Mobbing

Ich habe eine schwierige Haltung zu Mobbing. Natürlich kann ich keine Form von Mobbing auch nur ansatzweise gutheissen, auf der anderen Seite werde ich NICHT irgendwelche Tipps gegen Mobbing geben - und zwar nie!

Bei mir fing es in der zweiten Klasse an. Ich hatte sehr kleine Ohren und fing unglaublich schnell an zu weinen. Ich hatte in der Schule bloss eine Freundin, meine "beste" Freundin, ich nenne sie hier Ana. Ana und ich waren unzertrennlich, doch sie tat mir nicht gut. Meine Eltern mussten machtlos mitansehen, wie sich mich ständig runterzog und mir viele Türen verschloss. Denn Ana (und das begriff ich erst viel später) war eifersüchtig auf mich. Ich war besser in der Schule, ich konnte besser singen und ich war (zumindest in ihren Augen) hübscher als sie. Wenn wir also SingStar spielten, übte sie wochenlang ein Lied, das ich nicht kannte und war jedes Mal wütend, wenn ich trotzdem gewann. Oft schminkte sie mich übertrieben mit ihrer ganzen Spielschminke und führte mich dann ihrem Vater vor, der jedesmal sagte, dass es ihm überhaupt nicht gefalle.

Als wir endlich Handys besassen, fotografierte sie heimlich meine Poritze, lachte mich aus, dass meine Brüste an den Nippeln zu wachsen begannen (ich habe kleine Brüste, aber ihre sind gar nie gesprossen) und erklärte mir, dass die Jungs meine Lippen nicht mögen würden, da sie zu dick seien. Ich begann erst, an ihren Worten zu zweifeln, als sie mich magersüchtig nannte - denn ich war vielleicht dünn und schnell hochgeschossen (wie sie übrigens auch), aber nicht krank, und ich wusste, dass Magersucht eine Krankheit ist. Von einem Tag auf den anderen wechselte sie ihre Strategie und nannte mich fett - doch ich begriff noch immer nicht.
Es war mir so peinlich, dass ich die Erste aus unserer Klasse war, die ihre Tage bekam, mit elf. Natürlich erzählte ich es Ana, wollte es ansonsten aber geheim halten. Doch Ana glaubte mir nicht, ich musste sie mit in die Toilettenkabine unserer Schule lassen und es ihr zeigen. Dann wandte sie sich angewidert ab und sagte, dass ich nach Fisch stinke. Natürlich erzählte sie es allen in der Klasse.

Meine Mutter versuchte mich stets, vor Ana zu warnen, doch ich war blind. Auf ihr Anraten jedoch machte ich eines Tages mit einem anderen Mädchen aus meiner Klasse nach der Schule ab. Ana sagte mir dann, sie käme um 14:00 Uhr vorbei, doch ich antwortete ihr, ich könne nicht, da ich schon mit jemand anderem abgemacht hätte. Sie wurde wütend und versicherte mir, ich hätte bereits mit ihr abgemacht (weil wir sonst jeden Tag abmachten). Letztendlich rief mich das andere Mädchen an und sagte, sie könne heute doch nicht. Ich fragte sie, weshalb, aber sie wollte es mir nicht sagen. Enttäuscht rief ich Ana an, ich hatte nun ja trotzdem Zeit - sie hingegen nicht mehr da sie, dreimal darfst du raten, mit dem Mädchen aus unserer Klasse abgemacht hat.

In der siebten Klasse würden die Klassen neu durchmischt, die Chance, dass ich mit Ana in einer Klasse sein würde standen eins zu drei. Ein halbes Jahr vorher kündete sie mir die Freundschaft - einfach so. Und ich stand da mit nichts und niemandem. Meine Mutter trug mich durch die Monate und gab mir immer wieder Kraft für diesen Neuanfang. Ich freute mich sehr auf die siebte Klasse. Ana würde zwar immer noch in meiner Klasse sein, doch sie war nicht die einzige, die mich mobbte. Wir waren nur sechs aus meiner alten Klasse, und die anderen hielten sich meist im Hintergrund, daher war ich guten Mutes. Ich fand eine neue beste Freundin, die es dann auch blieb, bis ich aufs Gymnasium wechselte und ein echter Goldschatz war. Ana jedoch erzählte alles Mögliche über mich und das Mobbing ging schon in den ersten Schulwochen weiter. Ich fuhr jeden Tag sechs Kilometer mit dem Fahrrad allein zur Schule. Meine Mutter war absolut dagegen, aber mit wem hätte ich zusammen fahren sollen? Deshalb durfte ich auch nicht durch den Wald fahren, sondern musste den offiziellen Schulweg nehmen. Oft sperrten die anderen Kinder die Strasse mit ihren Fahrrädern und liessen mich eine halbe Stunde lang nicht durch. Sie warfen mein Fahrrad um und schlugen mich, nicht selten rannte ich aufs Feld hinaus. Meine Eltern waren sprach- und machtlos und oft fuhr ich trotzdem durch den Wald.

