Kapitel III
Marilla
Als die ersten Sonnenstrahlen den Weg in das Dachzimmer, in dem Lucy und ich ein Matratzenlager aufgeschlagen hatten, fanden, öffnete ich verschlafen meine Augen. Ich mummelte mich wieder in meine Decke, die mich nur noch halb bedeckte. Gerade war ich fast wieder eingeschlafen, als es mir schlagartig einfiel. Heute war mein Geburtstag!!!!!
Ein Blick auf meinen Wecker sagte mir, dass es halb sieben war. Neben mir murmelte meine Schwester leise im Schlaf.
"Lucy! Aufstehen!" Ich schüttelte sie kräftig. Blinzelnd öffnete sie die Augen und sah gähnend auf den Wecker neben ihr. "Halb sieben? Spinnst du? Ich hab Ferien!" Sie verkroch sich tiefer unter ihrer Decke und drehte sich auf die andere Seite.
"Hey! Wir haben heute Geburtstag schon vergessen?"
"Trotzdem, haben wir auch noch den Rest des Tages und morgen. Jetzt lass mich endlich wieder schlafen."
Das stimmte eigentlich. Zwischen Lucys und meiner Geburt lagen zwar nur wenige Minuten, da ich aber kurz vor und Lucy um kurz nach zwölf geboren war, hatte sie eigentlich erst morgen, also am 22. Juli Geburtstag. Wir zogen es allerdings vor zusammen zu feiern, deshalb wechselten wir uns jedes Jahr mit dem 21. und 22. ab.
Ich seufzte und schlüpfte zur Tür hinaus, ein letzter Blick auf Lucy zeigte mir, dass sie bereits wieder eingeschlafen war. Leise schlich ich die Treppen hinunter. Auf halbem Weg lauschte ich noch kurz an der Tür, hinter der meine Eltern und Bo geschlafen hatten - Stille.
Das Wohnzimmer war ein einziges Chaos. Überall stapelten sich Kartons, nur das Sofa der Vormieter war noch relativ verschont worden. Ich wollte gerade auf meinem Stapel Kartons nach dem mit den Büchern suchen, als mich eine Melodie, die die Stille durchbrach, zusammenzucken ließ. Ich fühlte mich irgendwie ertappt, obwohl ich gar nichts Verbotenes getan hatte. Da erst realisierte ich, dass das Klingeln seinen Ursprung in einem Smartphone fand. Hoffentlich ist es noch nicht zu spät.
Ich rannte in die Küche, denn mein Handy lag auf der Küchenablage. Keuchend drückte ich auf Annehmen.
"Hallo, Marilla Friese?"
"Hallo Mary. Na, wie geht's meiner Madam? Alles Gute zum Geburtstag erst einmal... Und der Rest? Liegt noch in den Federn was?! "
"Oma! Ja, gut. Wir ha'm die Reise ganz gut überstanden..."
"Schön. Ich komme voraussichtlich um neun in Seydisfjördu an."
"Um neun! Schon so früh!"
"Tja, dann würde ich an deiner Stelle schleunigst mal die Schlafmützen, die sich deine Familie nennen, wecken... Bis später dann!"
"Tschüss"
"Achja, lasst mir bitte was zum Frühstücken übrig. Das Essen hier ist widerwärtig!"
***
2 Stunden später standen wir am Hafen von Seydisfjördu und warteten auf das Schiff mit dem unsere Großmutter ankommen würde.
"Bist du dir sicher, dass sie auch wirklich 9 Uhr gesagt hat?", fragte meine Mutter nun schon zum dritten Mal in Folge und gähnte. "Sie müsste schon seit 15 Minuten da sein."
"Jaaaa, wir stehen wahrscheinlich nur am falschen Dogg", stöhnte ich und gab ihr damit ebenfalls zum dritten Mal in Folge dieselbe Antwort.
"Da kommt sie!", quietschte Bo auf einmal und rannte ihr entgegen. Amanda Friese war eine rundliche Frau im Alter von 69 Jahren. Mit ihrem übermäßig großen Strohhut, dem Wanderrucksack und den bunten Tüchern, in die sie stets gehüllt war, hob sie sich stark von den anderen Touristen ab, die den Hafen entlang schlenderten. Nacheinander drückte sie uns alle fest und wir machten uns auf den Heimweg.
Erst beim Ausladen des Taxis fielen uns ihre zwei ledernen Reisekoffer auf, die nicht nur groß sondern auch noch ziemlich schwer waren.
"Meine Güte Mama!", meine Mutter runzelte die Stirn. "Wofür brauchst du das alles? Es sind doch nur zwei Tage. Du siehst aus als wolltest du eine Weltreise machen!"
