Die Entscheidung des Herzens
Der Ballsaal war erfüllt vom Glanz der Kerzen, dem Rascheln der feinen Kleider und dem Klang der Streicher, die eine zarte Melodie spielten. Lucie ließ ihren Blick über den Raum schweifen, während ihre Mutter neben ihr stand und voller Stolz die Gäste beobachtete. „Es ist ein besonderer Abend, Lucie," flüsterte sie mit einem vielsagenden Lächeln. „Lord Harrington hat explizit dich eingeladen, und ich habe gehört, dass er eine außerordentlich gute Partie sein soll."
Lucie nickte mechanisch, ihre Gedanken waren jedoch längst woanders. Der Gedanke an Lord Harrington, der an diesem Abend wohl auf sie aufmerksam geworden war, verursachte in ihr keinen Funken von Aufregung. Ihre Gedanken drehten sich stattdessen unaufhaltsam um Benedict. Trotz ihrer Begegnung auf dem Balkon und der Worte, die sie miteinander geteilt hatten, war ihr Herz von Unsicherheit und Zweifeln erfüllt.
Sie wusste, dass Benedict heute Abend ebenfalls eingeladen war, und konnte kaum verbergen, wie ihre Augen immer wieder suchend in der Menge nach ihm Ausschau hielten. Doch es war Lord Harrington, der sich schließlich als Erster zu ihr gesellte und sie höflich um einen Tanz bat.
„Es wäre mir eine Ehre, Miss Andrews," sagte er mit einem charmanten Lächeln, das jedoch für Lucie wenig Wirkung hatte. Höflich nahm sie seine Hand und ließ sich in die Mitte des Saals führen, wo die anderen Paare sich ebenfalls zum Tanz aufgestellt hatten.
Als der Tanz begann, drehte sich Lucie in der eleganten Abfolge der Schritte, doch ihre Gedanken schweiften ab. Es fühlte sich an, als ob ihre Seele auf etwas wartete – oder auf jemanden. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, und sie war sich nicht sicher, ob es die Nähe zu Lord Harrington oder das stetig wachsende Bewusstsein war, dass Benedict im Raum war und sie womöglich beobachtete.
Und tatsächlich: Als sich der Tanz dem Ende neigte und Lucie sich bei Lord Harrington bedankte, spürte sie eine unbändige Präsenz hinter sich. Sie drehte sich um und fand Benedicts stürmischen Blick auf sich gerichtet. Seine Kiefer waren angespannt, seine Augen verrieten eine Mischung aus Zorn und etwas anderem – etwas Tieferem, das sie beunruhigte und zugleich anzog.
„Miss Andrews," begann er förmlich, doch seine Stimme klang rauer als sonst. „Dürfte ich Euch um einen Tanz bitten?"
Überrascht von seinem plötzlichen Auftreten und dem brennenden Ausdruck in seinen Augen, nickte Lucie nur stumm und ließ sich von ihm zum Tanz führen. Die Musik begann, und Benedict zog sie dicht an sich, viel näher als es für die Gesellschaft angemessen gewesen wäre. Sein Griff war fest, seine Augen unverwandt auf sie gerichtet, als wollte er sie allein durch seinen Blick dazu bringen, ihre Gefühle zu offenbaren.
„Ihr genießt also die Aufmerksamkeit von Lord Harrington," stellte er leise fest, doch Lucie konnte den scharfen Unterton in seinen Worten nicht überhören.
„Benedict, das ist unfair," entgegnete sie ruhig, aber ihr Herz raste. „Ich kann nicht jeden ablehnen, der mir freundlich begegnet."
Er seufzte und seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. „Vielleicht nicht, aber ich ertrage es kaum, Euch an der Seite eines anderen zu sehen, Lucie. Es ist, als ob mir jedes Mal der Boden unter den Füßen weggezogen wird, wenn ich sehe, dass Ihr jemand anderem ein Lächeln schenkt."