Bevor ich aufs Gymnasium wechselte, meldete mich mein Lehrer bei der Jugendfachstelle an. Eine junge Frau, die dort arbeitete, traf sich einige Male mit mir nach der Schule, beobachtete mich, liess mich erzählen und gab mir einige Tipps. Ich war sehr aufgeregt auf meinen ersten Schultag am Gymnasium. Zwei Mädchen in meiner neuen Klasse kannte ich bereits aus der alten Schule. Ich hatte nicht viel mit ihnen zu tun gehabt, sie wussten, dass ich gemobbt wurde, waren zu mir aber immer nett gewesen. Ich fand eine neue beste Freundin im Gymnasium und sie ist es bis heute geblieben. Ich wurde nicht mehr gemobbt. Aber abgesehen von meiner besten Freundin hatte ich auch niemanden, mit dem ich mich wirklich gut verstand. Selbst wenn alle nett waren: sie hatten ihre Grüppchen, assen, lachten und arbeiteten mit ihren Leuten, ich fiel oft dazwischen.

In einem Klassenlager lud unser Lehrer einen Typen ein, der mit uns Essen aus dem Wald kochen wollte und uns seine Lebensphilosophie erzählte. Er machte gerne Witze auf Kosten anderer und natürlich war auch ich einmal an der Reihe. Zuerst ignorierte ich ihn, denn ich wusste, er meinte es nicht böse, es war nur ein Witz. Aber ich fand es nicht lustig. Er stachelte mich weiter an und ich warf ihm einen strafenden Blick zu. Er hörte noch immer nicht auf, ich brach in Tränen aus, warf einen Stuhl um und rannte in unseren Schlafsaal. Im Nachhinein hätte ich über das Gesicht dieses Typen so lachen müssen, doch an diesem Tag merkte ich, wie tief das Trauma sass und dass mit "ich werde nicht mehr gemobbt" nicht automatisch alles gut ist. Einige Klassenkameraden rannten mir nach, trösteten mich und versicherten mir, dass der Typ es ja nicht böse gemeint hat. Er selber entschuldigte sich auch noch, er habe ja nicht wissen können, dass ich so sensibel bin.

Meine beste Freundin schaffte das Jahr nicht und musste wiederholen. Das war für mich schlimm, denn jetzt hatte ich wieder niemanden in meiner Klasse, der mich wirklich verstand und dem ich mich anvertrauen konnte. Oft ass ich Mittags allein in einem ungemütlich eingerichteten Kellergewölbe mit Tischen für die Leute, die keinen Platz mehr in der Mensa fanden. Ich scheute mich vor Gruppenarbeiten und es ging mir wirklich nicht gut. Ich hatte viel Zeit zu hinterfragen. Und so kam bei mir auch der Gedanke auf, was wäre, wenn ich nicht mehr da wäre. Durch diese Zeit trug mich an erster Stelle meine Musik, an zweiter Stelle mein Umfeld. Ich achtete sehr auf die Texte der Musik, die ich hörte, hörte viel ermunternde Musik und solche, die über das wahre Leben erzählte und tiefgründige Gedanken thematisierte. Mein absolutes Lieblingslied zu dieser Zeit war Would It Matter von Skillet. Es zeigte mir, dass es in Ordnung war, so zu denken, wie ich es tat und dennoch nicht das Ende bedeutete.

Es vergingen noch einige Monate, bis ich den Draht zu meiner Klasse fand. Es geschah in einer Projektwoche. Ganz frisch haben wir einen neuen Schüler erhalten, der sehr verpeilt war und mich aus irgendeinem Grund besonders mochte. Ich wollte ihm nicht zeigen, wie einsam ich war und stellte mich mittags an einen Tisch unserer Klasse und fragte, ob der Platz noch frei sei. Natürlich, sagten sie ja, und dass ich doch immer mit ihnen essen soll. In dieser Projektwoche schrieb ich eine lange Geschichte, die ich Ende der Woche (in einer gekürzten Version) vorlesen durfte. Viele meiner Klassenkameraden entdeckten an diesem Tag mein Talent zum Schreiben und holten in der Folge wiederholt Ratschläge ein. Auf einmal schloss ich neue Freundschaften und mochte Gruppenarbeiten.

