände oder Eisengitter darunter. Mit unglaublicher Miene sahen sich Anne und Tobias um und stellten fest, dass überall im Raum Stellen aufplatzten und sich im gesamten Hörsaal ausbreiteten. Jetzt hörten sie alle auch die merkwürdigen, reißenden und zersetzenden Geräusche, die mit dem Abblättern und Aufplatzen der Wände einherging.

Jonathan Hayden war derweil entsetzt weiter rückwärts von der Wand weggegangen und staunte erstarrt, als er die aufplatzenden Stellen sah. Plötzlich gab er sich einen Ruck und schaute erregt auf den Talisman in seiner Hand.
Das eingravierte Symbol, das bisher nur schwach zu sehen war, nahm allmählich wieder deutlich Gestalt an. Es war jetzt aber plötzlich in einem starken Rotton zu sehen und nicht in Grau. Der Professor starrte auf die blutrote Gravur, die nun sogar leicht zu leuchten begann.
'Alessa!', dachte er entgeistert.

Er wollte gerade etwas sagen, als plötzlich eine Art Erdbeben einsetzte. Der Boden ruckelte wie wild. Anne schrie auf und stürzte dann der Länge nach hin. Auch Tobias konnte sich nicht halten, fiel auf seine Knie und stützte sich mit den Armen am Boden ab. Der Professor sackte zusammen, konnte sich aber auf ein Knie abfedern.

Während alles um sie wackelte, einschließlich sie selbst, hörten und bemerkten sie, wie sich die metallenen Stellen im gesamten Hörsaal unter Begleitung dieser reißenden Geräusche ausbreiteten, die einen unwillkürlich an Fresslaute erinnerten.
Die Otherworld "fraß" sich regelrecht in den Hörsaal, der bis eben noch halbwegs normal ausgesehen hatte.

Doch das Schlimmste war dieses Rütteln der Erde. Es war, als würde jemand das gesamte Gebäude hin und her wackeln. Seltsamerweise fühlte es sich an, als käme es nicht vom Boden her, sondern irgendwie von außen. Außerdem spürten alle drei zugleich dabei eine Art Fallen, so als würde das ganze Gebäude von unbekannter Höhe nach unten stürzen.

Das Herz des Professors raste. War das etwa schon das endgültige Hinüberdriften in die Otherworld? War etwa alles schon zu spät?

Tobias konnte nur erschrocken auf den Boden starren und dabei zusehen, wie das normale Hörsaal-Parkett sich auflöste und abblätterte und darunter der typisch metallene Gitterboden der Anderwelt zum Vorschein kam. Der Anblick verwirrte ihn, faszinierte ihn aber auch irgendwie. Er konnte das Ganze allerdings weder in Ruhe auf sich wirken lassen, noch etwas dazu sagen, denn er war die ganze Zeit damit beschäftigt, seine abgestützte Haltung auf Knien zu bewahren. Dieses Ruckeln in Verbindung mit dem Gefühl des Fallens war extrem heftig.

Anne hatte sich inzwischen vor Angst auf die Seite gerollt. Auch sie hatte das Schauspiel mit dem sich verändernden Boden mitbekommen. Daraufhin hatte sie die Augen geschlossen und hoffte seufzend, dass es bald vorbei sein würde. Sie hatte das Gefühl, dass sie einen Hörsturz bekam, so real fühlte sich dieses Fallen in die Tiefe an. War es vielleicht etwa auch real?

Ein paar bange Augenblicke später hörte das starke Ruckeln abrupt auf. Der Professor erhob sich langsam und sah sich um. Der Raum hatte sich komplett ins Bizarre verändert, doch für ihn kam das nicht überraschend. Er schaute auf Siegel des Ordens, das er immer noch in der Hand hatte. Halo of the sun war nach wie vor darauf deutlich in dem leuchtenden blutroten Ton zu sehen. Er zögerte erst, steckte sich das Symbol dann aber schnell in seine Hosentasche.

Auch Anne und Tobias rappelten sich auf und staunten nicht schlecht. Der gesamte Hörsaal sah jetzt genau so aus, wie sie es auch von den anderen Gebäuden der bizarren Otherworld her kannten: Die Wände waren allesamt aus Metallplatten, die stark verbrannt waren. Der Fußboden bestand aus engmaschigen, verrosteten Eisengittern und hatte an einigen Stellen jetzt sogar quadratische größere Löcher. Auch die Hörsaalbänke bestanden jetzt aus Metall. Zudem wirkte der ganze Raum von einer Sekunde auf die andere bedrückend dunkel.