"Zwei Tage? Ich wollte eine Woche bleiben. Habe ich das nicht angekündigt?" Sie sah uns verständnislos an, las dann aber an unseren Mienen ab, dass dem nicht so war. Sie zuckte mit den Schultern und meinte dann: "Nun gut. Dann wisst ihr es eben jetzt"
Lucia
"So, dann hol ich mal schnell die Torte"
Wir saßen am Gartentisch unter dem Kirschbaum, den Mary und ich vorhin eiligst noch mit ein paar Girlanden und Luftballons geschmückt hatten. Wir, das hieß Mary, Bo, unsere Eltern, die Nachbarn und ich -- auf Matilda und ihren Mann warteten wir noch. Die Björnssons hatten Mary und mir jeweils eine CD von Mark Forster geschenkt. Leider hatten sie auch nicht darauf verzichtet einen CD-Player mitzubringen. Ich hatte jetzt schon Kopfschmerzen und zweifelte nicht im Geringsten daran, dass unsere Musik bis ins Dorf zu hören war.
Meine Oma kam zurück aus dem Haus geschlurft und brachte die mit 26 Kerzen (für jeden von uns 13) bestückte und selbstgebackene Torte mit.
"...Ich lass Konfetti für dich regnen
Ich schütt dich damit zu,
Ruf deinen Namen aus allen Boxen,
Der beste Mensch bist du,
Ich roll den roten Teppich aus,
Durch die Stadt bis vor dein Haus..."
Wir überlegten ob wir mit dem Essen noch warten sollten, fingen aber nach einer Weile dann doch an und waren fast fertig als Matilda und Jakub dann doch noch in den Garten platzten.
"Entschuldigung! Wir hatten noch so viel im Laden zu tun!" Sie überreichte uns beiden ein in rotes Geschenkpapier eingewickeltes Päckchen mit blauer Schleife. "Wir haben hier noch eine Kleinigkeit für euch." Als ich es aufriss fielen zwei Schlüsselanhänger heraus. Sie stellten die berühmten Papageientaucher oder Lunde dar, die fast schon ein Wahrzeichen Islands waren.
"Ich hoffe doch sie gefallen euch. Wisst ihr, wir wussten nicht genau, was wir euch schenken sollen..."
Mary schüttelte den Kopf. "Nein, nein. Sie sind wirklich schön. Danke."
Um dem Lärm der Musik zu entkommen schlugen wir beide vor Besteck für Mathilda und Jakub zu holen und schlüpften durch den Wintergarten ins stille Haus. Die Abendsonne brach sich in den großen Fenstern des Wintergartens und der Lärm von draußen schien sehr weit entfernt.
"Wie halten die diesen Krach nur aus? So wie bei denen jeden Tag die Mucke wummert müssten sie doch alle Hörgeräte tragen. Bei Kjells Locken könnte man das ziemlich gut verstecken..."
Sie lachte. "Ja, aber ich mag sie irgendwie trotzdem. Sie sind so herzlich."
Und irgendwie musste ich feststellen, dass ich mich freute, die Björnssons als Nachbarn zu haben. Sie mochten vielleicht ein bisschen verrückt sein, aber im Grunde genommen waren sie herzensgute Menschen.
Da entdeckte ich die zwei orangenen Gerbera von unserer Oma, die wir vergessen hatten in eine Vase mit Wasser zustellen. Die eine Blüte sah schon ein bisschen schlapp und traurig aus. Ich schnappte mir mein Wasserglas, das noch auf dem Tisch stand und stellte die beiden Blumen hinein. Weil das Glas zu klein für die zwei Pflanzen war, kippten sie halb hinaus und der Stiel der einen knickte ab.
"Hey Lucy! Was machst du denn da?!" Mary kam mit dem Besteck für Mathilda und Jakub und einer Küchenschere zu mir herüber. "Du musst sie unten noch abschneiden, weil das Glas erstens zu klein ist und die Pflanzen zweitens unten ausgetrocknet sind und so kein Wasser bekommen."
Wir griffen gleich gleichzeitig nach der nach unten abgeknickten Blume, als plötzlich etwas passierte: Der Stiel der Pflanze schien sich zu strecken und ganz langsam verschwand der Knick. Fast gleichzeitig erholte sich die Blume von ihrem welken Zustand und die Knospe öffnete sich.
Mary und ich ließen gleichzeitig los und starrten uns erschrocken an. Dann sagte sie zögernd: "Ich wusste gar nicht, dass Blumen so schnell auf Wasser reagieren!"
"Das war nicht das Wasser, das waren wir." Ich wusste nicht woher diese Gewissheit herkam, aber plötzlich war sie da und Mary wirkte von ihrer Theorie auch nicht ganz überzeugt. "Wir erzählen niemandem davon. Sie würden uns alle für verrückt erklären.", sagte sie dann ganz leise und verschwand wieder nach draußen. Vorher hörte ich sie noch "Davon lasse ich mir nicht den Geburtstag vermiesen" murmeln.
Ich seufzte und folgte ihr nach draußen.
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