Ein Verhängnisvoller Spaziergang
Der Morgen war kühl und frisch, und der Park lag still unter einem wolkenverhangenen Himmel, der nur ab und zu Licht durch die Wolken ließ. Lucie schlenderte gemächlich die Kieswege entlang, den Blick über die sprießenden Blumen und die hohen Bäume gleiten lassend. Ein Spaziergang allein – ohne das Getuschel und die prüfenden Blicke der Gesellschaft – war eine seltene Ruhepause. Sie atmete tief ein, genoss die kühle Luft und die Freiheit, ihre Gedanken schweifen zu lassen.
Plötzlich hörte sie Schritte, und bevor sie sich ganz umdrehen konnte, sah sie Benedict Bridgerton, der langsam auf sie zukam, die Hände lässig hinter dem Rücken verschränkt. Er schien ebenso überrascht zu sein wie sie, als er Lucie entdeckte. Ein Lächeln spielte um seine Lippen.
„Miss Andrews", grüßte er und verneigte sich leicht. „Eine angenehme Überraschung, Euch hier anzutreffen."
„Mr. Bridgerton", erwiderte Lucie, unsicher, ob sie sich freuen oder zurückziehen sollte. Doch Benedicts freundliches Lächeln beruhigte sie.
„Allein hier im Park?" fragte er. „Ihr seid wahrlich eine Dame von Abenteuergeist."
Lucie lachte leise. „Manchmal braucht man diese Fluchten, wenn die Stadt zu laut und die Salons zu voll werden." Sie war überrascht, wie einfach es war, dies auszusprechen. Normalerweise hielt sie solche Empfindungen für sich.
Benedict nickte verstehend. „Ganz meine Meinung. Es wird manchmal schwer, seine eigene Stimme zu hören, wenn man ständig inmitten des Geschwätzes und der Erwartungen anderer lebt."
Gemeinsam setzten sie ihren Weg fort, ihre Schritte harmonisch nebeneinander, während sich zwischen ihnen eine angenehme Stille ausbreitete. Es war, als hätten beide einen unausgesprochenen Pakt geschlossen, die Masken und Formalitäten für diesen Spaziergang fallen zu lassen.
Nach einigen Minuten des Schweigens begann Lucie zu sprechen. „Ihr habt das Glück, in einer so bekannten Familie zu leben. Und doch – es scheint, dass Euch dieses Leben manchmal schwerfällt."
Benedict schnaubte amüsiert. „Es ist nicht immer so glamourös, wie es von außen wirkt. Sicherlich, ich liebe meine Familie, aber manchmal wünschte ich mir, die Freiheit zu haben, Dinge zu tun, ohne dass die Gesellschaft immer so genau hinsieht. Ich bewundere es, wie unbefangen Ihr Euch bewegt, Miss Andrews. Als hättet Ihr keine Angst davor, das zu tun, was Euch Freude bereitet."
Lucie senkte den Blick, fühlte sich ein wenig ertappt. „Unbefangen... ist das das richtige Wort? Eher bin ich einfach... fremd hier." Sie zögerte, bevor sie weitersprach, doch Benedicts Ausdruck war aufmerksam, er hörte wirklich zu. „In Amerika war das Leben anders. Weniger starre Regeln. Hier habe ich das Gefühl, jeder erwartet etwas Bestimmtes von mir, und ich weiß oft nicht einmal, was das ist."
Benedict lächelte aufmunternd. „Vielleicht muss man die Erwartungen einfach ignorieren. Oder sie zumindest herausfordern."
Lucie musste schmunzeln. „Das sagt sich leicht, Mr. Bridgerton, aber die Konsequenzen tragen oft wir Frauen. Ein unbedachtes Wort, ein unpassender Blick, und schon hat man den Ruf einer... Herausforderung für die gute Gesellschaft."
Sie gingen schweigend weiter, und Lucie dachte nach. Sie konnte sich kaum vorstellen, wie es sein musste, in einer Familie wie der seinen zu leben, ständig unter den neugierigen Augen der Londoner Gesellschaft. Doch Benedict wirkte stets ausgeglichen, mit einem versteckten Humor und einer ruhigen Zuversicht, die Lucie beruhigte.