Die drei standen einen Moment unsicher da und atmeten erst einmal kräftig durch. Dann meinte der Professor: "Lassen Sie uns jetzt schnell fort! Das brennende Siegel dort draußen... hat das Böse gestärkt!" Er wusste einfach nicht, wie er das Ganze möglichst kurz in Deutsch sagen sollte.

Doch Tobias und Anne sprangen sofort darauf an. Jetzt nach diesem Beben schlugen ihre Herzen geradezu berstend wegen des ausgeschütteten Adrenalins.
Anne nickte nur und wandte sich schnell Richtung Tür um. Tobias schnappte sich den Speer, der inzwischen auf den Boden gerollt war, und wollte dann auch zur Tür. Doch Professor Hayden trat auf ihn zu, das Tagebuch vor sich ausgestreckt. "Hier, Toby", sagte er, "stecken Sie das lieber wieder in ihre Jacke. Dort ist es zunächst am besten aufgehoben."
Tobias warf ihm einen verständigen Blick zu, nahm ihm das Buch ab und steckte es zurück in die Innenseite seiner Jacke, in der er es zuvor auch herum getragen hatte.

"Wo ist die Tür?", hörten sie im gleichen Moment Anne rufen. Hayden und Tobias traten zu der Metallwand, vor der Anne ratlos stand. Tatsächlich - dort, wo vorhin die hohe Hörsaaltür mit den zwei Flügeln aus Holz war, befand sich nun nichts weiter als die verrostete Eisenwand. Dank des rötlichen Feuerscheins von den Kerzen auf dem Altar und auch von draußen konnte man eindeutig sehen, dass keinerlei Anzeichen irgendeines Einganges oder einer metallenen Tür zu sehen war.

Anne stand wie elektrisiert vor der Wand, enttäuscht darüber, dass sie doch nicht so schnell herausstürmen konnte.
Tobias schaltete seinen Strahler wieder ein und leuchtete die Wand ab. "Da! Dort hinten!"
Der Professor und Anne schauten auf das hintere Ende des Hörsaals bzw. auf die eiserne Wand dort. Tatsächlich! Am anderen Ende des Hörsaals bei den hinteren Sitzreihen gab es nun einen kleinen eisernen Türdurchgang in der Wand aus Metall.

Jonathan Hayden staunte nicht schlecht. Auch er wurde immer wieder von solchen Überraschungen der Otherworld überrumpelt, obwohl er so etwas schon öfter erlebt hatte als diese zwei Studis. "Okay, dann müssen wir dort hinaus", meinte er bestimmend und ging an der Wand entlang zu der seltsamen kleinen Eisentür, die es in der normalen Welt dort eigentlich nicht gab.

Anne und Tobias ließen sich vom Enthusiasmus des Professors anstecken. Sie schüttelten den Moment der Überraschung ab und folgten dem Gelehrten mit schnellen Schritten.
Tobias überlegte laut: "Durch diese Tür müssten wir wohl in den Nachbar-Hörsaal kommen." War das nun der mit der Nr. 1 oder Nr. 3? Da er dort nie irgendwelche Sitzungen hatte, wusste er es einfach nicht.

Schon standen alle drei vor der schmalen Tür. "Wir müssen uns etwas... kleiner machen", meinte der Professor trocken, als er die Tür mit Augen maß.
Tobias zuckte nur mit den Schultern. Anne meinte: "Hauptsache, sie ist offen und wir kommen hier raus." Die Worte des Professors von eben hatten sie doch etwas unruhig gemacht. Wenn es tatsächlich stimmte, dass das Siegel in flammender Form das Böse der Anderwelt verstärkt hat, sollten sie endlich hier weg.