Lucie sah ihn mit einer Mischung aus Verwirrung und Verzweiflung an. „Benedict... ich..." Sie wusste nicht, wie sie die richtigen Worte finden sollte, um ihre eigene Unsicherheit auszudrücken. „Ihr müsst verstehen, dass meine Situation nicht so einfach ist wie Eure. Ich habe keine Wahl, was den gesellschaftlichen Druck betrifft. Meine Mutter erwartet, dass ich eine gute Partie finde. Und Ihr seid..." Sie stockte, unfähig, ihre Gedanken klar zu formulieren.
„...aus einem Stand, der angeblich nicht zu Euch passt?" beendete Benedict ihre unausgesprochenen Worte, und ein trauriges Lächeln umspielte seine Lippen. „Lucie, denkt Ihr wirklich, dass ich bereit bin, auf Euch zu verzichten, nur weil die Gesellschaft es so verlangt?"
Sein Blick ruhte unverwandt auf ihr, und sie spürte die Wärme seiner Hände, die sie sanft und doch entschlossen hielten. „Ich habe genug davon, mich hinter den Erwartungen der Gesellschaft zu verstecken," fuhr er fort, seine Stimme sanft und doch entschlossen. „Ich weiß, was ich fühle, und was ich fühle, ist echt. Ich bin nicht bereit, Euch kampflos an jemanden wie Lord Harrington zu verlieren."
Lucie wusste nicht, was sie sagen sollte. In ihrem Inneren tobte ein Sturm aus widersprüchlichen Gefühlen – die Sehnsucht nach ihm, die Angst vor den Konsequenzen und die Unsicherheit darüber, ob sie wirklich das Richtige tat. Doch Benedicts Worte ließen etwas in ihr aufkeimen, eine Hoffnung, die sie bis dahin nicht zugelassen hatte.
„Aber Benedict," flüsterte sie, ihre Stimme kaum hörbar. „Was ist, wenn wir scheitern? Wenn unsere Verbindung die Erwartungen nicht erfüllt und ich nicht in Eurer Welt bestehen kann?"
Er sah sie mit einer Intensität an, die ihr den Atem raubte. „Dann werden wir eben gemeinsam scheitern, Lucie. Aber ich will es zumindest versuchen. Ich möchte nicht zurückblicken und bedauern, dass ich zu feige war, das zu tun, was mein Herz mir sagte. Und ich glaube, tief in Euch fühlt Ihr das Gleiche."
Sie spürte, wie seine Worte ihren Schutzwall durchdrangen. Die Vorstellung, an seiner Seite zu sein, auch wenn es bedeutete, den gesellschaftlichen Erwartungen zu trotzen, erfüllte sie mit einer unerwarteten Stärke. Vielleicht hatte sie bisher nicht nur Angst vor der Gesellschaft, sondern auch davor, sich ihren eigenen Gefühlen zu stellen – und diesen Gefühlen eine Chance zu geben.
Benedict hielt inne und sah ihr tief in die Augen. „Lucie, gebt mir nur ein Zeichen, dass Ihr das ebenfalls wollt. Lasst mich wissen, dass ich Euch nicht allein in diesen Sturm führe."
Sie spürte, wie ihr Herz wild schlug, als sie seine Hand umfasste und ihn ansah, mit einem Ausdruck, der alle Zweifel und Unsicherheiten beiseite schob. „Benedict, ich... ich weiß nicht, was die Zukunft bringt, aber ich weiß, dass ich es mit Euch herausfinden möchte."
Ein erleichtertes, beinahe triumphierendes Lächeln erschien auf seinem Gesicht, und er zog sie sanft näher zu sich, die Welt um sie herum vergessend. Die Musik, die tanzenden Paare und das Getuschel der Gäste wurden zu einem fernen Murmeln, während sie einander in die Augen sahen.
In diesem Moment wusste Lucie, dass sie eine Entscheidung getroffen hatte – eine Entscheidung, die ihr Leben und das Leben des Mannes, der vor ihr stand, für immer verändern würde.
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