Plötzlich verdunkelte sich der Himmel, und ein erster Tropfen landete auf Lucies Hand. Sie sah nach oben, und bevor sie sich versah, prasselte der Regen in dicken Tropfen herab. Sie stießen beide einen überraschten Laut aus und liefen rasch zum nächstgelegenen Unterstand, einer alten Gartenlaube, halb verborgen zwischen hohen, dicht belaubten Büschen.
Keuchend vor Lachen erreichten sie das schützende Dach, die Schultern schüttelnd, während Regentropfen von ihren Kleidern abperlen. Lucie rückte ihren Schal zurecht und warf Benedict einen amüsierten Blick zu, der noch immer grinste.
„So ein Schauer!", lachte sie. „Als hätten die Wolken nur darauf gewartet, uns auf halbem Weg zu überraschen."
„Ein wenig Abenteuer bringt Farbe in den Tag", sagte Benedict, seine Augen blitzten vergnügt. „Auch wenn ich fürchte, dass ich auf diesen Anzug wohl verzichten muss, wenn er je wieder trocken werden soll."
Lucie unterdrückte ein Lachen und sah sich in der Gartenlaube um. Der Regen trommelte sanft auf das Dach, und sie waren von der restlichen Welt abgeschirmt. Das Gefühl der Nähe, des Augenblicks, der nur ihnen beiden gehörte, brachte Lucies Herz zum Klopfen.
„Mr. Bridgerton", begann sie leise und wurde plötzlich wieder unsicher. „Was habt Ihr vorhin gemeint – als Ihr von der Freiheit gesprochen habt?"
Benedict sah sie lange an, sein Ausdruck ernst und doch voller Wärme. „Ich meine, dass ich oft das Gefühl habe, Dinge tun zu müssen, die erwartet werden – obwohl mein Herz mir manchmal andere Wege zeigt. Aber Ihr, Lucie..." Er zögerte, als wäge er seine Worte ab. „Ich habe in Euch jemanden gefunden, der diesen Mut besitzt, die Freiheit zu wählen, auch wenn es gegen die Erwartungen geht. Das inspiriert mich."
Lucie fühlte ihre Wangen warm werden und sah ihm in die Augen. Die Tiefe seines Blickes, das ehrliche Interesse, das dort aufblitzte – es war, als könnte er in ihre Seele sehen.
„Benedict", flüsterte sie, ohne den Blick von ihm abzuwenden, „ich wusste nicht, dass ich Euch inspiriere."
Er nahm ihre Hand, hielt sie sanft, ohne sie loszulassen. Die Kühle seiner Hand und die warme Berührung ließen ein prickelndes Gefühl durch ihren Arm schießen. In diesem Moment schien der Regen aufzuhören, und die Zeit stand still.
„Es gibt so viel, was ich noch von Euch lernen möchte", sagte er leise. „Wie ihr die Welt seht, die Freude, die Freiheit. Ich..." Er hielt inne und lächelte dann verlegen. „Ich weiß nicht, wie ich das sagen soll, ohne unverschämt zu erscheinen."
Lucie sah ihn mit einem warmen Lächeln an. „Versucht es doch einfach, Mr. Bridgerton."
Er schloss kurz die Augen, sammelte sich und sagte dann: „Ich glaube, ich habe noch nie jemanden wie Euch getroffen, Lucie."
Ihr Herz setzte einen Schlag aus, und sie spürte, wie sich ihre Finger leicht in seiner Hand verkrampften. Sie wusste nicht, was sie erwidern sollte, und fühlte doch, dass es nichts mehr zu sagen gab. Alles, was sie beide empfanden, schien in diesem Moment, in dieser stillen Berührung und den unausgesprochenen Worten zu liegen.
Der Regen ließ nach, und ein Sonnenstrahl brach durch die Wolken, tauchte die Laube in ein weiches Licht. Lucie und Benedict standen noch einen Moment so, bevor sie schließlich ihre Hand zurückzog.
„Wir sollten wohl zurückgehen", sagte sie sanft und lächelte.
Benedict nickte, doch in seinen Augen lag ein Leuchten, das Lucie noch lange im Gedächtnis bleiben würde.
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