Zum Glück war die Tür offen. Mit einem nervenden Quietschen öffnete Jonathan Hayden sie langsam. Dann bückte er sich, ging hindurch und die beiden Studenten folgten ihm, ebenfalls in geduckter Haltung.
Der Raum war seltsam leer. Auch er bestand nun komplett aus metallenen Wänden und einem eisernem Gitterfußboden, doch alle Tische und Hörsaalbänke fehlten.
Bis auf einen einzelnen eisernen Tisch, der genau in der Mitte des Hörsaals stand und daher sofort ins Auge stach. Auf ihm brannten ein paar Kerzen, doch die waren nicht der Grund dafür, dass die drei ungleichen Gefährten sofort langsam an den Tisch traten.
Es war das seltsam aussehende Buch, das aufgeschlagen auf diesem eisernen Tisch lag. Egal, an welcher Stelle man den Raum betreten würde: dieser Tisch mit dem Buch zog die ganze Aufmerksamkeit auf sich.

Mit unsicheren Schritten näherte sich Jonathan Hayden dem Buch. Er hatte schon eine Ahnung, was das zu bedeuten hatte, gerade deswegen wollte er eigentlich nicht wissen, was darin zu lesen war. Doch die Neugier war stärker.
Auch Tobias trat mit klopfendem Herzen näher. Ihm waren die roten Verschnörkelungen aufgefallen, die von weitem auf den aufgeschlagenen Seiten des Buches zu sehen waren. Es erinnerte ihn an die Zeilen aus Blut, die er in der Bibliothek gefunden hatte.

Als er mit Anne neben den Professor trat, konnten sie sehen, dass tatsächlich jemand etwas in Blut dort hineingeschrieben hatte. Die Zeilen waren auf Englisch verfasst. Tobias bemerkte, dass der Prof neben ihm bereits mit erstarrter Miene zu lesen begonnen hatte. Daraufhin überflog er die Zeilen und übertrug sie im Kopf sogleich in ein möglichst passendes Deutsch.

In den Zeilen vor ihnen stand in etwa Folgendes:

Da erbebte alles um sie herum 
und ein mächtiger Greif mit zwei Köpfen
erhob sich mit flammenden Schwingen.

Der König und sein Ritter trachteten daraufhin,
dass Untier zu erledigen,
doch war es nicht zu bezwingen.

Den Pfeilen eines Bogens fehlten jegliche Wirkung und das Ungeheuer griff immer wieder aus der Luft an,
so dass kein Speer und kein Schwert es erreichen konnte.

Da holte der König seinen glitzernden Diamanten hervor
und warf ihm dem Greifen hin.

Dieser wurde wahrhaftig angezogen von dem besonderen Edelstein,
da er eine Schwäche besaß für jeden leuchtenden Schmuck.

Und so glitt er langsam herab und versuchte, 
ob er den Diamanten greifen könne.

Als der Ritter aber die List des Königs verstand,
eilte er auf das Untier zu
und stach ihm seinen Speer in die Flanken.

Daraufhin heulte das tödlich getroffene Tier auf
und stürzte sterbend zu Boden.

Kaum hatte Tobias zu Ende gelesen, war ihm ziemlich mulmig zumute. Er blickte zum Professor. Als er dessen Gesichtsausdruck sah, wusste er, dass der Prof die Zeilen auch gelesen und verstanden hatte. Mit angstvoller Miene betrachtete Jonathan Hayden das unheilvolle Buch.

"God heavens...", flüsterte er leise. Auch Anne überflog inzwischen die Passage und meinte dann: "Ich hoffe, dass hat keine tiefere Bedeutung." Die Worte kamen langsam und leicht brüchig aus ihrer Kehle, so als wollte sie keine Antwort darauf haben.

Tobias atmete einmal tief durch und meinte dann: "Wir müssen uns wohl auf etwas Schlimmes gefasst machen."
Der Professor nickte nur. Ähnlich wie Tobias wusste er, dass das Auffinden eines solchen Spruches selten einfach so passierte. Unruhe kam in ihm auf. Hektisch blickte er sich plötzlich um, doch nichts und niemand war zu sehen. 

"Okay, you two", meinte er dann möglichst selbstsicher, "dies ändert nichts an der Tatsache, dass wir müssen hier endlich heraus."
Anne und Tobias stimmten seufzend zu. Im nächsten Moment eilten alle Drei zu der Wand gegenüber den Fenstern. Dort war eine weitere Metalltür, durch die sie zurück auf den großen Flur kamen. Doch was würde sie dort erwarten?

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top