Der Park


Wie ein scheues Reh, das sich den spitzen Blicken hungriger Wölfe entziehen möchte, sitzt Lucie Andrews anmutig unter einem blühenden Kirschbaum. Ihren zarten Fächer mit Federn hält sie schützend vor das Gesicht, nur um ihn gelegentlich so weit zu senken, dass gerade einmal ihre Nasenspitze sichtbar wird. Doch kaum kommt jemand vorbei, hebt sie ihn sofort wieder in perfekter Zurückhaltung. So hatte sie sich ihre Rückkehr nach London wirklich nicht vorgestellt. Ein ruhiger, unscheinbarer Auftakt – nichts wünscht sie sich sehnlicher. Aber wie könnte man so etwas erreichen, wenn Lady Whistledown bereits das Gerücht ihrer Ankunft verbreitet und sie wie ein Ausstellungsstück angepriesen hat?

Zudem sind die Sitten hier in England so anders, ja so streng im Vergleich zu denen in Amerika. Alles erscheint ihr kalkulierter, einstudierter, vor allem, wenn es um die Freiheiten einer jungen Frau geht. Solcherlei Einschränkungen hatte sie bisher kaum gekannt, doch hier fallen sie ihr auf wie schwere Fesseln. Für den Moment jedoch scheint sie von den kritischen Blicken unbehelligt. Sie lässt den Fächer sinken, schüttelt ihr Handgelenk, das schon etwas verkrampft ist, und nimmt sich eine kleine Verschnaufpause. Tadellos aufrecht sitzt sie da und lässt ihren Blick über die fröhlich plaudernde Menge im farbenfrohen Park schweifen. Es könnte fast ein Fest sein, mit kleinen Blumenarrangements und Gebäckstücken, die wie feine Schmuckstücke drapiert sind – auch wenn sie aus der Ferne nicht erkennen kann, was genau angeboten wird.

Doch allzu lange bleibt Lucie nicht still. Es würde schließlich nicht zu ihrer normalerweise aufgeschlossenen Art passen, den Nachmittag in solch anstrengender Einsamkeit zu verbringen. Sie strafft die Schultern, glättet die Falten ihres weißen Musselin-Kleides mit dem feinen blauen Seidenband und richtet ihre Haare. Just in diesem Moment tritt eine junge Dame mit sanftem, lieblichem Lächeln an ihre Seite. Die Haarfarbe der Fremden, irgendwo zwischen hellem Braun und einem Hauch von Rot, schmeichelt ihrem feinen Gesicht. Lucie lächelt freundlich zurück, und für einen kurzen Moment stehen die beiden jungen Damen einfach schweigend nebeneinander und lassen die Ruhe für sich sprechen.

„Verzeiht, darf ich fragen, wer Ihr seid?" bricht die Fremde schließlich das Schweigen. Eine eher untypische Frage, bedenkt man, dass Vorstellungen in der Regel durch eine dritte Person erfolgen. Doch Notlagen erfordern schließlich eine gewisse Flexibilität.

„Francesca Bridgerton – Ihr seid Lucie Andrews, nicht wahr?" Lucie nickt zögernd. Natürlich, sie hatte ganz vergessen, dass Lady Whistledown ihr Gesicht bereits all den neugierigen Augen Londons präsentiert hatte, und dass sie, abgesehen von ihrer Mutter und dem Hauspersonal, kaum jemanden kennt.

„In der Tat, Miss Bridgerton. Die Freude ist ganz auf meiner Seite," antwortet Lucie mit einem anerkennenden Nicken. Francesca scheint eine ausgeglichene, ruhige Person zu sein, bedacht in all ihren Gesten. Gespräche jedoch scheinen nicht zu ihren bevorzugten Tätigkeiten zu gehören, denn erneut tritt Schweigen ein. Lucie überlegt, eine Frage zu stellen – etwas Belangloses, wie etwa nach ihrer Lieblingsblume –, doch es bleibt ihr erspart. Plötzlich taucht eine Frau mittleren Alters auf, die mit lebhaftem Lächeln auf sie beiden zukommt. Vielleicht eine Verwandte?

„Francesca liebes, wir suchen dich schon seid zehn Minuten." Da bleibt die Frau stehen und schaut auf Lucie.

„ Darf ich vorstellen meine Mutter. Mama, Lucie Andrews." Francesca lächelt und Lucie macht einen Knicks.

„ Wie schön sie kennen zu lernen, ihre Mutter wurde mir bereits vorgestellt. Eine bezaubernde Frau." Violet lächelt und scheint ihre Aufregung komplett vergessen zu haben.

So verweilt sie nicht länger bei den jungen Damen und unmerklich scheint auch in jenen stillen Minuten eine Freundschaft zwischen den eigentlich so fremden Frauen anzubahnen.

ofzlena

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