Ausgerechnet in Deutsch ging unsere Lehrerin Ende Jahr in Rente und der neue Lehrer mochte mich nicht. Er kritisierte jedes Wort, das ich schrieb und egal wie viel Mühe ich mir gab, seine Vorstellungen umzusetzen, meine Noten lagen tiefer als in Fächern, die mir gar nicht lagen. An einem Tag war ich sooo sauer auf ihn. Nach der Mittagspause (Deutsch hatten wir am Vormittag) betrat ich als Erste das Klassenzimmer, warf meine Tasche in eine Ecke und setzte mich auf einen der Tische. Ein Junge aus meiner Klasse, mit dem ich mir sehr gut verstand, kam als nächstes herein und fing an, mich zu tadeln. Wie könne es mir einfallen, meine Tasche einfach in eine Ecke zu schmeissen! Das mache man nicht! Und auf den Tisch sitzen schon gar nicht! Erst recht nicht mit meinen kleinen Ohren (die er immer so süss fand) und wer hätte mir überhaupt erlaubt ein blaues T-Shirt zu tragen. Irgendeinmal merkte ich, dass er sich über unseren Deutschlehrer lustig zu machen begann. Und wisst ihr was? So wie er mit mir redete, verletzte es mich überhaupt nicht. Ich lachte und fiel in seine Spässe mit ein. Zwei Jahre zuvor wäre ich spätestens dann in Tränen ausgebrochen, als er meine kleinen Ohren erwähnte.

Weshalb ich mich davor hüte, irgendwelche Tipps gegen Mobbing zu geben? Ich glaube nicht, dass sie helfen. Es gibt kein "Wundermittel" dagegen. Ich hatte als Kind zum Beispiel keine Ohrlöcher und meine Mutter meinte, wenn sich Kinder über meine kleinen Ohren lustig machen, kann ich ja antworten: Ja, siehst du, sie sind so klein, dass nicht einmal Ohrringe reinpassen. Aber darüber haben sie sich schon lustig gemacht, noch bevor ich das hätte erwidern können.
Wenn Lehrer Brennpunkte in der Klassenstunde veranstalteten und versuchten, mir eine Stimme zu geben oder uns auf das Thema Mobbing zu sensibilisieren ging es bis zur Schultür, bevor es wieder losging und ich dann auch noch als Petze beschimpft wurde.
Etwas, das mein Selbstbewusstsein beschädigte anstatt es zu stärken: Jeder muss PostIt's mit netten Sachen schreiben und sie jemandem auf den Rücken kleben. Erstens: was soll ich meinen Mobbern Nettes schreiben? Zweitens: Diese erhielten zwanzig PostIt's, ich ungefähr vier und mindestens eines davon war von der Lehrperson. Die anderen: Du bist nett. Du kannst gut rechnen. Du bist hübsch. Warum sagst du es mir dann nicht ins Gesicht? Und by the way: ich bin eine Niete im Rechnen.

Was kann man dann also gegen Mobbing tun? Nichts. Wenn jemand dir helfen will, dann soll er es wie die Frau von der Jugendfachstelle tun: Nach der Schule in einem kleinen Zimmer, niemand muss es mitbekommen. Und dann: Hilfe zur Selbsthilfe. Da kann dich niemand rausholen. Wenn ich dir noch hundertmal sage, dass du hübsch bist - es tut dir gut, das zu hören, aber deine Mobber werden deshalb nicht aufhören, dich zu mobben. Ich lebe mittlerweile nach dem Motto: Wenn du die Situation nicht ändern kannst - fliehe. Das hat nichts mit Schwäche zu tun sondern mit Stärke. Wäre ich in der Klasse geblieben, hätte sich nichts geändert, Jugendfachstelle hin oder her. Ich brauchte einen Neuanfang und der wurde mir geschenkt.

Die einzigen Tipps gegen Mobbing, die ich also mit gutem Gewissen geben kann:
- Suche dir einen Rückzugsort mit Menschen, die dir Halt geben (z.B. Familie)
- Mache dir bewusst, wer du bist und was du gut kannst (z.B. alles Positive von dir in ein Notizbuch oder auf ein Plakat schreiben oder PostIt's an den Spiegel kleben oder so)
- Arbeite an deiner Haltung: stehe und sitze aufrecht, nimm deine Haare aus dem Gesicht (nicht dahinter verstecken), lächle, auch wenn dir nicht danach zumute ist. Mir hat die Frau von der Jugendfachstelle geraten, mich in Schaufenstern beim Laufen zu beobachten und an meinem Gang zu arbeiten und mir dabei zu sagen, dass ich hübsch bin - ich mache das bis heute.
- Rede darüber! Stillschweigend hinnehmen oder ignorieren sind NIE eine Lösung
- Wenn die Situation nicht oder nur schwer tragbar ist: Fliehe! Wechsle die Schule oder den Arbeitsort und zwar sofort!

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