Geheimnisse und Gerüchte


Die Morgensonne stieg langsam über den Dächern Londons auf, doch die Gesellschaft erwachte an diesem Tag zu ganz anderen Neuigkeiten. Die letzte Ausgabe von Lady Whistledowns Notizen, der leserhungrige Höhepunkt jeder Woche, wurde mit etwas mehr Eifer als gewöhnlich aufgeschlagen. Man hatte schließlich von einem „neuen Skandal" gehört, einer „unerhörten Verbindung", die sich im Verborgenen zu entwickeln schien – und der Name Lucie Andrews war darin vermerkt.

„Miss Andrews, ein Name, der bislang in unberührter, unbescholtener Weise in die Reihen der höheren Gesellschaft aufgenommen wurde, scheint sich nun eine ganz andere Art der Aufmerksamkeit verschafft zu haben. Ein wohlbekannter Gentleman – ein gewisser Benedict B. – scheint ihrer allzu willigen Gesellschaft über die Maßen zu schätzen."

Diese Worte schienen in allen Salons und an jedem Frühstückstisch zu hallen. Lucie, die keine Ahnung von dieser bissigen Veröffentlichung hatte, war derweil mit der Unschuldigen Freude eines ruhigen Morgens beschäftigt und ahnte nichts von den Wogen, die sich nun über ihr Gesicht und ihren Namen breiteten.

Die ersten Blicke, die ihr beim Verlassen des Hauses begegneten, ließen jedoch erahnen, dass etwas nicht stimmte. Ihre gewöhnlich diskreten Bekannten flüsterten hinter vorgehaltenen Fächern, mit Blicken, die so scharf wie Dolche schienen. Selbst einige ihrer jüngeren Bekannten wichen heute vor ihr zurück, ihre Augen voller Neugier und, schlimmer noch, Missbilligung. Verwirrt setzte sie ihren Weg fort, doch es dauerte nicht lange, bis eine enge Bekannte der Familie ihr die Wahrheit enthüllte.

„Lucie, Liebes," begann die ältere Dame mit einer gewissen Besorgnis. „Lady Whistledown hat... Nun, es sind schlimme Dinge über dich geschrieben worden."

Das Blut wich aus Lucies Gesicht. Ihre ersten Gedanken wanderten zu Benedict und den wenigen sorglosen Momenten, die sie miteinander verbracht hatten. Hatte ihre Freundschaft – oder das, was sie sich einbildete, dass es sein könnte – tatsächlich so viel Unruhe gestiftet? Mit bebender Stimme und einem entschlossenen Schritt kehrte sie zum Haus zurück, entschlossen, Antworten zu finden und diese unangenehme Wahrheit zu konfrontieren.

Benedict erfuhr derweil von den Gerüchten über Lucie ebenfalls und war keineswegs erfreut. Seine aufrichtige Freundschaft zu Lucie, und die unbestimmten, zärtlichen Gefühle, die sich in ihm regten, waren nun Gegenstand von Klatsch und Intrigen, die nur durch Lady Whistledowns scharfe Feder weiter angeheizt wurden. Als er Lucie am Nachmittag traf, las er in ihrem Blick dieselbe Wut und Verletzlichkeit, die auch in ihm schwelte.

„Lucie, verzeiht mir, ich hätte dies alles verhindern müssen," begann Benedict sofort und wollte ihre Hand nehmen. Doch Lucie wich zurück, nicht aus Abneigung, sondern aus Angst, noch mehr Futter für die Gerüchteküche zu liefern.

„Es gibt nichts zu entschuldigen, Benedict. Wir sind Freunde, und ich kann mir nicht vorstellen, dass daran etwas falsch sein sollte," sagte Lucie mit fester Stimme, obwohl sie sich innerlich zerrissen fühlte. „Doch die Worte von Lady Whistledown... sie haben die Macht, mir hier alles zu zerstören."

In diesem Moment fasste Benedict einen Entschluss. „Wenn diese widerwärtigen Gerüchte durch Öffentlichkeit entstanden sind, dann werden wir sie auch öffentlich widerlegen." Lucie starrte ihn verblüfft an. Benedict erklärte, was ihm vorschwebte: ein gemeinsamer Besuch eines großen gesellschaftlichen Empfangs, auf dem sie sich Seite an Seite zeigten und ihrer Freundschaft, und vielleicht auch mehr, den Anschein von Seriosität verliehen. In Lucies Augen glommen Widerspruch und Besorgnis, doch Benedicts Stimme hatte etwas Beruhigendes.

„Vertraut mir, Lucie. Wenn wir gemeinsam auftreten, wird es zeigen, dass ich an eurer Seite stehe. Die Gesellschaft liebt einen Skandal, doch noch mehr liebt sie eine aufrichtige Absicht." Lucie wusste, dass dies ihr Ansehen stärken würde, doch auch ihr Herz begann zu klopfen, in dem Wissen, dass dieser Schritt etwas verändern könnte – vielleicht alles.

An diesem Abend, unter den Lichtern und inmitten der schillernden Menge, erschien Lucie an Benedicts Seite und wurde mit einem Lächeln, das sowohl Stärke als auch Nervosität verriet, begrüßt. Die Blicke der Anwesenden verfolgten jede ihrer Bewegungen. Manche zeigten unverhohlene Neugier, andere Mitleid oder gar Skepsis, und dennoch wagte sich niemand offen über sie zu äußern.

Als die Musik zu spielen begann, zog Benedict Lucie sanft auf die Tanzfläche, und ihre Herzen schlugen wie eins. Der Tanz war ruhig, aber die Bedeutung dahinter schwerwiegend. Jeder Schritt, jede Drehung, schien eine stille Botschaft an die Menge zu senden: dass sie einander kannten, sich vertrauten, und dass Gerüchte nichts an dem Band ändern würden, das sich langsam zwischen ihnen bildete.

„Seid Ihr besorgt?" fragte Benedict sanft, als er ihr in die Augen sah. Lucie nickte leicht, unsicher, was genau diese Berührung ihrer Hände und die Intensität in seinen Augen für sie bedeuteten.

„Ich bin es, und doch... fühle ich mich sicher," flüsterte sie, ihre Augen fest auf ihn gerichtet. Die ganze Gesellschaft verblasste in diesem Moment, und es war nur noch er, nur Benedict, der sie hielt und ihr die Sicherheit gab, die sie suchte.

Als der Tanz endete und die beiden wieder auseinander traten, bemerkte Lucie das wohlwollende Lächeln, das Lady Violet Bridgerton ihr zuwarf. Auch Francesca, die ihrer Freundin mit stillem Stolz und warmer Sympathie zusah, schien die Botschaft zu verstehen, dass diese Verbindung von Herzen kam. Die Menge schien in diesem Moment stillzustehen, und die Spekulationen begannen sich aufzulösen.

Nach dem Ball brachte Benedict Lucie nach Hause. Der Abendnebel legte sich leise über die Straßen, und die Geräusche der Gesellschaft verblassten hinter ihnen. Sie gingen Seite an Seite, wortlos, bis Benedict an der Haustür stehen blieb und ihre Hand nahm.

„Ich wollte Euch zeigen, dass Ihr nicht allein seid, Lucie." Seine Stimme war sanft und entschlossen. „Aber auch, dass es für mich mehr ist als nur Freundschaft. Was die anderen denken, spielt keine Rolle, wenn wir wissen, dass es wahr ist."

Lucie sah ihn an, sprachlos. Ihre Wangen röteten sich, und für einen Moment schloss sie die Augen, um ihre Gefühle zu ordnen. Sie wusste, dass er die Wahrheit sprach, dass sein Mut und seine Bereitschaft, an ihrer Seite zu stehen, etwas in ihr geweckt hatten, das sie nun nicht mehr verbergen konnte.

„Benedict, ich..." Sie brach ab, aber ihre Augen sagten, was ihre Lippen nicht zu formen wagten. Benedict legte sanft seine Hand an ihre Wange, sein Blick voller Verstehen.

„Lasst uns nichts übereilen, Lucie. Es genügt, wenn wir wissen, was wir füreinander empfinden." Sein Lächeln war beruhigend, und doch brannte in ihm die Sehnsucht, die sie beide noch nicht ganz zu benennen wagten.

An diesem Abend trennten sie sich, doch das Band, das sie verband, war nun unumstößlich, und sie beide wussten, dass diese Verbindung weder durch Gerüchte noch durch gesellschaftliche Erwartungen gebrochen werden konnte.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top